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TRANSPARENTE WELT


Bild 6, 150 x 120 cm

JEAN GEBSER, SEINER ZEIT VORAUS

Wenn Ihnen der Name Jean Gebser (1905 – 1973) nichts sagt, geht es Ihnen wie mir, damals vor bald 50 Jahren, und zweifellos der grossen Mehrheit Ihrer Mitmenschen. Auch ich bin völlig zufällig auf Gebser aufmerksam geworden. Der deutsch-schweizerische Kulturphilosoph und Schriftsteller lebte und wirkte ab 1939 in Bern, wo er von 1947 bis 1953 an seinem Hauptwerk «Ursprung und Gegenwart» arbeitete. Zu seinem Freundeskreis gehörte u. a. der Historiker Jean Rudolf von Salis.

Gebser entwickelte das Strukturmodell seiner Bewusstseinsgeschichte des Menschen über viele hundert Seiten. Sorgfältig und ausführlich vertiefte er sich für sein «Konzept» des neuen, nächsten Zeitalters in die Vergangenheit, um darauf aufbauend seine spannende These der aperspektivischen Welt – seiner Zukunftsutopie – zu entwickeln. Der Duden definiert aperspektivisch, Gebsers Wortschöpfung, mit «ohne Begrenzung auf den gegenwärtigen Standpunkt des Betrachters». Mit geradezu visionärem Durchblick lässt er vor dem geistigen Auge der Leserschaft die Manifestationen des anbrechenden integralen (wie er es nennt) Weltverständnisses entstehen, aufbauend auf den durchlaufenen Strukturen, beginnend bei der archaischen.

«Ursprung und Gegenwart» gehört zu den ebenso eigenwilligen wie bedeutenden Versuchen, das 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der gesamten Menschheitsgeschichte zu sehen und zu deuten. Für Gebser ist die Veränderung des Verhältnisses zur Zeit, die sich mit der einsetzenden Renaissance vollzog, der entscheidende Angelpunkt für die Probleme und Leiden der Neuzeit. Dieses veränderte Zeitbewusstsein wird durch die Entdeckung der Perspektive ausgedrückt; sie löst das unperspektivische, mythische Zeitalter ab und leitet die Epoche der perspektivisch-fortschrittlichen Wissenschaft ein. «Dadurch verliert der mehr und mehr diesseitsbezogene Mensch an Weltvertrauen und begibt sich in die individuelle Isolation. Gebsers Werk ist ein geistesund kulturkritischer Dialog mit der Welt, in der wir leben mit ihren Traditionen, Erwartungen und Verstiegenheiten. Die Fülle der Ausblicke und Belege prägt ihm überdies den Stempel eines erstrangigen Kompendiums europäischen Denkens auf.»

Diese Einführung aus der Neuauflage 2015 spricht vom 20. Jahrhundert als Bezugsrahmen. Ich möchte das etwas weiträumiger definieren: Viele der gefundenen oder antizipierten Beschriebe sind auch stupende Voraussagen dessen, was sich im 21. Jahrhundert abspielt.

Gebser selbst schrieb 1973: «Das neue Bewusstsein des Menschen, für welches die junge Generation besonders hellhörig ist, und welches von der Veränderung des menschlichen Verhältnisses zur Zeit ausgeht, ist das Generalthema meiner Arbeit.» Diese «junge Generation» ist mittlerweile im Pensionsalter …

APERSPEKTIVISCH, VORLÄUFER DES PERSPEKTIVENWECHSELS

Wer Neues beschreibt, neue Tendenzen entwickelt oder bahnbrechende Innovationen kommentiert, muss dafür notgedrungen neue Wörter «erfinden» oder bestehende in einen neuen Zusammenhang stellen. Aperspektivisch ist ein solches. «In der perspektivischen Weltvorstellung wurde alles mit räumlichen Massen gemessen. Für den perspektivisch denkenden Menschen hat die Zeit keinen Qualitätscharakter.» Diese mentale Struktur (der Vergangenheit) hat die Zeit zu einer analytischen Massbeziehung pervertiert, sie materialisiert und das extrem dualistische Denken heraufbeschworen, das in der Welt nur zwei gegensätzliche und unversöhnliche Komponenten anerkannte, befand Gebser.

