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Liebende Walrosse

Willy setzte seinen Astra rückwärts aus der Einfahrt und brachte ihn knapp vor dem Straßengraben zum Stehen. Das Haus, das er länger als sein halbes Leben mit Eva bewohnt hatte, lag außerhalb von Gollwitz. Eingerahmt von verschneiten Feldern war der Ziegelbau erbarmungslos der Witterung ausgeliefert; eine Steintreppe führte zu einer Flügeltür, deren blauer Anstrich sich bestenfalls erahnen ließ; von den Fensterläden hatten Wind und Regen die Farbe gespült. Das Haus schien sich langsam, aber sicher in der havelländischen Ebene aufzulösen. Willy machte das Radio an, drückte aufs Gas, und nach wenigen Sekunden verschwand das Hoflicht aus dem Rückspiegel.

Er nahm den Feldweg, der von seinem Haus zur Gollwitzer Chaussee führte. Das Ende der 20-Uhr-Nachrichten signalisierte ihm, dass der Netto am Rathenower Stadtrand soeben geschlossen hatte. Egal, sagte sich Willy. Zucker gibt’s auch anderswo. Als im Radio »You see the trouble with me« von Barry White angekündigt wurde, drehte er die Lautstärke auf, doch statt den Song einfach abzuspielen, strapazierte der DJ Willys Geduld mit Hörergrüßen.

»Wen interessieren denn Inge und Klaus?«, brüllte er. »Hau rein, die Nummer!«

Eva hatte für das »Walross der Liebe« und seine kosmische Bassstimme zeitlebens geschwärmt: Zum Putzen hatte sie die alte Platte aufgelegt und war zu »Just the way you are« oder »Let the music play« durchs Haus geflattert, hatte zu »Your sweetness is my weekness« den leckersten Kuchen der Welt gebacken.

»Dir ist nie der Zucker ausgegangen«, murmelte Willy und trommelte aufs Lenkrad, während der Astra durch Schnee und Dunkelheit pflügte.

Er wusste um seine Trunkenheit, und er wusste, dass das Fass noch nicht überzulaufen drohte. Er griff aus dem Seitenfach eine Plastikflasche und klemmte sie zwischen seine Beine. Billiges Discounterbier, mit praktischem Schraubverschluss und 25 Cent Pfand pro Flasche. Er pustete den Schaum ab, kippte einen Schluck und leckte sich über die Lippen, dann ein zweiter Schluck und ein dritter, und je leerer die Flasche wurde, desto lauter stellte er das Radio.

Welkes Gestrüpp und kahle Obstbäume schoben sich ins Fernlicht, blitzten auf und verschwanden wieder. Unter der Eisdecke gefror das Fallobst vom letzten Herbst, hier und dort durchsiebten dürre Gräser das Weiß. Willy brauchte das alles nicht zu sehen, denn die Region umschloss sein Herz wie ein Kranz feiner Venen und Arterien. Er konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben, woanders zu sterben; das Doppelgrab auf dem hiesigen Friedhof war längst abbezahlt.

Auf der Gollwitzer Chaussee drosselte er das Tempo und stierte konzentriert dem Fernlicht hinterher. Pass bloß auf, verdammt. Einen Astronisten über den Haufen zu fahren, würde ihm wohl einen Ehrenplatz unter seinen Mitbürgern bescheren; da verstanden die Gollwitzer keinen Spaß.

Vor zwei Jahren hatte man die Region 90 Kilometer westlich von Berlin zum ersten Sternenpark Deutschlands gekürt. Das Kerngebiet reichte vom nördlichen Zipfel Rathenows bis hinauf zur Gemeinde Gülpe. Die dünne Besiedlung und die Lichtarmut sorgten für einen Himmel, wie es ihn in Deutschland kein zweites Mal gab. Dass Menschen die Region wegen der rabenschwarzen Nächte aufsuchten, war bei den Gollwitzern zunächst auf Skepsis gestoßen; heute dagegen stapelten sich in den Pensionen nachtblaue Flyer, Stern- und Postkarten. Man hatte sogar einen Namen für die Besucher kreiert: Astronisten, eine Kombination aus Astronomen und Touristen.

