Читать книгу: «Nacht im Kopf», страница 2

Шрифт:

You Should Be Dancing

Tom Kowalski ließ sich das Papierhütchen auf den Kopf setzen, wobei er als Zeichen seines Widerwillens keinerlei Regung zeigte.

»Hey«, sagte Erika. »Ein bisschen Freude bitte.«

»Ich kenne Krüger gar nicht richtig.«

»Und warum bist du dann hier?«

»Herdentrieb, was sonst?«

Auch wenn längst nicht alle eingetrudelt waren, rechnete Tom damit, dass sich der Laden binnen einer Stunde füllen würde. Erstens hatten die Kuxwinkler nichts Besseres zu tun, zweitens ging das Gerücht um, es gäbe zur Feier des Tages Freibier. Tom hatte sich mit seinem Glas an den einzigen Fensterplatz bequemt, dorthin, wo das Abendlicht auf den dumpfen Schein des Kronleuchters traf und er Kneipe und Dorfstraße überschauen konnte.

»Du.« Erika rutschte an ihn heran. »Ich hab ’ne kleine Bitte.«

Tom ahnte, was kommen würde, und ihr kummervolles Gesicht bestätigte seinen Verdacht, noch ehe sie ausgesprochen hatte.

»Achte auf deinen Bruder, okay?«

»Der kann sich seine Schuhe selber zubinden.«

»Der kann vor allem Stress machen.«

»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Tom, bitte. Erinnere dich nur an letztes Mal.«

»Okey-dokey«, gab Tom nach und nippte an seinem Bier. Dieses Thema, und insbesondere, dass die Leute meinten, ihn ständig daran erinnern zu müssen, hing ihm zum Hals heraus. Vor einem Jahr war seine Mutter gestorben und seitdem hielt man ihn für den Babysitter seines Bruders. Mittlerweile konnte er die Stunden ohne Patrick kaum noch genießen, denn ständig plagte ihn das Unbehagen, er treibe es irgendwo auf die Spitze.

Tom zupfte am Gummiband des Hütchens, ließ es gegen sein Kinn schnappen und grinste. »Heute feiert Jannes Geburtstag. Da wird niemand Stunk machen.«

Erikas Miene verriet, dass sie seine Zuversicht zwar teilen wollte, aber dem Frieden nur bedingt traute. Sie schob das Hütchen auf seinem Kopf in eine leichte Schräglage und nickte; dann wandte sie sich ab und durchquerte mit einem Lachen, als hätte er ihr einen kolossalen Witz erzählt, den Raum. Am Tresen rückte sie neben René Berkholz, dem sie sogleich einen blauen Hut und eine blaue Brille verpasste. Die beiden lachten einander an und tätschelten sich dabei die Schulter. Es hielt sich das Gerücht, dass Erika etwas mit René gehabt habe, wohlgemerkt im Beisein ihres Mannes; von einer Neujahrsfeier war die Rede, von zu viel Alkohol und einer Videokamera. Tom reizten solche Gerüchte kaum, vielmehr ärgerte es ihn, dass sich seine Nachbarn eher für diesen Schmutz interessierten als dafür, was die Regierung hinter ihren Rücken anstellte. Während er einen Schluck von seinem Bier nahm, entdeckte er eine Fliege auf dem Fenster. Das Insekt krabbelte am Rahmen entlang, die Beine herbstmüde, die Flügel grau wie das Glas.

»Na, mein Lieber. Was machen die Ufos?«

Wolfgang Bielecke plumpste auf den Stuhl ihm gegenüber. Er trug ebenfalls einen Papierhut, dazu flatterte ihm eine Luftschlange um den Kragen, als hätte er bereits eine Sause hinter sich. Tom schaute ihm direkt ins Gesicht, wo über einem vergilbten Schnauzer die Kupferakne blühte. »Keine Ahnung«, antwortete er in aller Ruhe, »Ufos interessieren mich nicht.«

»Ich dachte.«

»Da haste dich wohl geirrt.«

Bielecke grinste auf diese abfällige Art, die dem Gegenüber signalisieren sollte, er wüsste es insgeheim besser. Tom ließ sich von seinem Äußeren und seiner Alkoholfahne nicht täuschen – genauso wie eine kaputte Uhr zweimal täglich die richtige Zeit anzeigte, blitzte unter Bieleckes Gefasel mitunter sein Verstand auf.