Und er ergänzte sogleich: «Wer der aperspektivischen Welt den Vorwurf macht – und dies wird ausgiebig geschehen –, dass sie unvorstellbar, unbegreiflich, unfasslich, unbeweisbar und nicht räumlichend zu Denkendes sei, der scheitert nur an der Begrenztheit der eigenen, an das Erfassen und das Sehen gefesselten Weltvorstellung.»

Die Bewusstwerdung der Zeitfreiheit ist eine weitere, wichtige Begriffsauslegung Gebsers. «Der Einbruch der Zeit in unser Bewusstsein, dieses Ereignis ist das grosse und einzigartige Thema unserer Weltstunde. Ein neuer Ton, eine neue Form, eine neue Sicht wird dann dort wahrnehmbar werden, wo wir heute nur Schrei und Dissonanz zu hören glauben. […] Unsere Aufgabe ist es, die Zeit aus ihrer rationalen Vergewaltigung zu befreien. Diese Problemstellung klingt einfach, die Aufgabe aber ist von kaum vorstellbarer Schwierigkeit. Es ist von grundlegender Wichtigkeit, genauestens zwischen irrational und arational zu unterscheiden.»

Während wir mit dem Begriff «irrational» (mit dem Verstand nicht fassbar, dem logischen Denken nicht zugänglich) als Gegensatz zu «rational» (vernünftig, aus der Vernunft stammend, von der Vernunft bestimmt) bestens vertraut sind, ist «arational» im Duden bis heute nicht erwähnt. Wer sich allerdings die Mühe nimmt, den Begriff zu googlen, erhält 11 700 000 Ereignisse. Somit benutzt Gebser dieses Wort, das im englisch-amerikanischen Alltag längst populär ist, um uns zu sagen: Nicht alles, was nicht rational ist, muss irrational sein. Mit arational ist gemeint: nicht kausal gerichtet, auch nicht polar entgegengesetzt, sondern akausal (ohne ursächlichen Zusammenhang), ganzheitlich wahrend.

Dieser aperspektivischen Welt (der Zukunft) ordnet Gebser also die integrale Struktur zu im Unterschied zur mentalen Struktur (der Vergangenheit). Nun ist integral natürlich keine neue Wortschöpfung. Doch im Zusammenhang seiner Weltsicht oder Philosophie ist der Begriff vergleichbar mit dem Modell einer holistischen Welterklärung, einer Ganzheitslehre also, basierend auf der Vorstellung, dass gesellschaftliche, wirtschaftliche, physikalische, politische, geistige Systeme etc. und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind.

Und schliesslich: diaphan, das Diaphane, Gebsers Methode des Durchsichtigmachens (in Ergänzung zum Messen), die Erscheinungsform des Geistigen. «Es handelt sich um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und vor ihr Verborgenen», um ein Durchsichtigmachen unseres Ursprungs, unserer ganzen menschlichen Vergangenheit und der Gegenwart, die auch die Zukunft schon enthält, präzisiert Gebser. Ich verwende dafür die Begriffe transparent oder Transparenz.

Nun ordnet Gebser schliesslich der aperspektivischen Zeit die Vierdimensionalität als Gegebenheit zu. In diesem Zusammenhang vielleicht überraschend, aber logisch. «Als Realität, als Weltkonstituante brach die Zeit eigentlich erst mit der Formulierung des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums durch Einstein, also zu Beginn unseres Jahrhunderts [20. Jahrhundert], in unser Bewusstsein ein.»