Willy brachte der Sternenhimmel kaum in Verzückung. Sein Gedächtnis war voll von Nächten, in denen Suffköppe im Dorf randalierten oder der alte Siebert seine Frau mal wieder verdrosch; Nächte, in denen Eltern vom Unfalltod ihres Sohnes erfuhren oder er verstörte Kinder einer Notunterkunft übergeben musste. Und es gab die Nacht, als er zum Haus der Familie Majakowski gerufen worden war. Für diese Tragödie hatten die Gollwitzer ebenso einen Namen kreiert: Die Brandnacht, so schlicht wie unzweideutig. Die Nacht, in der Eva ihren Abgang gemacht hatte, setzte jedoch allem die Krone auf.

In Gedanken an seine Frau schwenkte er die Flasche zum Seitenfenster.

»Ich hoffe, bei dir ist es wärmer.«

Unter abgeschirmten Laternen zog sich die Dorfstraße dahin wie durch eine Geisterstadt. Gollwitz, Kreisstadt Rathenow, Landkreis Havelland. Winterzeit war auch hier keine Erntezeit. Die Astronisten wagten sich kaum in diese Hundekälte; vielleicht hockte ein harter Kern im hiesigen Pub zwischen den Einheimischen und trank sich Mumm für die Wanderung an. Willy war das alles einerlei, die Sterngucker, die Winterflaute, der verdammte Himmel. Er wollte ein Päckchen Zucker, mehr nicht.

Er fuhr am Denkmal der »Butterhexe« vorbei und schwenkte die Flasche erneut zum Fenster. Die Frau war 1672 verbrannt worden, weil sie verunreinigte Butter verkauft haben soll. Schon vor 300 Jahren hatten sich die Gollwitzer nicht hinters Licht führen lassen. Er folgte der Dorfstraße und passierte die Fachwerkkirche, wendete und parkte den Wagen in Sichtweite von Friesacks Pub.

Jochen Friesack, ein Mann um die 60, hatte nach der Wende sein Gespartes zusammengeklaubt, um Irland zu besuchen; weshalb sein erstes Ziel in Reisefreiheit ausgerechnet auf die grüne Insel gefallen war, blieb allen ein Rätsel.

»Du hast ihn immer Erdbeermütze genannt«, erinnerte sich Willy in der Dunkelheit des Wagens. Er presste ein bitteres Lachen hervor, aber Eva stimmte nicht mit ein. »Ich glaube, der Idiot hält sich für ’nen verdammten Paddy.«

Er hievte sich aus dem Auto, schob den Schlüssel in die Weste und überquerte mit der Bierflasche die Straße. Friesack hatte vor seinem Pub nicht nur Schnee gefegt, sondern auch Kies gestreut.

»Sehr vorbildlich«, bemerkte Willy und stapfte vor die Ladenfront. Durch das Bleiglasfenster in der Tür drang warmes Licht auf den Gehweg. Sobald ihm das Kneipenschild über der Tür ins Auge sprang, verkrampften sich seine Finger um die Flasche. Auf dem sumpfgrünen Blech stand in verschnörkelten Lettern LEPRECHAUN.

»Wer benennt denn seine Kneipe nach ’nem Kobold?«, fragte sich Willy. »’nem rothaarigen noch dazu.«

Allmählich setzte ihm die Kälte zu; er raffte die Weste um seine Brust, bückte sich und zog unter der Hose seine Wollsocken hoch. Ein Teil von ihm wollte zurück ins Auto steigen und heimfahren; der Pflaumenkuchen wartete im Ofen, der Schnaps neben dem Sofa und »National Geographic« brachte eine Doku über Essigfliegen. Eigentlich ein erstklassiges Programm, auch ohne Zucker auf den Pflaumen.

Er trank den letzten Schluck und holte Schwung, um die Plastikflasche über die Mauer aufs Nachbargrundstück zu feuern. Die Flasche prallte von den Steinen ab und landete mit einem Plopp im Schnee. An manchen Tagen sollte man einfach nicht das Haus verlassen. Dann grunzte er lautstark, als würde ein Grunzen genügen, um den Gedanken zu verscheuchen. Er marschierte die Eingangsstufen empor, und kaum dass er die Tür geöffnet hatte und sein Gesicht in der Kaminhitze zu glühen begann, glaubte er die ganze Welt gegen sich.