»Ich hab gehört, dass der Flughafen noch länger braucht.«

Tom zuckte die Achseln.

»Irgendwelche Rauchmelder funktionieren nicht.«

»Kann sein.«

»Außerdem sind die Türen unbrauchbar.«

»Totaler Unsinn«, murmelte Tom schneller, als ihm lieb war.

»Wie bitte?«

»Nichts.«

»Jedenfalls stimmt irgendwas mit der Betoneinfassung nicht.«

»Ja, kann sein.«

»Die haben anscheinend das falsche Material benutzt.«

»Ist doch alles Fake.«

»Das Material?«

»Nein, deine Infos.«

»Stand so in der Zeitung, schwarz auf weiß.«

»Deswegen ist es nicht automatisch die Wahrheit.«

»Warum sollten sie denn lügen, mein Lieber?«

Bielecke zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und schnaubte den Rauch durch seine Nase über den Tisch. Tom, eine Hand um die Bierflasche, die andere auf dem Oberschenkel, lehnte sich zurück. In der Hoffnung, sich von Bieleckes Gefasel abzulenken, konzentrierte er sich auf die Fliege. Bielecke neigte sich vor und fragte ihn, was man seiner Meinung nach verschleiern wolle.

»Ich hab keine Lust auf das Thema.«

»Echt peinlich für den Standort Deutschland, oder?«

»Alles Fake, alles.«

»Na ja, das kann jeder behaupten.«

»Hör zu«, presste Tom hervor. »Die bauen unterm Flughafen ein Schienennetz. Für den Notfall.«

»Falls die Lokführer streiken?«

Tom war sich unschlüssig, ob der Alte ihn auf die Schippe nahm oder es ernst meinte. Einmal hatte Bielecke mit Patrick eine hitzige Diskussion über das Thema Kondensstreifen geführt, wobei am Ende Tom seinen Bruder hatte beruhigen müssen. Für ihn selbst hatte der Clinch einen besonders bitteren Beigeschmack gehabt, schließlich entsprach Patricks Ansicht, die Regierung würde Chemikalien versprühen, der Wahrheit. Der Einsatz dieser Chemikalien sollte nämlich einen Teil der Bevölkerung unfruchtbar machen; ein Nebeneffekt und gleichzeitig der unleugbare Beweis war das massive Insektensterben. Ohne die Fliege aus den Augen zu verlieren, sagte Tom:

»Nein, im Falle eines atomaren Angriffs.«

»Du meinst, die bauen einen Atombunker?«

»Ja.«

»Clever«, meinte Bielecke, und Tom bemerkte, wie dessen Blick ebenfalls die Fliege anvisierte.

»Stört dich das nicht?«

»Mich? Wieso?«

»Das Ding wird durch deine Steuergelder finanziert. Uns Normalos wird dagegen kein Schutz gewährt, deshalb ist das Projekt auch topsecret.«

Bielecke schwieg.

»Haste dich mal gefragt, weswegen die Amis ausgerechnet hier ihre Fabrik hochziehen wollen und warum ausgerechnet jetzt?«

Bielecke führte seine Zigarette zum Fenster. »In Brandenburg ist das Land eben billig.«

»Schön wär’s«, erwiderte Tom. »Die Preise fürs Bauland steigen enorm, und dass unsere Bürokratie jeden Investor abschreckt, ist allgemein bekannt. Fakt ist: Die Amis können es woanders günstiger und vor allem unkomplizierter haben.«

»Aber niemand arbeitet so präzise wie wir.«

»Wer soll das sein? Wir?«

»Na, die Deutschen.«

»Hat dir das dein Opa erzählt? Guck mal in die Fabriken: Polen und Rumänen am Fließband, Inder am Computer.«

Bielecke ließ seine Zigarette über der Fliege kreisen, brachte dem Insekt offenbar mehr Interesse entgegen als den Geheimplänen der Regierung. Tom fühlte sich außerstande, das Thema abzubrechen. »Die Gigafactory und der Flughafen«, erklärte er, »werden binnen zwei Jahren eröffnet.«