Ein weiteres hervorstechendes Merkmal der ausgehenden perspektivischen, mentalen Epoche ist für Gebser die Zeitangst. Zeit gewinnen, keine Zeit haben – unser Alltagsvokabular.

Zusammenfassend denkt Gebser, Raum haben wir zwar, aber keine Zeit, obwohl die Welt weiter wurde, wurde sie enger (nämlich scheuklappenmässig verengt). «Diese Situation brachte mit den Jahrhunderten, in denen sie sich allmählich herausbildete, jenes Stigma unserer Zeitepoche mit sich, das ausser den aufgezählten das verderblichste ist: die heute allgemein herrschende Intoleranz und der aus ihr resultierende Fanatismus.» Für das Bemühen um die Zeit, das Realisieren der qualitativen Werte dieser Auseinandersetzung hat Gebser das Wort Temporik kreiert.

DAS KLIMA DER NEUEN MUTATION

«Mutationen sind immer dann aufgetreten, wenn die herrschende Bewusstseinsstruktur zur Weltbewältigung nicht mehr ausreichte. So war es auch bei der letzten historisch überblickbaren Mutation, jener, die um 500 v. Chr. aus dem Mythischen ins Mentale führte.» An der Bruchstelle zu einer erneuten Mutation in unserer Gegenwart, so Gebser, werden die Merkmale der defizienten, zu überwindenden respektive integrierenden «Fehlentwicklungen» der mentalen Struktur sichtbar.

«Das Verhaftetsein an den Nationalismus. Das nationalistische Denken ist ein Prototyp des dreidimensionalen Denkens. Der Mensch als Kind einer Nation fasst nämlich Art und Wesen der eigenen Nation als ideale Konstante auf; das aber ist statisches Konzept und damit eine dreidimensionale, perspektivische, fixierte Vorstellung.» Dies ist eine der brandaktuellen Formulierungen, die auch 60 Jahre nach Niederschrift ihre Brisanz nicht verloren haben.

Bei jeder Mutation (nach archaischer, magischer, mythischer, mentaler und integraler Struktur unterschieden) hatte sich der Mensch nach Gebser neuen Aufgaben zuzuwenden. «Er hatte dies zu tun, weil blosses Beharren zum Verfall führt. Aber seiner Natur gemäss verharrte er zuerst einmal, um sich gewissermassen des erworbenen Besitzes und Vermögens zu erfreuen. Damit setzt die Defizienz, der Verfall ein. Wer verharrt, verfällt.»

«Schliesslich überbietet sich die Technik darin, mit jedem neuen Jahre den Raum immer mehr durch die Meisterung der Zeit zusammenschrumpfen zu lassen, indem sie grosse Entfernungen, sei es zeitlich durch Überschallflugzeuge zusammenrückt, sei es diese Entfernungen sogar auf einen angenäherten zeitlichen Nullpunkt reduziert […].» Diese Konklusion Gebsers scheint mir geradezu visionär: Globalisierung und Gleichzeitigkeit, die beiden Hauptcharakteristika des digitalen Zeitalters zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kein Mensch ahnte diese Umbrüche, Gebser formulierte in seinen Worten, was die weltweiten «Fortschritts-Treiber» ausmachen würden. Sozusagen sein Gedankengebäude.

NICHT DIE FASSADE DER DINGE

Im Kontext meines Buches interessiert auch, was Gebser zur Malerei zu sagen hat, nachdem er sich ausführlich zur Architektur geäussert hat (die Transparenz der modernen Gebäude, wo Glas inzwischen grosse Teile der früheren, trennenden Wände ersetzt hat – diese Ankündigung Gebsers um die Mitte des letzten Jahrhunderts ist ebenso stupend wie 60 Jahre später weltweite Normalität). Das Hauptaugenmerk Gebsers richtet sich nun zweifellos auf jenen Künstler, der alle überraschte und herausforderte: Pablo Picasso.