Pfoten weg

Anna folgte der Anzeige über dem Fahrstuhl, elfter Stock, zehnter Stock. Der Verkehr von der Frankfurter Allee lärmte durch die verglaste Tür in die Vorhalle. Sie hatte ihre Hände in den Manteltaschen vergraben; die rechte berührte den Wohnungsschlüssel, die linke den Brief. Achter Stock, siebenter Stock. Sie schaute abwärts und sah den Schlamm von ihren Stiefeln rinnen, den die Berliner für Schnee hielten. Dritter Stock, zweiter Stock, endlich. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss ankam, hatte sich ihre Faust um den Brief geballt.

Der Aufzug öffnete sich und sie erblickte eine Greisin, die sich mit einem Rollator abmühte. Sie begegnete der Frau zum ersten Mal, was in einem Hochhaus kein Kuriosum war. Die Anwesenheit anderer Mieter wurde hier von Poltern, Krach und Geschrei verraten, selten dadurch, dass man sich im Hausflur begegnete. Sobald die Alte den Fahrstuhl geräumt hatte, blockierte Anna mit ihrem Rucksack die Tür, folgte der Frau in die Eingangshalle und hielt ihr die Tür zur Straße auf. Sie quittierte den Dank der Greisin mit einem Nicken, schnappte sich den Rucksack und drückte die Taste für die 18. Etage.

Der Lift schloss sich, und ihre Hände rutschten zurück in die Manteltaschen. Sie begann, an dem Umschlag zu zerren, ließ ihre Finger über die harten Kanten gleiten, bohrte ihre Nägel in das Papier. Sonjas Kommentar, dass sie an ihrer Stelle längst ihre Verwandten informiert hätte, gängelte ihr Gewissen; aus ihrem Mund hatte es geklungen wie eine Sache der Moral und des Anstands. Aber ihre Kollegin kannte kaum die Hälfte der Wahrheit. Sie wusste nichts von der Trauer, die stets in Perioden über sie hereinbrach, von ihren Träumen, in denen sie halsbrecherisch zur Wohnungstür eilte, um lediglich einen Lieferschein vorzufinden: Leider war es nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zu übergeben. Vor Jahren hatte Anna sich einem fremden Mann anvertraut; sie waren sich auf einer Party begegnet, er hatte von seinen Depressionen geplaudert, als spreche er über einen verknacksten Knöchel, und sie hatte zu schnell zu viel getrunken. Seiner Depression hatte Anna ihre Trauer entgegengesetzt, seiner Drogensucht ihre Arbeit. Seiner geliebten Ex ihren toten Bruder. Nach dem Sex war sie aus seiner Wohnung geschlichen und hatte sich bei ihm nicht mehr gemeldet. Die Wahrheit lässt sich nicht halbieren, dachte Anna und nahm die Hand aus der Manteltasche.

Ohne im Flur Stiefel oder Mantel abzustreifen, kniete sie vor dem Schuhschrank nieder, öffnete die untere Schublade und hob einen roten Karton heraus. In dem dumpfen Licht der Energiesparlampe glich das Nike-Logo einem abgestoßenen Etikett. Eigentum von A. M. hätte die zwölfjährige Anna auf den Deckel geschrieben. Reingucken verboten. Pfoten weg! Sie stemmte sich hoch, behielt den Karton am Bauch und nahm in den Ohren den eigenen Herzschlag wahr: ein Pochen, das sie häufig aus dem Schlaf riss und die halbe Nacht wachbleiben ließ.

Sie schob den Karton auf den Schrank, fischte aus ihrem Rucksack das Handy und ging ins Wohnzimmer. An den Fenstern klebte eine Dunkelheit, die vom Schein der Laternen und Autolichter ruhelos flirrte. 18 Stockwerke über der Erde und doch nicht losgelöst von allem. Anna drehte die Heizung auf und schaltete die Stehlampe ein. Die Wände ringsum schmückten weder Pflanzen noch Bilder, kein Schnappschuss vom letzten Urlaub, allein die Schatten einer Couch und einer Kommode bogen sich über die Tapete. In der Ecke stand eine Musikanlage, daneben stapelten sich Bücher, die sie auf Trödelmärkten gekauft hatte; alte Schulbücher aus den Fächern Biologie und Erdkunde, ein Lehrbuch der Landwirtschaft, dutzende Reiseberichte riskanter Expeditionen. Bisweilen hockte sie auf dem Boden und inhalierte den Geruch der vergilbten Seiten, den Geruch nach Dachboden und Klassenzimmern, studierte die Schwarz-Weiß-Fotos von Vulkanen und Getreidearten, von Forschern, die mit steifer Miene ein Teleskop oder einen Kernreaktor präsentierten. Anna wusste, dass diese Bücher in Zeiten des Internets so unnötig waren wie zwei verschieden große Augen. Brauchte keiner, wollte keiner. Einmal hatte Sonja ihre Einrichtung als charakterlos bezeichnet, natürlich halb im Scherz, worauf Anna geantwortet hatte: »Wer viel hat, hat auch viel zu verlieren.«