»Wird ja auch Zeit.«

»Das müsste dich eigentlich aufhorchen lassen.«

»Warum?«

»Rat mal, wer die Züge fürs Schienennetz baut.«

»Die Amis?«

»Und wer bekommt ein sicheres Plätzchen im Bunker?«

Bielecke hob kommentarlos die Brauen, dann streifte er mit der Zigarettenspitze die Fliege. In voller Absicht. Das Tier entflammte, krabbelte jedoch weiter, bis es von der Fensterscheibe abhob und sich wie ein Partikel glühender Asche im Halbdunkel auflöste. Tom starrte über die anderen Gäste hinweg, suchte ein letztes Anzeichen für den Verbleib der Fliege. Nichts. Nur der Qualm der Zigaretten, das Licht des Kronleuchters, die bunten Girlanden und Hüte, dazwischen Gebrabbel und Gelächter und ein Discohit aus den 70ern.

Da öffnete sich die Eingangstür und sein Bruder kam hereingeschossen, als sei der Teufel hinter ihm her. An seinem Gesicht erkannte Tom, dass er in seinem eigenen Tunnel unterwegs war; unter den eng stehenden Augen schimmerten Patricks Nasenflügel in einem hellen Rot und blähten sich bei jedem Atemzug. Er streckte beide Arme hoch, krakeelte: »Leute, Leute!«, und sämtliche Gäste schauten zu ihm. »Er kommt!«

»Das Geburtstagskind!«, rief Erika aufgeregt. »Alle auf ihre Plätze!«

Vom Tresen dröhnte ein poppiges Geburtstagslied herüber, bis Erika ihren Mann aufforderte, den Song erst anzuschmeißen, wenn Jannes durch die Tür kam. Zusammen mit der Musik verstummte auch das letzte Geflüster, und eine erwartungsvolle Stille erfüllte den Raum. Die Tür öffnete sich, und das Lied erscholl laut und übersteuert, und in der Kneipe erschien August Brehm. Der Lehrer, der Pflanzenfreund. Unter der Musik und dem Raunen der Gäste explodierte Patricks Gelächter.

Tiny Dancer

Yvonne Schauder saß auf ihrem Stammplatz: Christian gegenüber, direkt unter dem Kronleuchter, möglichst entfernt von der Toilette. Sie hatte keine Lust, am Ende des Abends Bielecke beim Reihern zu hören oder Franks Fluchen, sobald er die Bescherung entdeckt hatte; außerdem behielt sie so genügend Abstand zum Fenster, wo die Gebrüder Kowalski unter ihren Papierhüten grimmig dreinschauten. Yvonne ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Patrick Kowalski wegen einer Lappalie einen Streit anzettelte.

»Ich hab mit weniger Gästen gerechnet«, bemerkte sie.

»Hallo-o«, murmelte Christian. »Es gibt Freibier.«

»Wer hat das gesagt?«

»Frank höchstpersönlich.«

Ihr Mann umfasste mit einer Hand sein Bierglas, während er mit der anderen sein Smartphone bediente. Seit er sich einen Fußball-Ticker heruntergeladen hatte, hing er ständig am Handy und verglich Tabellen und Punktestände. Die schmerzlichste aller Wahrheiten lautete wohl: Auf der Welt wurde immer irgendwo Fußball gespielt.

»Weißt du, wann Jannes kommt?«

»Keine Ahnung.«

»Habt ihr nicht telefoniert?«

»Ja, und?«

»Hat er nichts gesagt?«

»Ich denke, die Party soll ’ne Überraschung sein?«

»Ist ja kein Grund, ihn nicht vorzuwarnen.«

»Ich will mir Ärger mit seiner Alten ersparen.«

»Seit wann bist du so zimperlich?«

Er schüttelte den Kopf, doch wusste sie nicht, ob es der Frage oder dem Ergebnis eines Spiels geschuldet war. Er trug seine kakifarbene Armeehose und ein Poloshirt, das seine muskulösen Oberarme betonte. Selbst im staubigen Licht des Kronleuchters strahlte sein Gesicht vor Reinheit, als wäre er das 40-Plus-Modell einer Kosmetikfirma. 20 Jahre hatte Christian in einer Autoreparatur malocht, war jeden Tag mit öligen Fingern und Haaren heimgekommen, und jetzt – ein halbes Jahr ohne Job – schloss er sich morgens im Bad ein, um es erst wieder gestriegelt und rasiert zu verlassen. Yvonne hoffte, er würde in der neuen Fabrik eine Anstellung finden, auch wenn ihn E-Autos in etwa genauso ins Schwärmen brachten wie der Abstieg seines Lieblingsvereins.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Klar, was soll denn sein?«