Bei diesem Künstler «wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher, dass es gar nicht mehr um die Dinge als solche, auch nicht um abstrakte oder konkrete Formen, um nachbildende, vorbildende oder urbildende Kunst geht, sondern um die Sichtbarmachung von Strukturen, die ‹hinter› den Dingen und Gedanken liegen –, die ihnen zugrunde liegen. Picasso hat diesen Tatbestand formuliert: nicht die Fassade der Dinge, sondern ihre geheime Struktur ist es, die den heutigen Maler beschäftigt.» Ich werde im Kapitel «Die geheime Struktur des Bildes» darauf zurückkommen.

Vielleicht möchten sich Leserinnen und Leser aus diesen Bruchstücken selbst ein Ganzes formen? Ihnen sei die zeitraubende (!) Lektüre von «Ursprung und Gegenwart», Chronos Verlag, Zürich (Neuauflage 2015), empfohlen. Zeitraubend allerdings nur für jene, die … (siehe oben). Natürlich gibt es da auch noch das im Verlag Via Nova, D-Petersberg, erschienene Buch «Die Debatte läuft – Ganzheitliche Thesen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – Die unerhörte Aktualität der integralen Vision Jean Gebsers» (2005) von … Christoph Zollinger.

Nachdem Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dieses Kapitel gelesen haben und vielleicht auch aus Ihrer Warte darin Interessantes, Neues, bisher nicht Bedachtes ausgemacht haben, gehören Sie jetzt zweifellos zu jenen, die den Namen meiner Homepage www.glaskugel-gesellschaft.ch nicht mehr falsch interpretieren. Er sollte nicht mit der Kristallkugel der Wahrsager verwechselt werden.

VERÄNDERUNGSPROZESSE IM ZEITENWANDEL


Bild 7, 115 x 100cm

KUNST IN DER GESCHICHTE, GESCHICHTE DER KUNST

Stellen wir uns ein Jahr zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor. Vielleicht 2014? Man stellt einen verrosteten Hafenkran aus Rostock an der Ostsee mitten in Zürich ans Ufer der Limmat: Das ist Kunst. «Zürich Transit Maritim» ist sogar mehr: eine temporäre Kunst-Intervention, eine Installation eben. Die Initianten sprechen von einer 2000 Jahre zurückreichenden Geschichte von Zürich als Hafenstadt. Von einem «Denkanstoss» ist die Rede. Die Rezeption in der breiten Öffentlichkeit, wie üblich in zwei Lager gespalten, findet weniger gewählte Worte, ist weniger schmeichelnd: «Scheissding, das niemand will, Zwängerei, Geldverschleuderung», nörgeln die einen. Andere: «Dieses Kunstprojekt hat jeden Zürcher, jede Zürcherin gerade mal 1.50 Franken gekostet.» Oder sie verweisen darauf, dass Kunst auch ein Seherlebnis, eine ästhetische Erfahrung zu bieten hätte.

Szenenwechsel. Man platziert eine weisse WC-Schüssel mitten in einen nackten Raum: Das ist Kunst. Eine Installation mit symbolischem Charakter: eine Anklage gegen Verschwendung, sorglosen Umgang der Menschen mit den Ressourcen. Hier scheint die ästhetische Erfahrung wohl weniger im Vordergrund als die versteckte Zurechtweisung. So oder so: ein Seherlebnis.

Szenenprofis sprechen davon, dass es heute entscheidend sei, Aufmerksamkeit zu generieren. Auffallen um jeden Preis! Die Medien machen es vor. Kunstprofis sprechen vom New Realism. Oder vom Ende der konstruktiven Postmoderne, mit ihrer Verneinung jeglichen Bezugs zur Wirklichkeit. Dies alles bewegt die Massen. Besucherzählungen in den Museen zeigen steil nach oben. Printmedien füllen ihre Blätter mit überdimensionierten Fotos und unterdurchschnittlich intelligenten Begeisterungsausbrüchen.