Mit geöffnetem Mantel nahm sie auf dem Sofa Platz. Sie scrollte in ihrem Telefonbuch zum Namen ihrer Tante. Zögerte, grübelte. Vielleicht hatte Sonja recht, vielleicht war sie ihrer Familie einen Anruf schuldig. Sie konnte nicht ausschließen, dass in der Pension ebenso ein Brief angekommen war, schlimmstenfalls befanden sich dort alle längst in heller Aufregung. Sie lauschte dem Tuten, und sobald die Stimme ihrer Tante ertönte, atmete sie erleichtert auf. Es war die Mailbox.

Helenes Stimme klang fest und beherrscht, und unter ihren Worten glaubte Anna das Getuschel der Pensionsgäste zu hören, das Scheppern von Geschirr, den Hall in den hohen Räumen. Nach dem Tod ihrer Eltern waren Gutshaus und Garten ein zweites Zuhause für Anna geworden, ihr Onkel, ihre Tante und ihr Cousin eine Ersatzfamilie. Doch mit bestandenem Abitur hatte sie Gollwitz den Rücken gekehrt; das neue Haus und die neue Familie hatten zwar die Trauer einer Heranwachsenden auffangen können, aber nicht den Zorn einer jungen Frau. Aus ihren Besuchen waren sporadische Anrufe geworden, aus den Anrufen irgendwann Glückwunschkarten, die das schlechte Gewissen schmälern sollten. Schöne Weihnachten, Herzliche Glückwünsche, Viele Grüße. Auf das hoffnungsvolle Bis bald am Ende einer jeden Karte hatte sie rasch verzichtet. Vor fünf Jahren war Anna das letzte Mal in Gollwitz gewesen.

Leider habe sie gerade zu tun, verkündete Helene auf der Mailbox, sie würde jedoch umgehend zurückrufen. Anna legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Sie tauschte ihre Wintersachen gegen eine Jogginghose und ein T-Shirt mit einem Aufdruck von »Buffy – Im Bann der Dämonen«, rollte die Wollsocken über ihre Hosenbeine und rutschte auf die Couch. Dort öffnete sie den Brief und strich anschließend das Papier glatt. Der Bogen hatte 15 vorgedruckte Zeilen, die Kindern zur Schreibhilfe dienten; unter der letzten Zeile grinste ein Schneemann mit Karottennase und Kohleaugen. Normalerweise schickten Kinder solche Briefe aus dem Ferienlager nach Hause, normalerweise strotzten solche Briefe vor tollen Erlebnissen und allerliebsten Grüßen. Dieser Brief war anders, zweifellos. Liebste Anna … dein Onkel, deine Tante und der schöne David sind als Nächstes dran. Die Arbeit, ihre Kollegin und ein Haus voller Kinder hatten sie tagsüber vor eben diesen Zeilen beschützt; der wahre Horror, so wusste sie, begann erst in den eigenen vier Wänden.

Sie las den Brief wieder und wieder und zerrte dabei einen losen Wollfaden aus ihrer Socke. Offenbar hatte irgendein Spinner Schadenfreude als willkommene Abwechslung zum Alltagstrott entdeckt. Es war kein Geheimnis, dass in Dörfern wie Gollwitz Langeweile und Überdruss herrschten. Ihr Bruder hatte hinlänglich bewiesen, welches Potenzial diese Eintönigkeit entfesseln konnte. Er war nicht nur in den örtlichen Pub eingebrochen, um irischen Whiskey zu stehlen; darüber hinaus hatte er das Denkmal der »Butterhexe« mit Hakenkreuzen und bunten Schwänzen verziert. Auch Lennart wäre imstande gewesen, einen derartigen Brief zu verfassen. Nein, nicht auch, korrigierte sie sich, sondern gerade Lennart.