»Ich dachte nur …« Sie stockte. »Ach, egal.«

Sie schielte zum Fenster hinüber, wo die Gebrüder Kowalski beisammenhockten, als heckten sie neue Streiche aus. Ja, musste sie sich eingestehen, Patricks Verarsche war nicht übel gewesen, und ja, die fassungslosen Gesichter der anderen hatten sie amüsiert. Aber das rechtfertigte nicht sein Verhalten, im Gegenteil: In Yvonne nährte es lediglich die Sorge, seine Aktion wäre ein Vorgeschmack auf den Rest des Abends gewesen.

Sie klemmte den rechten Fuß hinter das Stuhlbein und ließ den linken zum Takt von Elton Johns »Tiny Dancer« wippen. Christian saß ihr unverändert gegenüber: ein Bein aufs andere gewinkelt, das Handy stets im Blick. Insgeheim beneidete sie ihn um seine stoische Ruhe. An jedem x-beliebigen Ort gelang es ihm, die Welt auf ein Detail zu verkleinern – ein Fußballspiel, eine Tabelle oder zwei Zahlen, die von einem Doppelpunkt getrennt wurden. Sie leerte ihr Glas und teilte ihm mit, sie würde sich Nachschub besorgen.

Keine Reaktion seinerseits.

»Ich verdrück mich mit Frank aufs Klo.«

»Was ist los?«

»Ach, egal.«

Indem sie demonstrativ zur Bar zeigte, nötigte sie ihm immerhin ein Nicken ab. Dann durchquerte sie, von sanften Gitarrenakkorden begleitet, die Kneipe und rutschte auf einen Barhocker. Frank hielt hinterm Tresen wacker die Stellung. Unter seiner Schirmmütze leuchtete eine rosarote Brille, und während er Knabberzeug in ein Schälchen füllte, lauschte er dem Gespräch einiger Gäste. Erika nahm ihr das leere Glas ab und erkundigte sich, wo sie so lange geblieben sei.

»Ich wollte erst mal ankommen«, rechtfertigte sich Yvonne.

»Und Christian bewacht den Tisch, oder was?«

»Wohl eher sein Smartphone.«

»Frank hasst die Dinger.«

»Ist nicht dein Ernst?«

»Ja, und Tablets auch.«

»Finde ich klasse.«

»Klasse? Vorsintflutlich nenne ich das.«

Erika reichte ihr das randvolle Sektglas und fragte mit Blick auf Christian, ob alles in Ordnung sei. Yvonne wandte sich um und erkannte sofort, was Erika zu der Frage bewogen hatte. Obgleich er nicht aufschaute, waren seine geröteten Wangen und seine gefurchte Stirn unverkennbar, ein Gesicht, das einer zusammengeballten Faust glich. Auch nach 15 Jahren Beziehung samt Haus und Kind waren ihr seine Launen ein Rätsel. Manchmal schlief Yvonne in der Annahme ein, sein Frust habe ihr gegolten, um am nächsten Morgen zu erfahren, dass ihm irgendein Spielergebnis die Laune verdorben hatte.

»Was soll ich sagen«, antwortete Yvonne. »Das Übliche.«

»Fußball?«

»Nachm Aufstehen, vorm Einschlafen, überall. Dem Handy sei Dank.«

»Schon mit handyfreier Zeit versucht?«

»Das würde nur Gezeter geben.«

»Lass es drauf ankommen.«

»Dann hab ich zwei bockige Jungs zu Hause.«

Erika rollte mit den Augen, bevor sie drei Bier aus dem Kühlschrank holte und ein paar Bekannte bediente. Yvonne waren die Männer, die sich um den Tresen geschart hatten, allesamt vertraut: links Bruno Vogler, der Christian die Fußball-App empfohlen hatte; daneben René Berkholz, der während des Gesprächs immer wieder die Zeit fand, den Refrain eines Songs mitzugrölen, und Wolfgang Bielecke, dem garantiert längst das Hausverbot drohte. Inmitten der Gruppe, doch wegen seiner Größe leicht zu übersehen, griente August Brehm, den alle nur den »Lehrer« nannten. Frank neigte sich über den Tresen und fragte ihn:

»Und diese Pflanze ist ausgestorben?«

»War«, sagte August. »Bis ich sie gefunden habe.«

»Ist ja unglaublich.«

Der Lehrer lächelte breit. Über einem Karohemd trug er eine Weste, dazu eine abgewetzte Cordhose; an einigen Stellen sträubten sich seine Haare, als wäre er geradewegs aus der Wildnis zur Feier eingekehrt. August Brehm umgab die Aura eines Abenteurers.