Der Aussagewert, die Aussage selbst – beides ist umstritten. Ist Gegenwartskunst heute primär da, um Aufmerksamkeit zu generieren oder um mit dem Kauf Gebühren und Steuern zu sparen (etwa wenn in schweizerischen Zollfreilagern zu diesem Zweck stapelweise Gemälde gehortet werden)? Aus früheren Zeiten jedenfalls ist nicht überliefert, dass rostige Hafenkräne oder weisse WC-Schüsseln gesammelt, ausgestellt oder gehortet wurden.

DIE LAUTLOSE SPRACHE DES BILDES

Bekanntlich nehmen wir unsere Umgebung, unser Land, die Welt u. a. bildhaft wahr. Schon unsere Vorfahren über die Jahrtausende hinterliessen eindrückliche Spuren ihrer stupenden Fähigkeit, die Welt – wie sie diese erfuhren – künstlerisch darzustellen.

Älteste Spuren führen zurück in die Zeit vor 35 000 – 10 000 Jahren (z. B. die Höhlenmalerei in Lascaux, F). Auch Wandmalereien aus Ägypten oder Fresken aus Kreta haben 4000 – 5000 Jahre «überlebt». Aus der Antike stammen die wunderschönen griechischen Vasenmalereien oder zeugen etwa die römischen Fresken aus Pompeji von hohem Kunstverständnis und malerischem Können.

Die Renaissance steht unverrückbar als eigentliches Wunder des 15. und 16. Jahrhunderts und jenes gewaltigen Entwicklungsschubs nicht nur in der Malerei. Unerreicht sind Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael. Aus der Barockzeit kennen wir Rubens oder Rembrandt. Diese Namen stehen für eine Vielzahl weiterer begnadeter Interpreten.

Im 20. Jahrhundert schliesslich verändert sich die Malerei erneut, der abstrakte Expressionismus entsteht. Meine rudimentäre Aufzählung endet hier mit dem Namen Mark Rothko. Ich bin mir bewusst, dass eine solche subjektive Rückschau eigentlich gar nicht statthaft ist. Im Kontext dieses Buches sei mir diese «Barbarei» verziehen.

Über alle Zeiten haben Künstler Zeugnis davon abgelegt, wie sie ihre Welt interpretieren. Schon immer spielte das natürliche Umfeld eine prägende Rolle: Landschaften, Menschen, Tierwelt wurden abgebildet – mal unglaublich detailliert, ein anderes Mal abstrakter gestaltet. Die Realität ist ja so oder so nicht abbildbar («Ceci n’est pas une pipe!»). Somit spielten idealisierte Wahrnehmung und Umsetzung immer eine grosse Rolle. Auch Projektion und Interpretation formen ein Bild – so, wie der Künstler das eben erlebt und sieht.

Die lautlose Sprache des Bildes verfehlt seine subtile Wirkung auf den vor ihm stehenden, in Gedanken versunkenen Menschen nicht. Er oder sie, alle sind beeindruckt, ab und zu gefesselt vom Gesehenen. Sie sehen zwar künstlerisch dargestellte Natur, opulente, nackte Gestalten, fragile Tiere oder geheimnisvoll lächelnde Damen – doch was sie dabei denken, mag sich völlig von dem unterscheiden, was dem Künstler wichtig war. «Mona Lisa» von Leonardo da Vinci – Louvre, Paris. Zum Beispiel.

Mit dem Aufkommen der Fotografie wandelt sich in der Moderne das Spektrum der Abbildung des Gesehenen. Die neue Technik des Fotografierens übernimmt: akkurater, billiger und schneller. Ab diesem Zeitpunkt verändert sich die Botschaft des Bildes. Sie ist jetzt versteckt hinter der neuen Farbenwelt des Abstrakten.