Als das Telefon klingelte, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Das Display zeigte unter einem gesichtslosen Kopf den Namen ihrer Tante. Sie legte das Handy auf die Couch und hoffte, es würde rasch verstummen. Durch die Wände krachten die üblichen Geräusche: das Poltern des Mieters über ihr, ein Knacken aus der Nachbarwohnung, als würden dort Holzscheite unter starker Hitze bersten; von irgendwoher das Miauen einer Katze oder vielleicht auch das Wimmern eines Mädchens. Eine endlose Minute später erlosch das Display, dann signalisierte ein Piepen eine SMS. Garantiert hatte Helene auf ihre Mailbox gesprochen.

Statt sich die Nachricht anzuhören, rannte Anna in den Flur und öffnete den Schuhkarton, legte den Brief zu den vier anderen und schob den Karton zurück in die Schublade. Sie streifte sich einen Pullover, Schal und Stulpen über, schlüpfte in ihre Laufschuhe und verließ die Wohnung.

Blinde Kuh

Aus versteckten Boxen plärrte Irish Folk, wie er in jedem x-beliebigen Pub gespielt wurde: Akkordeon, Mandoline und Fidel, dazu eine Stimme, die an das Zermalmen von Kohle erinnerte. Im Kamin glomm das Holz, während zwei Kerle stumm, triefäugig und Guinness trinkend in die Glut starrten. Die Gäste an den vorderen Tischen sprachen weiter, als hätte sich die Eingangstür keinen Millimeter gerührt; vielleicht war es unter ihrer Würde, einen Neuankömmling wenigstens mit einem Nicken zu begrüßen. Willy stützte sich am Türrahmen ab und verharrte in lautlosem Protest.

Die Aufmerksamkeit aus der hinteren Sitznische war ihm dagegen gewiss; dort im Halbdunkel saßen jene, die mit der Finsternis Geld verdienten: Besitzer einer Pension oder Wanderführer, Hobby-Ornithologen oder selbsternannte Spezialisten für Sonne, Mond und Sterne.

Links am Tisch die Eheleute Kallabis, die ungefähr in Willys Alter waren. Lasse hatte sein Leben lang in der Putenmast gearbeitet, wo er seiner Frau begegnet war. Die Ammoniakdämpfe vom Vogelkot hatten Claudia offenbar das Hirn vergiftet; sie stierte Willy aus geröteten Augen an, den Rücken gekrümmt, das Doppelkinn zur Hälfte im Bierglas. Daneben hockten Eugen und Constanze Kramer, zwei Berliner, die hier ein Haus gekauft hatten und nun alles Erdenkliche taten, um sich in die Horde zu integrieren. Arschlecken deluxe. Den Großteil der Runde machten die Einheimischen aus. Die Jüngsten unter ihnen, Kevin Hübner und Danny Schmidt, hatte Willy aufwachsen sehen, die Älteren hatten mit ihm die Schulbank gedrückt; aus Leidensgenossen waren Nachbarn geworden, aus Nachbarn irgendwann Fremde.

Er blieb an der Tür stehen und witterte das würzige Aroma, das über den Köpfen, Biergläsern und speckigen Tischen schwebte. Das Rauchverbot, das Friesack wegen der Touristen und ihrer neumodischen Ansichten durchgesetzt hatte, galt nicht für Johann Beck. Soweit Willy sich erinnern konnte, hatte der Alte nie auf seine Pfeife verzichten müssen, weder hier noch in den Ställen der Genossenschaft. Gleich einem Silberrücken hockte Beck inmitten der Horde, linkerhand sein Sohn, rechterhand seine zweite Frau, vor sich ein Guinness. Willy spürte, wie Beck Junior ihn taxierte.

»Hey, altes Haus«, rief ihm der Wirt vom Tresen aus zu. Sein Dauergrinsen und das Geschirrtuch auf seinen Schultern sollten Lässigkeit vortäuschen, doch mit jeder weiteren Sekunde, die Willy unterm Türsturz ausharrte, krümmten sich Friesacks Mundwinkel tiefer. Garantiert hatte Erdbeermütze Angst, er würde ihm das Geschäft versauen. Die handzahmen Astronisten mochten keinen Stunk, sie verbrachten ihre Zeit lieber mit Explosionen, die Millionen Lichtjahre entfernt waren. Friesack kam hinter seinem Tresen hervor, wanzte sich an Willy heran und raunte:

»Verzieh dich aus meinem Laden.«

»Wie bitte?«, entgegnete Willy.