»Eine neue Pflanze?«, sagte Frank. »Hier bei uns?«

»Eigentlich eine alte.«

»Bestimmt findest du bald ’nen Dino.«

August lachte und bestellte ein Bier. Yvonne tippte Erika an den Ellbogen, wollte wissen, was da im Gange sei, worauf ihre Freundin ein lässiges Schulterzucken präsentierte.

»Sieht unserem Lehrer gar nicht ähnlich.«

»Was meinst du?«

»Sich so in den Mittelpunkt zu stellen.«

»Tja, jeder hat seine 15 Minuten.«

»Ich hab nicht mal erwartet, dass er kommt.«

»Wieso nicht?«

»Irgendwie passt er hier nicht rein.«

Erika lachte. »Hast wohl ’n Auge auf ihn geworfen?«

Yvonne antwortete, er sei für ihren Geschmack zu weichgespült. »Ich brauch Typen, die anpacken können.«

»So wie deiner?«

Erika nickte über den Tresen hinweg. Unter dem trüben Schein des Kronleuchters glich Christian einem Komiker, der sein Publikum gleich mit zotigen Anekdoten zu amüsieren hoffte. Erika winkte nach ihm, und als er nicht von seinem Handy aufschaute, griff sie aus dem Kühlfach den Wodka und drückte Frank die Flasche an die Brust.

»Hat dein Unkraut auch ’nen Namen?«, fragte René Berkholz.

»Silene tenebre«, sagte der Lehrer ruhig.

»Was?«

»Silene tenebre.«

»Klugscheißen kannste in der Schule«, lachte Bruno Vogler.

»Sorry, bin auf Lebenszeit beurlaubt.«

»Beamter müsste man sein.«

»Silene tenebre bedeutet Dunkelblüte.«

»Dann ist dein Kraut bei uns ja bestens aufgehoben.« Renés Gelächter fand in der Runde ein gehöriges Echo; selbst August stieg mit ein, als könne ihn niemand seines Glückes berauben.

Frank reihte sechs Schnapsgläser aneinander, musterte die Runde und seufzte. Mittlerweile hatte sich um Bielecke, Berkholz und den Lehrer ein Pulk gebildet, und die Faszination für irgendein Pflänzchen übertönte die gesamte Bar, sogar die Musik aus dem Radio kapitulierte vor Renés schrillem Organ.

»Wo haste dein Kraut denn gefunden?«

»Draußen, Heide West.«

»Also auf Lewins Brache?«

»Fast«, erwiderte der Lehrer. »An der Lichtung zum Kiefernwald.«

Frank öffnete den Wodka, füllte die Gläser und verkündete eine Runde aufs Haus. Kaum hatte er ausgesprochen, drängten sich René Berkholz und Wolfgang Bielecke gegen den Tresen.

»Wir reißen uns heute zusammen«, ermahnte Frank den Alten.

»Genau, Wolfgang«, lachte Berkholz.

»Und du auch.«

»Keine Sorge, Chef.«

»Okay, das gilt übrigens für euch alle.«

Ein Raunen, kollektiv und wohlwollend, erfüllte den Raum. Der erste Schluck gebühre dem edlen Spender, rief Erika, und die Meute wandte sich zu Christian um. Yvonne schwankte zwischen der Genugtuung, weil es ihm nun unmöglich war, sich in seine Welt zu verkriechen, und einem Gefühl der Scham. Erika schob eine Hand auf die ihre und blinzelte ihr komplizenhaft zu.

Wider Erwarten erhob sich Christian, und mit jedem Schritt in Richtung Bar schien sich sein Gesicht weiter zu entspannen; schließlich legte der Mann, mit dem sie gemeinsam das Tattoostudio besuchte, der trotz seiner Abneigung für E-Autos einen Job in der Fabrik anstrebte, der bis in den Abend hinein am Haus werkelte, einen Arm um sie. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Arm und schob ihm eines der Gläser hin.