Noch immer spricht das Bild zum Gegenüber. Doch der angesprochene Mensch wird völlig sich selbst überlassen: Er sieht weder Häuser, Bäume, Kühe noch Akte. Den Interpretationsraum der Botschaft überlässt der Künstler weitgehend dem Betrachter. Doch dieser, so sagte es Klaus Merz einmal, «muss zuhören, was einem die Bilder erzählen – und diese Erzählungen dann mit den Geschichten und Eindrücken verbinden, die man in sich selber drin hat, denn es lagert ja unheimlich viel Bild- und Erzählmaterial in uns».

Für die abstrakte Bilderwelt gilt mehr denn je, dass sie, zuerst in des Künstlers Vorstellung, dann im Kopf des elektrisierten Käufers oder abwägend Schauenden, spontan eine neue Verbindung herstellt, individuelle Wirklichkeiten miteinander vernetzt. Ohne gegenständliche Vorgabe ist der kreativen Imagination keine Leitplanke gesetzt.

REVOLUTION DES DARSTELLUNGSSYSTEMS

Betrachteten noch die gotischen Maler ein Bild als Wiedergabe der (Heiligen) Schrift, so änderte sich das in der Renaissance mit der Einführung des perspektivischen, auf den Blickpunkt des Betrachtenden ausgerichteten Bildraums. In diesem Moment wurde ein Bild zur illusionistischen Darstellung einer Szene. Damit verschwand die Schrift aus dem Bild, denn sie hätte die Illusion gestört. Diese Konstellation galt weitgehend auch für die auf die Renaissance folgenden Jahrhunderte, als sich die neuen Gattungen des Stilllebens und der Landschaftsmalerei herausbildeten. «Da diese an die perspektivische Raumauffassung gebunden sind, schliessen sie die nicht motivierte Integration von Schrift und Bild aus», schrieb Peter Bürger 2010 in der NZZ: «Erst als Georges Braque und Pablo Picasso in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, ausgehend von einigen Landschaften des späten Cézanne, in denen der Raum keine Tiefe mehr zu haben scheint, sich von dem perspektivisch auf den Blickpunkt des Betrachters hin orientierten illusionistischen Raum verabschieden, tritt auch, was die Schrift im Bild angeht, eine Änderung ein. Indem die beiden Maler in der Phase des analytischen Kubismus ein Vokabular aus Flächenfacetten entwickeln, in denen unterschiedliche Ansichten des Gegenstandes aufscheinen, leiten sie eine Revolution des seit der Renaissance geltenden Darstellungssystems ein.»

Interessant erscheint mir die Ansicht eines anderen Kritikers, der 1960 befand, dass die Gegenstandslosigkeit die moderne Malerei vor erhebliche Probleme stelle. Das abstrakte Bild werde somit in einem bisher nicht gekannten Sinne kommentarbedürftig. Denn es sei die Anwesenheit des Diskurses im Bild, sei es als Erzählung, sei es als Gegenstand, die es ermögliche, dem Einzelbild eine kommunizierbare Bedeutung zuzusprechen. «Zwar vermögen Mark Rothkos vor einem monochromen Hintergrund schwebende Rechtecke beim Betrachter eine starke, wenngleich unbestimmte Stimmung auszulösen, und sie können ihn auch in eine meditative Versenkung versetzen, dem einzelnen Bild aber kommt keine nur ihm eignende Bedeutung zu.»

Mit solchen Kommentaren bin ich nicht einverstanden. Sie sind für mich Zeichen, dass Kritiker eine neue Bilderwelt mit den alten Ansichten des einst gültigen Massstabs beurteilen und nicht verstanden haben, dass die «kommunizierbare Bedeutung» nicht mehr in Worten und Sätzen geschieht, sondern in Stimmungen und Gefühlen, die vom Maler ausgesendet werden, jedoch individuell empfangen und gedeutet werden. Damit entwickelt sich die oben genannte lautlose Sprache des Bildes.