»Du bist hier nicht willkommen.«

»Das ist ’n freies Land. Ich kann hingehen, wo ich will.« Ein dummer Spruch aus noch dümmeren Filmen, jetzt fand Willy ihn allerdings originell. »Oder siehst du das anders?«

»Schon mal was vom Hausrecht gehört?«

»Oh, der Herr hat sich belesen.«

»Los, mach ’nen Abgang.«

»Ich will nur ’n Päckchen Zucker.« Er hielt seine Hand wie ein Bettler auf. »Für meine Pflaumen.«

»Ist das ’ne Verarsche?«

»Über Pflaumen würde ich niemals Späße machen.«

Aus der hinteren Sitznische wurde eine Runde geordert, und der Wirt brüllte zurück, dass er sofort käme. Willy merkte, wie seine Abneigung gegen Friesack unter dem ursprünglichen Anlass seines Besuches ein tieferes Bedürfnis freilegte. Er winkelte die Ellbogen an, hakte die Daumen in die Westentaschen und sagte:

»Entweder lässt du mich durch oder du erlebst gleich ’ne Supernova.«

»Willst du mir wieder ’nen Stein ins Fenster werfen?«

»Das hättest du wohl gern.«

»Du warst damals schon neidisch.«

»Hä, auf dich?«

»Auf mich und meinen Pub.«

»Für so ’n Loch wäre mir selbst ’ne Handvoll Kötteln zu schade.«

»Wart nur ab«, drohte Friesack. »Die Quittung wirste noch kassieren.«

»Erst mal will ich ’n Päckchen Zucker. Kapiert?«

Von hinten dröhnte erneut die Bestellung, diesmal in strengerem Tonfall.

»Bist du taub?«, fragte Willy. »Das klang nach ’nem Marschbefehl.«

Mit sichtlich genervter Miene wandte sich Friesack um. Zwei Männern näherten sich der Tür. Sie und Friesack nickten einander zu, dann kroch der Wirt ohne ein weiteres Wort hinter den Tresen, wo er sich selbst einen Doppelten einschenkte.

»Unser Hüter von Recht und Ordnung.« Robert Beck, Sohn vom alten Silberrücken, lächelte so breit, als hätte er einen alten Freund entdeckt. Er und Danny Schmidt trugen Cargohosen und Thermopullover, Beck Junior dazu eine mit Lammfell gefütterte Weste und ein Halstuch.

»Ihr sollt bestimmt den Dreck rauskehren«, sagte Willy.

»Warum so aggressiv?«, fragte Beck.

»Ich will bloß ’n bisschen Zucker.«

»Und ich möchte nur mit dir reden.«

Robert Beck war Inhaber einer Tischlerei und der jüngste Ortsvorsteher, den die Gollwitzer je gewählt hatten. Mit seinem Vater war Willy lange befreundet gewesen, doch seit sich die Gegend »Sternenpark« nennen durfte und ein bisschen Geld in die Kassen floss, hatte sich irgendwas zwischen sie gedrängt.

»Was willst du hier?«, fragte Beck.

»Sag mal, bin ich ’n Papagei?«

Beck strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart. »Hey, wir wollen keinen Ärger.«

»Sprichst du etwa für alle?«

»Ich spreche für deine lieben Mitbürger«, entgegnete er. »Und du, Willy? Für wen sprichst du?«

Aus den Boxen säuselte eine melancholische Nummer, und Willy bemerkte auf unangenehme Weise, wie die Wirkung des Alkohols abflaute. Hätte es ihm sein Stolz erlaubt, wäre er an den Tresen gelatscht, um sich neuen Mut anzusaufen. Geschenkt, dachte Willy. Erdbeermütze würde ihm sowieso kein Pint zapfen oder es zumindest mit hauseigenem Rotz garnieren.

»Okay«, bat Beck in ruhigem Tonfall. »Mach bitte keine Szene.«

Eine Aussage, die sich für Willy wie eine Zeile aus einer Seifenoper anhörte; er empfand sich aber weder als enttäuschten Liebhaber noch als hysterische Geliebte. Er war ein handfester Typ und hatte sein Lebtag dementsprechend gehandelt: Ohne die geringste Ankündigung drückte er seinen Handrücken gegen Becks Unterarm und wollte ihn beiseiteschieben.

»Hey, lass das«, sagte Beck.

»Du hast mir gar nichts zu befehlen.«

»Alter Mann«, höhnte der Ortsvorsteher nun. »Schlaf deinen Rausch aus und komm morgen wieder. Eva hätte dasselbe gewollt.«

In dem Moment, in dem er den Namen seiner Frau vernahm, packte er Becks Arm, um ihn nach Polizeimanier auf dessen Rücken zu hebeln. Beck befreite sich aus der Klammer, scheinbar mühelos, und Willy wurde das ganze Ausmaß seiner Erbärmlichkeit demonstriert. Zunächst hoben die beiden Kerle am Kamin ihre Blicke, dann drängte Beck ihn gegen den Türpfosten, worauf alle anderen Gäste verstummten.

»Ey«, rief Willy ihnen zu. »Gaffen steht unter Strafe.«

»Bleib locker«, flüsterte Beck.

»Was hast du gesagt, hä?«

In den Gesichtern der Gäste saß eine Scham, wie sie nur peinliche Greise verursachten. Danny Schmidt und Robert Beck tauschten die Positionen und der sonst eher geschwätzige Schmidt fixierte Willy am Türrahmen. Schmidts Lippen waren blutleer, hart und versiegelt; Willy hingegen verspürte keinerlei Interesse, still zu sein.

»Ihr könnt mir nicht den Mund verbieten.« Seine Stimme überschlug sich. »Das Schwein kommt raus, das wisst ihr alle.«

»Reiß dich zusammen«, sagte Beck.

»Ich kann ihn in den Knast bringen, wirklich.«

»Das hättest du vor 20 Jahren tun sollen.«

»Ich hab jetzt das Foto. Das beweist alles.«

»Wir werden das auf unsre Art regeln.«

»Verdammt, denk an die Brandnacht«, brüllte er Beck ins Gesicht. »Oder willst du das nächste Mal deine eigenen Kinder begraben?«

Auf Willys Geschrei hin hatte Friesack die Lautstärke der Musik aufgedreht. Die Glut im Kamin verwandelte sich in ein wildes Geflacker, und Willy suppte der Schweiß ins Hemd. Er setzte zur Gegenwehr an, was Schmidt jedoch im Ansatz erstickte: Er schlug ihn nicht, er trat ihn nicht, stattdessen umklammerte er ihn von hinten und bohrte ihm sein spitzes Kinn ins Rückgrat. Willy war über die Methode schier verblüfft, bis sein gesamter Körper vor Schmerz erstarrte. Schmidts Kinn schien direkt seine Nervenbahnen zu reizen, und während Willy nichts blieb, außer die Zähne zusammenzubeißen, schubsten sie ihn nach draußen.

Sie stolperten die Eingangsstufen abwärts, und noch ehe sie unten waren, gesellten sich Lasse Kallabis und Kevin Hübner hinzu. Die vier Männer zerrten ihn aus dem Lichtkreis des Schaufensters und weiter die Dorfstraße entlang. Willy hatte jede Kraft eingebüßt, um ernsthaften Widerstand zu leisten; er schwankte von Beck zu Schmidt, von Hübner zu Kallabis und wieder zurück, taumelte zwischen ihnen wie die blinde Kuh im Kinderspiel.

Die Gruppe gelangte zu einem verwaisten Grundstück. Zwischen zwei Scheunen brach sich ein Streifen Ödland in die Nacht; der Schnee war an dieser Stelle alt und unberührt, spröde und hart. Willy beschwor die Männer, seinen Worten Glauben zu schenken, er lallte etwas von Idioten und blinden Fischen, er sagte, der Teufel lache immer als Letztes. Aber die besorgten Bürger ignorierten seine Appelle.

Der fette Kallabis schubste ihn in die Dunkelheit, der drahtige Schmidt positionierte sich hinter ihm. Sie zerrten ihm die Weste von den Schultern, dann knöpften sie sein Hemd auf und rafften ihm das Unterhemd übers Gesicht, sodass er nichts mehr sehen konnte. Schmidt bog ihm die Arme auf den Rücken und brachte ihn mit einem Tritt in die Kniekehle zu Fall. Was nun geschah, tat nicht sonderlich weh, aber ein Teil seines Gehirns – jener Teil, der wohl auch im Schlaf funktionierte – wusste schon jetzt, dass es morgen wehtun würde. Willy schaltete einfach ab und ließ es über sich ergehen.

1 154,20 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
334 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783839263600
Издатель:
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