In feinster Eintracht wurden die Schnapsgläser gehoben; dann bat Frank erneut darum, dass sich alle zusammenreißen sollten, immerhin feiere man heute einen Geburtstag. »Hey, August«, sagte er heiter. »Da musste dein Kraut aber schnell pflücken, wenn nächstes Jahr der Wald gerodet wird.«

»Ich denke, das hat sich erst mal erledigt«, entgegnete der Lehrer.

»Lass deswegen bloß den Kopf nicht hängen.«

»Frank, er hat von der Fabrik gesprochen«, fuhr Christian ihn an, und Yvonne sah, wie das Gesicht ihres Mannes zur Faust wurde.

Happy Birthday

Jannes Krüger musste keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um von der Feier zu erfahren: Seine Frau hatte es ihm auf höchst subtile Weise gesteckt: »Zieh dich bloß ordentlich an«, hatte sie geschimpft. »Schließlich kommen alle nur deinetwegen.«

In seinen Ohren hatte ihre Ankündigung wie ein Schuldspruch geklungen. Seinetwegen betreibe man den ganzen Aufwand, seinetwegen mache sie sich extra schick. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er seinen Geburtstag lieber vor dem Fernseher verbracht oder auf dem Dachboden zwischen seinen Büchern und Zeitschriften.

»Augen zu«, sagte Lotte vor Lewins Kneipe.

Verstohlen linste Jannes auf die andere Straßenseite. In dem Haus schräg gegenüber wohnte Pawel Mitschek. Mit Sicherheit hockte er hinter der Gardine und beobachtete ihn und seine Frau; zweifellos war er einer der wenigen, die man wohl nicht zur Feier eingeladen hatte. Obwohl er diesen Mitschek kaum kannte, war ihm das Theater mit seiner Frau peinlich.

»Lotte«, protestierte Jannes. »Ich will nicht.«

»Komm, stell dich nicht so an.«

»Ich weiß doch längst Bescheid.«

»Umso besser. Dann kannst du nichts vermasseln.«

Durch die Eingangstür drangen Stimmen und das Gewummer lauter Musik. Garantiert lauerte jemand am Fenster, damit seine Ankunft nicht unbemerkt blieb. Um den Hergang der nächsten Minuten zu erahnen, musste Jannes ebenso wenig Hellsehen können: Er würde mit geschlossenen Augen die Kneipe betreten und aus den Boxen würden irgendwelche Geburtstagslieder dröhnen; die Meute würde mitsingen, lautstark, schief und angetrunken.

Lotte stellte sich hinter ihn, schirmte ihm beide Augen ab, und er dachte an seine stille Dachkammer. Sie probierte, ihm die Augen zuzuhalten und gleichzeitig die Klinke zu drücken, bis sie schließlich aufgab und ihm sagte, er solle selbst die Tür öffnen.

»Tut mir leid, ich seh nichts.«

»Stell dich nicht so an.«

»Zu Befehl«, seufzte Jannes und ertastete blind die Klinke.

Nachdem sie gemeinsam über die Schwelle getippelt waren, er voran, Lotte hinterher, verblasste sein Widerwillen unter dem Gefühl, geradewegs in eine große Peinlichkeit zu schlittern. Im Dunkeln unter Lottes Händen erschienen ihm die Bilder abendlicher TV-Shows: Ein Mann beichtet einer Frau seine Liebe vor laufender Kamera, dazu schmalzige Musik und ein Korb voller Rosen. Oder eine Szene aus »Verstehen Sie Spaß?«, die er nie hatte vergessen können: Ein ahnungsloses Opfer sucht eine öffentliche Toilette auf, um beim Verlassen von einem applaudierenden Publikum begrüßt zu werden. Zunächst hatte ihn die Fremdscham vor dem Fernseher erwischt, dann auf Arbeit, als die Sendung bei den Kolleginnen Thema gewesen war.