Ein Maler wie Albert Anker oder Ferdinand Hodler vermittelt zum Beispiel ein klares, von ihm gewolltes (jedoch oft nicht der Wirklichkeit entsprechendes) Bild seiner persönlich interpretierten Sicht. Dieses lässt keinen Interpretationsspielraum zu und es «gefällt» jenen begeisterten Käufern, die sich mit dieser Weltsicht identifizieren mögen.

Ganz anders mit den Farbbotschaften eines Rothkos oder anderer Vertreter z. B. des Color Field Painting. Hier erhalten Farben und Flächen einen neuen Stellenwert. Farbe wird zum Signal und zum Ausdrucksträger und lädt zur Kontemplation oder Meditation ein. Nicht mehr der Maler diktiert den Dialog. Er entlässt sein Werk sozusagen in die Fremde, wo er keinen Einfluss mehr auf die Rezeption hat. Der emanzipierte Besitzer oder Betrachter dieses Bildes interpretiert autonom, sogar mit wechselndem «Empfang».

Zusammenfassend: Nicht mehr die Autorität der Kirche oder der Bibel, auch nicht jene eines dem Zeitgeist verpflichteten politischen oder gesellschaftlichen Vorbilds, bestimmt den Rahmen.

GEDANKLICHER AUSFLUG: DER EPOCHALE NEUBEGINN

Die vierte Dimension ist unserer Erfahrung nicht zugänglich. In Verallgemeinerung der physikalischen Theorien Albert Einsteins wird die vierte Dimension als durch die Zeit besetzt angenommen und der 4D-Raum mit dem Begriff Raumzeit gleichgesetzt.

Für Jean Gebser ist der Einbezug der Zeit in der Malerei nur ein Aspekt unserer gegenwärtigen integralen Epoche. Vierdimensional, aperspektivisch, raum- und zeitfrei, transparent, ganzheitlich sind weitere Qualitäten.

Was erleben wir denn heute? Das Internet steht für Gleichzeitigkeit und Überwindung des Raums. Es hat der Globalisierung jenen Schub gegeben, der uns realisieren lässt: Wir stehen mitten in einer kritischen Phase des epochalen Neubeginns, was wir an folgenden Zeichen und Erscheinungen sehen:

■ Das sich auflösende Patriarchat;

■ Die rational fixierten Denkklischees, die zerfallen;

■ Der Messbarkeitswahn (alles messen, was messbar ist, und alles messbar machen, was es gar nicht ist), der manchmal in die Irre führt;

■ Der Ausruf «Ich habe keine Zeit!», das verräterische Eingeständnis des ins Quantitative degenerierten Empfindens unserer Lebenszeit, deren qualitative Aspekte in der Hektik untergingen;

■ Die diffuse Angst, der weitverbreitete Treiber in den nationalen Rückzug, der die einfältigen Rezepte der Populisten, deren einzige Lösungen, als «sichere Verheissung» wahrnimmt.

Ich wiederhole mich, weil es mir wichtig scheint:

■ Transparenz als Zeitdominanz, der Ruf nach Transparenz, hat erst durch das Internet und BIG DATA so richtig Zähne erhalten. Transparenzforderung ist neu ein menschenrechtliches «Grundrecht».

■ Das Aufbrechen sorgfältig gepflegter «Abnormitäten» (UBS-Debakel, VW-Skandal, FIFA-Korruption, Panama Papers etc.) ist eine Folge der neuen Durchsichtigkeit.

■ Das Atomzeitalter, ein Resultat des Fortschritts der Wissenschaft und mit ihm die «friedliche» Nutzung der Atomenergie, ist ein fragwürdiges Versprechen. Die Endlagerung von Brennstäben und der Rückbau von Atomkraftwerken bleiben ungelöste Probleme.

Transparenz, Überwindung des Dualismus und entsprechend Realisierung der Ganzheit, diese wichtigen Themen unserer bewegten Epoche, ich male diese Bilder in meinen Büchern und beschreibe sie auf meinen Bildern.

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219 стр. 49 иллюстраций
ISBN:
9783037600443
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