Lotte nahm die Hände von seinem Gesicht, doch anders als erwartet empfing ihn weder ein Geburtstagsständchen noch der Jubel der Kuxwinkler, kein »Happy Birthday«, kein »Hoch soll er leben«. Mit Ausnahme der Gebrüder Kowalski belagerten sämtliche Gäste den Tresen. Christian Schauder redete auf jemanden ein, dessen Gestalt von der Runde verdeckt wurde. Zwei Dorfbewohner, die Jannes seit Monaten nicht gesehen hatte, gafften entsetzt wie die Zuschauer eines Unfalls. Einige nuckelten stumm an ihren Bierflaschen, andere gestikulierten wild. Schwerer Zigarettenrauch wälzte sich unter dem Kronleuchter hindurch in den Eingangsbereich und brachte Lottes Augen zum Tränen. Gewiss hatte sie sich den Empfang anders vorgestellt, und als er zwischen den Gästen Erikas besorgtes Gesicht entdeckte, dämmerte ihm, dass etwas aus dem Ruder zu laufen drohte.

René Berkholz’ Stimme schallte zu ihm herüber. »Wenn die Naturschützer antanzen, ist alles hin.«

»Leute, Leute«, rief Frank Lewin hinter dem Tresen, »immer mit der Ruhe!«

»Manometer, es geht um unsere Zukunft.«

Erika erklomm einen Hocker und blies so lange in eine Papiertröte, bis die Meute verstummte. »Hey, unser Geburtstagskind ist da.«

Unvermittelt begann Lotte, in die Hände zu klatschen. Jannes’ Mundwinkel sprangen hoch; seine Gesichtsmuskeln wahrten Anstand und Höflichkeit, während sich sein Inneres nach der Dachkammer sehnte. Aus der Anlage lärmte Stevie Wonders »Happy Birthday« und übertönte Lottes Klatschen. Erika und Yvonne Schauder näherten sich ihm, pusteten dabei Luftschlangen umher und präsentierten sich ungeachtet der Situation in Feierlaune.

»Herzlichen Glückwunsch.« Lotte gab ihm einen Kuss und warf eine Handvoll Konfetti über ihn. »Heute ist dein Tag.«

»Noch zwei Jahre!«, brüllte Bielecke. »Dann hast du’s geschafft.«

Der Suffkopf spielte auf seine Rente an. Jannes hatte nie verstanden, weshalb die Leute einem dazu gratulierten, warum sie Dinge sagten wie: Jetzt kannst du endlich machen, was du willst, jetzt fängt das wahre Leben an. Ihm graute vor dem Ruhestand, er wollte weiter seinen Schreibtisch in der AOK-Filiale hüten, wollte fünf Tage die Woche nach Rathenow fahren und mit den Kolleginnen am Kaffeeautomaten schnacken.

»Nur die allerliebsten Glückwünsche, mein Bester.« Erika umarmte ihn und er konnte unter ihrem Parfüm einen Hauch von Schweiß riechen; die Erinnerung, wie er sie vor 30 Jahren am Schwarzen See geküsst hatte, ließ ihn auf Abstand rücken. In der Angst, seine Verlegenheit zu offenbaren, strich er sich das Konfetti aus den Haaren und die Luftschlangen vom Hemd.

»Das habt ihr toll gemacht«, bemerkte er. »Wirklich toll.«

»Bedank dich bei deiner Frau«, entgegnete Erika.

»Das mach ich jeden Tag, immerzu.«

»Schön wär’s«, erwiderte Lotte.

Sie zerrte ihn zum Tresen und sein Lächeln überdauerte die Strecke völlig automatisch. Nachbarn und Bekannte reichten ihm entweder die Hand oder umarmten ihn mit alkoholisierter Innigkeit. Jannes erduldete das alles, und selbst als Erika ihm ein Papierhütchen aufdrängte, schluckte er den Protest hinunter. Frank sagte, er wünsche ihm das ganze Blablabla, schenkte ihm ein breites Grinsen und servierte ihm anschließend ein Bier. Trotz der rosaroten Brille glaubte Jannes, in Franks Augen ein Quäntchen Misstrauen, vielleicht sogar Feindseligkeit zu lesen. Er wich seinem Blick aus und glitt an der Bar entlang, bis er zufällig vor dem Lehrer landete.

»Alles, alles Gute.« August Brehm rieb ihm liebevoll die Schulter. »Für deine Gesundheit und deine Zukunft.«

»Danke, danke.«

»Komm mal vorbei. Ich hab noch ’n paar Astern.«

»Ist es dafür nicht zu spät?«

August lächelte. »Im Herbst pflanzen, im Frühjahr bewundern.«

»Du, Jannes!«, krakeelte René Berkholz dazwischen. »Du bist doch so ’n Paragrafenheini.«

»Kommt drauf an«, erwiderte er.

»Hast du mit Gesetzen zu tun oder nicht?«

»Ja, irgendwie schon.«

»Dann pass mal auf.«

Berkholz stierte ihn auf eine Weise an, die nicht nur ihm, sondern der ganzen Meute die Wichtigkeit der nächsten Frage verdeutlichen sollte. »Also«, begann er, »kann ein Bauvorhaben gestoppt werden, bloß weil man aufm Grundstück ’ne besondere Pflanze findet?«

»Gute Frage.«

»Ist das ’n Ja oder ’n Nein?«

Der Satz war noch nicht verhallt, da spürte er bereits Lottes Finger im Kreuz. Zweifellos wollte sie ihn von dieser Diskussion weglotsen, fort von Berkholz und Bielecke und hin zu ihrer eigenen Sippe, die sich brav an einem Gläschen Likör festhielt. Nein, entschied Jannes. Heute war sein Tag. Diesmal würde er nicht einknicken, und wenn sie ihn schon zu dieser Feier genötigt hatte, sollte sie auch die Konsequenzen tragen.

»1995«, erklärte er, »hat die Großtrappe fast den Bau der ICE-Strecke Berlin–Hannover blockiert.« Er versuchte, sich an den Artikel in der MAZ zu erinnern. »Die Bahn wollte extra einen Tunnel bauen. Für eine Milliarde Euro.«

Das Stöhnen seiner Zuhörer wurde nur von Bieleckes Lachen übertönt; es klang rau und gehässig, und sein gelber Schnauzbart sträubte sich unter seiner Knollennase. Sowie Jannes erneut den Finger seiner Frau im Rücken spürte, fuhr er fort:

»2011 hat ’n Käfer den Bau des Stuttgarter Bahnhofs ausgebremst. Das Projekt lag drei Monate auf Eis.«

»Ein beschissener Käfer?«, fragte Vogler.

»Die Art steht unter Naturschutz.«

»Verdammter Mist.« Frank hatte die rosarote Brille abgelegt, und Jannes registrierte nun ganz deutlich die Feindseligkeit in seinen Augen; jetzt schien sie allerdings jemand anderem zu gelten.

Der Lehrer ergriff das Wort und erklärte den anderen, dass es um ihre Zukunft gehe, um ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Darauf blaffte ihn Christian Schauder an, was er denn über ihre Kinder wisse.

Jannes merkte, wie er langsam aus der Runde gedrängt wurde. Alle Hände waren geschüttelt, alle Wünsche übermittelt, und seine Relevanz hatte sich mit dem kleinen Exkurs in Sachen Artenschutz erschöpft. Er verblieb am äußeren Ende der Bar und beobachtete das hektische Auf und Ab der Papierhüte. Als Patrick Kowalski sich zwischen die anderen Gäste schob, packte ihn Lotte am Arm.

»Da will dir jemand gratulieren.« Sie sprach von ihren Verwandten, die gesittet an einem der hinteren Tische saßen.

»Und warum kommt niemand her?«

»Meine Schwester hat’s mit der Hüfte, das weißt du.«

»Ja«, gab er nach. »Ich trink bloß aus.«

»Ich finde, du solltest die Klappe halten«, sagte Patrick Kowalski zu dem Lehrer. »Du gehörst zu denen, die immer alles besser wissen.«

Frank ermahnte ihn, er möge sich bitte mäßigen, worauf er postwendend mit dem Protest der anderen belegt wurde. Er solle Patrick gefälligst reden lassen. Schließlich sei er einer von ihnen und habe genauso wie der Rest ein Recht auf seine Meinung. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Runde setzte Patrick Kowalski offenbar unter Druck; er starrte den Lehrer an, doch in dessen Gesicht zeichnete sich nur ein leises Bedauern ab. Jannes war sich unklar darüber, ob das Bedauern dem Konflikt oder Patricks Einfalt galt. Ganz gleich, für welche Interpretation sich Jannes letztlich entscheiden würde, Patrick hatte längst sein Urteil gefällt. Er streckte seine Hand nach dem Lehrer aus, und Tom – sein älterer Bruder – preschte ungestüm in die Runde.

1 154,20 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
273 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839269626
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают