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Читать книгу: «Die Kunst der Bestimmung», страница 3

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«Oho!», flötete der Saphirblaue.

«Quel petit insolent!», zirpte der im Lavendelrock.

«Ist dies das rechte Kompliment, Hochwürden», fragte der in Maron, «für unseren Freund Lucius Lawes, den ehrenwerten Earl of Fearnall?»

«So heiße ich.» Das Geschöpf im Goldrock blickte scheu durch seine Finger. «Ich heiße Lucy. Sie hörten nicht, Sir. Ich sagte, ich käme. Ich sagte, Sie sollten fort.»

«Kein Getändel, Mylady», lachte der Herr in Saphir.

«A votre santé», sang der Herr in Lavendel und schlug mit der Weinflasche zu. Chrysanders Kopf traf die Wand. Lucy schrie auf. Chrysander verlor die Besinnung.

Er sah sich den Orbis Pictus lesen, daheim im Pfarrhaus zu Söderfors, das Buch zum Lateinlernen, das Buch über Gottes Welt. Er hörte den Mannesälv rauschen, gleich hinter der Wohnstube, den Fluss, in dem Simon nicht baden durfte, weil sich das nicht schickte für den künftigen Pfarrer von Söderfors. Simon hatte den Orbis Pictus bunt gemalt für seine jüngeren Brüder. Sie saßen bei ihm. Er las ihnen vor. Venatus die Jagd. Praestigia die Gaukelei. Temperantia die Begnügsamkeit. Supplicia Maleficorum der Übeltäter Leibesstrafen. Dann gingen die Brüder fort, nach draußen zum Fluss, um zu baden, denn es war Sommer und man brauchte nur einen Pfarrer in Söderfors. Simon saß allein mit dem Orbis Pictus, dem Buch über Gottes Welt, und er kolorierte es mit Pflaumensaft, mit geraspelter Rinde in Eiklar, mit Messwein und Grasbrei und Blut. Er las Terra die Erde und Lapis der Stein, Flores, Fruges, Frutices, die Binsen, das knotige Schilfrohr, die Holderstaude, der Rosenstock, und draußen floss der Mannesälv mit den Kindern, und Simon las und malte, Geometria die Erdmesskunst, Phases Lunae des Monds Gestalten, und er malte die Weltweisheit blau, und er malte die Fischerei grün, und er malte Aves Rapaces die Raubvögel blutbraun, und mit schwarzer Tinte füllte er die Umrisse der Amphibia, der beidlebigen Tiere, das Krokodil, den gänsfüßigen Biber, den Otter, den quakenden Frosch mit der Kröte, und Sartor der Schneider, und Lintea das Linnen, und die Luft und die Wolke, Getreide und Bäume, Herdenvieh und Lastvieh, Uhrwerke und Fuhrwerke, und Coelum der Himmel und Mundus die Welt. Der Messwein war verschüttet. Der Pflaumensaft aufgebraucht. Die Rinde in Eiklar klumpte, das Blut war geronnen, das Gras auf der Wiese längst braun. Schwarz malte Simon Chrysander den ganzen Orbis Pictus. Der Mannesälv rauschte. Gott der Herr schritt am Ufer und zuckte die Achseln und Gott der Herr sah den Orbis Pictus und zuckte die Achseln, er schalt nicht, sprach nicht, segnete nicht, und er sah nicht, dass es gut war, und er sah nicht, dass es schlecht war, und er sah auch Simon Chrysander nicht über seinem schwarz gemalten Orbis Pictus, und Gott der Herr ging weiter, fort vom Pfarrhaus, fort vom Mannesälv, fort aus Söderfors, fort aus Dalarna, fort aus Schweden und fort aus Mundus, der Welt, und seine Achseln zuckten unaufhörlich, und seine Engel waren um ihn her wie auf den Bildern.

Chrysander schlug die Augen auf. Die Straße war still. Über ihm, mit einem Licht, stand Kauppi.

«Ich will nicht, dass du mir nachkommst», sagte Chrysander. Kauppi half ihm auf die Beine. Chrysander schluckte. Dann übergab er sich. Dann brachte ihn Kauppi nach Hause.

III

«IN GUARDIA!», schrie Vater und band Lucius’ Klinge innerhalb.

Das Gras war grün in Cheshire und der Himmel hing niedrig. Man übte auf dem Feld und nicht im Haus. Auch der Krieg fand im Feld statt und nicht in Häusern. Wenn es regnete, blieb man. Auch der Krieg blieb Krieg, wenn es regnete. Lucius wagte einen schnellen Blick zum Himmel.

«Cavation! Via!», schrie Vater.

Lucius cavierte, Vater cavierte desgleichen, Lucius ging abermals mit der Klinge durch und Vater wiederum, und Lucius cavierte ein fünftes Mal und machte dann die Finte in der Quarta nach Vaters rechter Brust, und Vater ging nach links, und Lucius passierte unter Vaters Rapier und stieß in der Seconda nach Vaters unterem Leib, und Vater griff seine Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Und Lucius cavierte wieder, und Vater cavierte dagegen, und Lucius ging durch und Vater ging wiederum durch, und nach der fünften Cavation und der Quarta nach rechts machte Lucius abermals die Passata sotto, die linke Hand im nassen Gras, und schnell wieder hoch, damit Vater nicht spottet, und dann die Seconda abermals nach der unteren Linie, und wieder griff Vater die Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Die ersten Regentropfen fielen.

«Schlafen Sie, Sir?», schrie Vater. «Via!»

Und Lucius cavierte und Vater ging durch und Lucius ging wiederum durch und dann abermals Vater, und im Haus waren die Schwestern, Maudlin und Barbara, sie hatten Lucius im Türstock gemessen, in nur einem Monat war er gewachsen um die Breite von Maudlins Kamm, sie lachten ihn aus, und Lucius machte die Finte nach rechts und Vater ging nach links und schon fiel mehr Regen, und Lucius bückte sich unter Vaters Klinge, zum dreißigsten Mal, zum vierzigsten Mal, und da war längst ein Abdruck seiner linken Hand im Gras, denn man wich nicht und wirbelte nicht und schlenkerte nicht, sondern hielt die Bahn und hielt die Mensur, sonst war man ein Feigling, und Lucius stieß in der Seconda zu, und Vater griff seine Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Lucius cavierte, und Vater, und Lucius, und Vater wieder, und dann die Quarta, Lucy, sagten die Schwestern, Lucy lernt die Passata seit Wochen, nichts als die Passata, gewiss ist er dumm, denn Vater drillt ihn wie einen Hund, und bald passt er nicht mehr unter Vaters Degen durch, bald ist er ein Riese und kommt auf den Jahrmarkt. Lucy, unser Lucy, die großen Schwestern nannten ihn so, wenn Vater es nicht hörte, und die Mutter hatte ihn so genannt, denn sie zog Töchter vor, denn Töchter lebten, Söhne kamen meist tot zur Welt, Töchter waren besser. Lucy, sagte die Mutter zu ihrem Sohn und dann starb sie selbst, und Lucius nannte sich selbst Lucy, wenn keiner es hörte, denn Mädchen müssen nicht fechten und Mädchen wachsen nicht so. Lucy, dachte Lucius, blamier dich nicht, und Vater ging nach links, und Lucius machte die Passata sotto und ging in die Seconda, glatt und geschmeidig wie Vater, und Vater griff seine Klinge.

«Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

Der Regen fiel stärker und Lucius cavierte, und Vater cavierte, und Lucius ging wieder durch, und Vater ging wieder durch, und der Regen wurde dunkel und das Gras immer grüner, ein tiefer See, und Lucy machte die Finte mit der Quarta, und er schwamm, ein Fisch mit Rapier, «via!», schrie Vater, und Lucy passierte unter Vaters Klinge davon auf Nimmerwiedersehen, eine Muschel, die versank, und ein Wasservogel, der davonflog, und Vater schrie «via!» und Lucy flog, und er wurde eine Spottdrossel und ein Papagei und ein gefiederter Drache und eine rote Taube, und Vater machte die Primeinladung und stieß mit der Quarta zu und stieß wiederum mit der Quarta zu und fluchte, denn er stieß ins Leere, denn Lucy war ein Vogel, und er stieß abermals ins Leere, denn Lucy war ein Fisch, und dann wurde er eine Wolke und dann wurde er Wasser und dann wurde er Luft, und Vater stieß zu, und Lucy wandelte sich, glatt und geschmeidig wie lauter vollendete Kreisfinten, vom Fisch zur Muschel zum Vogel zum Wasser zur Wolke, wie Proteus, der Meergott, der die Gestalten wechselt wie das Kleid, den keiner zu halten vermag, denn seit Lucius Lawes so schrecklich gewachsen war, wollte er werden wie Proteus und längst nicht mehr werden wie Vater.

Lucius erwachte. Er fror. Das Bettzeug war klamm. Er schloss die Augen und versuchte zu verschwinden. Er versuchte das öfters. Gelungen war es ihm noch nie. Statt zu verschwinden, stahl sich der Earl of Fearnall leise aus Bett und Zimmer.

Er hatte nichts an. Er fand ein Hemd in seinem Ankleidezimmer, keine Hose, keinen Morgenmantel, nur zwei Strümpfe. Irgendwo gedämpfte Stimmen, Personal vielleicht, oder die Orangenfrau, oder der Mann mit den Spitzen, der jeden Morgen kam, oder sogar Besuch – Lucius rannte nackt von Zimmer zu Zimmer, bog ab, bog wieder ab, fort von den Stimmen, ihn schwindelte, er stolperte über die Schwelle einer Kammer, schlug die Tür zu und kauerte sich in eine Ecke. Hier verwahrte er sein Schwarzpulver. Hierher folgte ihm niemand ohne Befehl. Lucius steckte den Kopf in die zerknitterte Wäsche, die er unterwegs gefunden hatte, kniff die Augen zu und versuchte wieder einzuschlafen.

«In guardia!», schrie Vater. «Quartflankonade und Kreisstoß! Via!»

Lucius entschied sich gegen den Schlaf. Er versuchte sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Lucius hatte viel getrunken, mehr als einen verschwommenen Kummer bekam er nicht zu fassen. Der Kummer schien ihm ein Schmerz der Liebe, der Nachhall eines misslungenen Rendezvous. Vielleicht war er bei einer Frau gewesen. Vielleicht war etwas nicht gut gegangen mit dieser Frau. Womöglich hatte Lucius dies oder jenes verwechselt, das Spiel für die eine Freundin mit dem Spiel für die andere, womöglich die Masken vertauscht, vermischt oder irrtümlich abgelegt, eine Verwandlung falsch begonnen. Selten unterliefen Lucius solche Fehler. Manchmal geschah es doch. In vielen Gestalten erschien Lucius Lawes, um seine Freundinnen zu unterhalten. Er kam als Verliebter oder Libertin, als Spieler oder Spielzeug, Verführer oder Verführter, als Philosoph zuweilen, der etwas von Freiheit versteht, als Unschuld vom Lande, die es zu verderben gilt, und auch als Verrückter, dessen Grillen die Sinneslust heilt, und hier und da, in besonderen Fällen, als Beförderer der empirischen Wissenschaft, dem die Liebe nichts anderes ist als ein Experiment zu den Gesetzen von Stoß und Wirkung. Das Repertoire war umfangreich. Eine Verwechslung wäre verzeihlich. Vielleicht hatte Lucius jemanden enttäuscht. Sein Kummer wuchs. Sein Gedächtnis blieb gelähmt. Lucius roch traurig an seiner Schulter. Manchmal belebte ein fremder Duft die Erinnerung, doch heute roch Lucius nur nach Schlaf. Ein Faden war gerissen im farbenreichen Gewebe des Earl of Fearnall und die verlorenen Enden passten nicht mehr zusammen.

Lucius streifte das Hemd über den Kopf. Dann zog er den rechten Strumpf an. Den linken vergaß er, noch während er ihn krempelte. Reglos saß er auf dem kalten Boden, das Hemd um die Schultern, die Arme und alles Weitere nackt, nur das rechte Bein und die rechte Hand jeweils bekleidet mit einem schönen taubenblauen Strumpf. Lucius’ Haar war wirr, seine Miene leer, der Kopf freudlos betrunken vom Wein und vom Träumen. Das gestrige Spiel war vergessen. Ein neues Spiel fiel ihm nicht ein. Und wenn Lucius Lawes kein Spiel einfiel, konnte er sich nicht bewegen.

Allmählich und zunehmend unbehaglich spürte er jenen inwendigen Druck, den er oft empfand, am Morgen vor allem, doch auch sonst in wehrlosen Minuten. Er konnte den Druck nicht benennen; es fühlte sich an, als sei etwas in seinem Körper gefangen, zu viel von etwas, das anschwoll und hinauswollte und den Weg nicht fand. Lucius wünschte, er hätte Brandy, um dieses Gefühl zu betäuben, doch es gab keinen Brandy in dieser Kammer, es gab nur Schwarzpulver und Natron und Soda und Antimon, Lapis Solaris und Lapis Infernalis, Auripigment vielleicht und ein wenig Knallgold, falls noch welches übrig war und nicht schon alles verpufft. Lucius übte sich mitunter in der leuchtenden Chemie. Von Zeit zu Zeit besuchte er eine Sitzung der Royal Society und führte dort Detonationen vor, bebrillt, zerstreut und im mausgrauen Rock. Jetzt stand ihm der Sinn nur nach Brandy. Mühsam zwang er sich aufzustehen. Er fand keinen Brandy. Er fand nur einen Dolch. Den nahm er mit in seine Ecke.

Lucius kannte den Dolch nicht. Er zog ihn aus der Scheide. Er war spitz und scharf, der Griff aus Eisenbändern geflochten wie ein kleiner Käfig, obenauf ein Kreuz. Er sah aus, als gehöre er Sir Lancelot, der damit Bären stach, weil ihm ein Speer zu bequem war. Lucius betrachtete den Dolch lange. Er sah Sir Lancelot reiten durch karstiges Land, ohne Schwert, ohne Rüstung, barhaupt, mit flatterndem Haar, weil er büßte oder prahlte oder vom Wahnsinn geschlagen war, und er hatte nur diesen Dolch, und erst kam ein Wolf, den Sir Lancelot stach, und dann kam ein Eber, den stach er auch, und dann kam ein Bär, ein Drache, ein siebenköpfiger Löwe ... Lucius blinzelte. Er erinnerte sich, der Dolch gehörte dem Schweden, die Herren hatten ihn ihm gestern fortgenommen in Mutter Bushells Hurenhaus.

Dies war das misslungene Spiel. Im Theater mit den Herren, Kleopatra, und ein Handkuss für den König, und dann hinaus in die Nacht. Lucius hatte den Goldrock getragen. Dies war sein Kostüm fürs Theater und für das Spiel namens «die Lustbarkeiten des verwilderten Lords». Er spielte es selten. Es strengte ihn an. Es galt, durch die Stadt zu ziehen, mit den Freunden, die sonst keine Freunde waren, und Unheil anzurichten, wo immer sich die Gelegenheit ergab. Man musste Steine werfen und Leute erschrecken und mancherlei tun, um die Nachtwächter aufzubringen, bis sie einen mit gesenkter Pike verfolgten, und schließlich, bevor man einkehrte und sich sehr betrank, galt es auch stets, ein Opfer zu finden, das die Freunde prügeln konnten aus diesem oder jenem Grund. Lucius im Goldrock spielte hier meistens den Köder. Gestern hatte er sich als gefallenes Mädchen verkleidet, eine neue Maske, die sich gut anfühlte und ihm wohl auch gut stand. Dann hatten die Gentlemen den gefoppten Kunden verbläut. Die Szene war falsch gewesen. Lucius hatte schlecht gespielt. Der Kunde hatte ebenfalls schlecht gespielt. Der Kunde war kein Kunde gewesen, Lucius war keine Hure gewesen, nur die Freunde hatten getan, was im Libretto stand, gelacht, geschlagen, getreten. Ich mag Euch. Lieber Herr. Nennt mich Lucy. «Gottverdammt, süßer Jesus», flüsterte Lucius, «die schwarze Pest soll mich fressen!»

Er drehte den Dolch des Schweden in den Händen. Er strich über die Schärfe. Er befühlte das kleine Kreuz. Ihr habt mein Herz entflammt. So sagt man doch in den Romanen? Lucius berührte die Klinge vorsichtig mit den Lippen. Der Druck in seinem Körper nahm zu. Er könnte nach einem Arzt schicken. Dazu müsste er rufen. Lucius konnte nicht rufen, und er sah auch den Nutzen nicht ein. Der Arzt würde ihm Senneswasser geben und Ratschläge und vielleicht eine Ader schlagen. Er würde Patient sein müssen, um mit dem Arzt zu sprechen. Eben war er kein Patient. Er war gar nichts, nackt und benommen, ein Wesen namens Lucy, das es eigentlich nicht gab. Es vermochte nicht viel, das Wesen namens Lucy. Eine Ader zu schlagen verstand es jedoch wohl.

Lucy fand eine Küvette und trug sie in seine Ecke. Dann löste er den Strumpf von der Rechten und band damit den linken Arm ab. Seine Adern traten schön hervor, oft geschlagene Adern, stets hinlänglich verheilt. Er nahm den Dolch des Schweden, machte einen Schnitt und lockerte langsam die Stauung.

Er blutete gut. Die Schleuse war geöffnet, das Wasser konnte zu Tal, das Gefangene ging frei davon und musste nicht mehr drücken. Lucy legte den Kopf schief und sah seinem Blut zu, wie es in die Küvette floss, gleichmäßig und friedlich und ohne einen Laut. Er wurde matt und weich. Der Druck schwand, und die Träume der Nacht und der Wunsch nach der schwarzen Pest. Er ließ sich gründlich zur Ader. Bald fielen seine Augen zu. Er sah Sir Lancelot reiten, er sah grüne Wiesen, er hörte den Schweden, Lucy, du bist ein gutes Kind, und dann sah er den Schweden, seine Hände so freundlich in Lucys Haar, und er hörte ihn wiederum reden, du hast einen Wirrkopf, mein Kind, und abermals, ganz leise, Missgeburt, Wechselbalg, Monstrum, und all dies waren nur Kosenamen, wenn das Blut so tröstlich floss, und Sir Lancelot ritt, eine Dame vor sich im Sattel, Ihr entflammt mein Herz, schöne Lady, sagte Sir Lancelot und ritt über die Wiesen von Cheshire.

Irgendwann griff Lucy traumverloren in seine Wunde und drückte die Ader ab. Dann nahm er den linken Strumpf und verband sich. Einen Augenblick gab er sich noch, still in die Ecke geschmiegt; dann zog er das Hemd an und den rechten Strumpf aus, nahm den Dolch und stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hielt sich an der Wand. Der Dolch war blutig, er wischte ihn ab, er wollte ihn behalten.

«In guardia», flüsterte Lucy. Lord Fearnall begann seinen Tag und schrie aus vollem Hals nach seinen Dienern.

Lucius Lawes trank eine Tasse Schokolade und ein Glas Brandy, dann legte er sein Muttergottesamulett um, schwärzte seine Brauen mit Kohle, wählte eine dunkle Perücke und einen altmodischen schwarzen Rock von annähernd spanischer Machart und fuhr, wie jeden Sonntag, mit der Mietkutsche zur katholischen Messe.

Erst vor kurzem, als in London die Rede ging, die Jesuiten wollten dem König ans Leben, war Lord Fearnall heimlich konvertiert. Nun war er Papist und schloss in der Kutsche eigenhändig die Fensterläden, wie es sich schickte für eine solche Reise. Sein Ziel lag in Southwark, jenseits der Themse. Dort sah es aus, als wüte noch immer die Pest. Es gab genügend katholische Messen in London, aber keine schätzte Lucius so wie diese. Sie erinnerte ihn an das Schafott, das die Whigs wohl in Kürze für die Papisten aufrichten würden, einen riesigen Galgen mitten im Tower, wo die Verurteilten störrisch das Sanctus sängen, bis ihnen der Strick den Atem nahm. Lucius mochte diese Vorstellung und schmückte sie immer weiter aus. Damit vertrieb er sich die Zeit, wenn er im spanischen Wams nach Southwark fuhr, die silberne Schmerzensmutter kühl auf der bloßen Haut.

Bis zur London Bridge träumte er vom Martertod. Über dem Wasser verblasste dieses Bild. Am Südufer stimmte er sich ein auf die Pracht des Christe eleison, während der Kutscher, wie geheißen, die düstersten Gassen nahm. Als Lucius schließlich ausstieg, war er heilig und kalt und verworfen wie das ewige Rom und der Papst höchstselbst, der die Frevler ins Feuer stößt wie einst Kaiser Nero die Christen.

Die Katholiken von Southwark trafen sich in einem Hinterhaus, grimmige Menschen, die in einer klammen Kapelle einem irischen Priester lauschten, der auf Lateinisch lamentierte. Lucius hieß Don Hieronimo in diesem Kreis. Niemand glaubte es ihm, aber man schätzte seinen Beitrag zur Kollekte. Don Hieronimo nahm Weihwasser. Er küsste seine Fingerspitzen und schlug einige vertrackte Kreuze, wie dies die Sitte war in seiner spanischen Heimat. Asperges me, Domine, hyssopo, et mundabor. Ein Zauberspruch.

Lucius’ Latein war nicht das beste. Er zählte die Bekreuzungen des Priesters. Zweiundfünfzig würden es sein, bis die Messe vorüber war, wenn er nichts versäumte. Lucius fiel auf die Knie und verharrte so, als Einziger. Et clamor meus ad te veniat, Domine. Don Hieronimo verbarg das Gesicht in den Händen und vergoss ein paar Tränen, vielleicht für seine untreue Frau in Kastilien, die er eigenhändig erstochen hatte, vielleicht für seine Brüder und Vettern, die am fernen Amazonas den Pfeilen der Wilden erlagen, vielleicht auch für einen verbläuten Professor und die vielen Sünden des Lucius Lawes. Er tupfte vorsichtig seine Augen, um den Kohlestift nicht zu verschmieren, dann blickte er auf und wartete auf die Wandlung.

Seit er den Katholiken von Southwark eine Dose Weihrauch geschenkt hatte, beglückte ihn das Opfer besonders. Während der Priester Wasser und Wein vermischte, mischte Lucius Spanien mit dem Rom der Alten. Bald sah er sich im Morgennebel auf dem Kapitol der Venus Genetrix opfern, Lucius Sulla in jungen Jahren, als er noch wild war und sittenlos, mit blauen Augen und so vielen Sommersprossen, dass die Spötter den Vers auf ihn machten, «Sulla ist gesprenkelt gleich einer mehlbestäubten Maulbeere», wie Plutarch erzählt. Sic fiat sacrificium nostrum, sagte der Priester zu Gott und Lucius zur schaumgeborenen Venus, und er opferte ihr, statt der Hostie, einen Granatapfel und eine Taube und bat um Glück in der Liebe, mit der Dame Nicopolis und dem Knaben Metrobius, die ihm beide gewogen waren; denn auch dies verschwieg Plutarch nicht. Erst beim Sanctus verblasste das Kapitol. Lucius rückte seine Toga zurecht und sprach ein stilles Gebet für Gott den Allmächtigen. Er bat um Vergebung. Gott vergab ihm. Ich schuf dich mit schwärmendem Geist, sprach Gott, sei ohne Sorge, Lucy mein Sohn. Lord Fearnall verbeugte sich tief vor dem Altar. Dann verließ er eilig die Kapelle und sprang in die Kutsche, denn sein Zeitplan war, wie immer, äußerst gedrängt.

Als er nach Hause kam, warteten schon zwei Diener darauf, ihn umzukleiden. Die Hoftracht war steif und schwer. Lucius stand wie eine Puppe, die Beine gespreizt, die Arme ausgestreckt, dass man auch alles recht in Form bringen konnte. Er trug Pfirsich und Ocker an diesem Sonntag und venetianerrote Borten, die Spitzen in Creme, Bänder und Rosetten schwarz wie die Nacht, dazu die braune Perücke, den hübschen Degen, der nichts taugte, und den Hut mit den blassgelben Flaumfedern eines Riesenvogels aus Übersee. Don Hieronimos Augenbrauen wurden abgewischt. Lucius trank ein Glas Brandy, ließ sich die Wangen pudern, dann stieg er in die Schuhe und in seine eigene Kutsche, vierspännig, mit Glasfenstern, schwarz wie ein Leichenwagen. Er saß gebückt bis Whitehall, um die Federn auf seinem Hut nicht zu stauchen.

Lord Fearnall wartete dem König in dessen privaten Gemächern auf. Er teilte dieses Amt mit mehreren Dutzend Damen und Herren. «Nun, Lucius?», fragte der König. Lucius verneigte sich. Er stand in der Gunst des Königs dank Vaters Heldentaten. Einst war Vater ein einfacher Soldat gewesen. Dann wurde er General. Er schlug die Feinde der Krone aufs Haupt, Schotten, Rundköpfe, Holländer und was sich sonst noch tummelte an bösartigem Gesindel. So wurde George Lawes der erste Earl of Fearnall. Dann starb er. So wurde Lucius der zweite Earl, fünfzehnjährig, wortkarg, der beste Fechter von Cheshire. Der König hatte George Lawes’ drei Waisen damals nach Whitehall geholt, um die Töchter alles und den Sohn noch etwas anderes als den Umgang mit dem Rapier zu lehren, und seit dieser Zeit betrachtete er Lucius, der nun volljährig war und Mitglied des House of Lords, stets mit freundlichem Interesse.

Lucius erhob sich geschmeidig aus der Reverenz. Er wartete, welches Spiel Charles II. befehlen würde. Manchmal wollte er, dass Lucius den Prüfling spielte: ob die Erziehung in Whitehall auch schöne Früchte trug. Manchmal wünschte er Unterhaltung, ernste, schlüpfrige, alberne, chemische, je nach Laune und Augenblick. Zuweilen wollte er Lucius als Knaben sehen. Zuweilen als Gentleman. Zuweilen als jungen Politiker, der stets die richtigen Dinge sagt. Mitunter durfte Lucius auch den Narren spielen, fahrig, geniert und niemals nüchtern, der seine Beine verhaspelt bei der banalsten Courante und nach der Duchess of Cleveland seufzt, als sei sie eine ehrbare Frau.

Lucius Lawes stand in seinen Kleidern wie in den Kulissen eines Theaters und wartete, dass ihm der König das Textbuch reiche für seinen Auftritt. Doch der König wollte heute nicht spielen mit dem Earl of Fearnall. Er wiederholte, «nun, Lucius?», dann besprach er sich mit dem Duke of Lauderdale über schottische Angelegenheiten. Der Duke of Lauderdale hatte eine lange Oberlippe, die oft zwischen die Zähne geriet. Die Zähne waren grau, die lange Lippe beim Sprechen voll Schaum. Der Duke of Lauderdale war der Diktator von Schottland und auch sonst ein Herr von Gewicht. Lucius verneigte sich wieder, im Stil des Soldaten nun, seine Absätze klackten.

Er folgte dem Hof in die Kapelle. Längst spürte er wieder den Druck im Inneren. Längst wünschte er sich wieder Brandy. Er sah die Schwestern, Barbara und Maudlin, beide im Gefolge der Duchess of York. Vielleicht würden sie mit Lucy spielen. Vielleicht würden sie «Kleiner Bruder in Nöten» mit ihm spielen. Aber sie waren zu weit entfernt und Lucius hatte nicht die Kraft, sich durch die Menge zu drängen. Man las Jesaja zum Morgengebet. Höret des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom. Wie geht das zu, dass die fromme Stadt zur Hure wurde? Es gab keinen Weihrauch. Es gab kein Latein. Es gab weder Spanien noch die Venus Genetrix.

«Apropos Hure», meinte der Herr, der neben Lucius saß, «war dies nicht précieux, das Plaisir? Bald wollen wir wieder bei Mutter Bushell einkehren, Sie mit erlogenem Kleinod und wir mit wahrhaftigen Fäusten!»

Lucius drehte langsam den Kopf. Der Sohn des Lord Stretton, wie meist in Maron.

«Allzeit à votre service!» Der Sohn des Lord Stretton lachte.

Lucius stand auf. Er schlich durch die ganze Kirche, auf Zehenspitzen, damit seine Absätze keinen Lärm machten. Leute blickten sich um. Eine Missgeburt. Ein Monstrum. Verflucht sollst du sein. Lucius verließ die Kapelle. Er folgte dem Flur, den Zimmerfluchten, passierte Diener, Wachen und den Lord Chamberlain, eine unruhige Dame ohne Geleit und einen verirrten Menschen mit sechs Otterhunden. Dann trat er ins Freie. Er suchte seinen Diener und fand ihn nicht, er fand seine Kutsche, nicht den Kutscher. Lucius verspürte das dringende Bedürfnis, sich auszuziehen. Er musste fest die Arme kreuzen, um sich daran zu hindern. Endlich kamen seine Leute zurück. Lucius befahl die Heimfahrt.

Er ertrug das Schweigen nicht. Er wollte auch nicht nach Hause. Mitten auf der Pall Mall ließ er halten und stieg aus. Er blickte die Männer an, den Diener auf dem Tritt, den Kutscher auf dem Bock, er kannte sie gut, er wusste nicht, wie sie hießen. Vielleicht hieß der Kutscher John.

«John?», fragte Lucius.

«Jawohl, Mylord?»

«Heißt du John?»

«Nein, Mylord.»

«Pardon», sagte Lucius. «Ich möchte trotzdem bei dir sitzen.»

Ein verblüffter Blick, aber der Kutscher rückte zur Seite. Lucius kletterte auf den Bock. Er saß unbequem auf seinen steifen Rockschößen.

«Fahr nach Smithfield», sagte Lucius, «und wieder zurück.»

Der Kutscher, der nicht John hieß, trieb die Pferde an. Der Nebel machte sich an Lucius’ Haar zu schaffen und an den Federn auf seinem Hut. Lucius wischte die Feuchtigkeit von seinen Wangen. Er wollte nicht nach Smithfield und auch nicht wieder zurück.

«Vor einigen Jahren», sagte Lucius, «war im Hatton Garden ein Mann, der das Paradies ausstellte. Hast du das gesehen?»

«Zu Diensten, Mylord.» Der Kutscher räusperte sich. Er gab keine Antwort auf Lucius’ Frage.

«Das Paradies», fuhr Lucius fort, «war ein Pavillon, ein Zelt, grüne Leinwand. Der Eintritt kostete fünfzehn Penny. Tiere, Vögel, Pflanzen und Gestein, alles war auf Holz oder Stoff gemalt und dann ausgesägt oder aufgespannt, jedes Tier, wie es stand oder lief oder kroch oder lag, und jeder Vogel, wie er saß oder flog, und dazwischen Bäume und Büsche und Felsbrocken, auf denen wiederum Tiere standen oder saßen, Affen zum Beispiel, ich erinnere mich an die Affen, sie waren lustig. Ich war damals noch ein Knabe, die Schwestern führten mich hin. Der Besitzer des Paradieses ging darinnen umher und sagte Gedichte zu jedem Tier und jeder Pflanze und wie sie miteinander lebten und wie sie fruchtbar waren und sich mehrten, und wie Gott sah, dass es gut war etcetera, alles in Reimen. Dann ahmte er die Rufe der Tiere nach, wie die Vögel singen und die Affen schreien, und dann ahmte er das Geräusch der Blätter im Wind nach und sogar das Trippeln der kleinen Füße der Eidechsen auf dem Fels. Es war nur ein einziger Mann. Er konnte das alles zur selben Zeit. Sicherlich hatte er auch die Figuren gemalt und gesägt und geschnitten und hingestellt. Das Zelt platzte schier aus den Nähten. Es war ein großes Durcheinander im Paradies. Maudlin spottete darüber, und der Mann sagte ein Gedicht auf sie, das ging ungefähr so: Die Dame spare das Geplärr / zusammen reimt sich’s Gott der Herr. Maudlin war beleidigt und wir mussten gehen. In der Woche darauf war das Paradies verschwunden. Übrig blieb nur ein runder Fleck auf dem Rasen. Ich erinnere mich an die Affen. Sie waren lustig.»

«Hat Mylord in Smithfield Geschäfte?», fragte der Kutscher.

«Wenn du an das Paradies denkst: Glaubst du, es ist vollgestopft mit Tieren und ohne Sinn und Verstand?», fragte Lucius.

«Möchte Mylord in Smithfield halten oder gleich umkehren, wie befohlen?»

«Umkehren. Denkst du von Zeit zu Zeit an das Paradies?»

Der Kutscher wendete am Marktplatz.

«Gibst du mir bitte eine Antwort?», sagte Lucius.

Der Kutscher zog erschrocken den Kopf ein. «Ich denke, wenn belieben, nicht ans Paradies, Euer Ehren.»

«Und wenn du daran dächtest: Wie dächtest du es dir? Geordnet?»

«Zu Diensten, Euer Ehren, ich weiß nicht.»

«Ich glaube, es ist ohne Sinn und Verstand», sagte Lucius, «und grün, und durcheinander, und voller Tiere und Vögel und Pflanzen und Gestein. Und besonders voller Affen. Das glaube ich. Du hast etwas versäumt im Hatton Garden.»

«Wie Mylord befiehlt», murmelte der Kutscher.

Lucius ließ halten. Er stieg vom Bock und in die Chaise. Wieder einmal versuchte er zu verschwinden und wieder einmal gelang es ihm nicht, sich auch nur eines einzigen Zolls seiner sperrigen Person zu entledigen.

Zu Hause schickte Lord Fearnall nach einem Arzt. Als er kam, empfing er ihn nicht. Er schrie nach dem Mittagessen, nach dem Hausmantel, nach Briefpapier, Brandy und der Badewanne. Alles bekam er und nichts wollte er haben. Lucius schrie nach seinem Papagei. Man brachte ihn ins Zimmer. Der Papagei hörte auf den Namen Lauderdale, wegen seiner blassen Augen und der Form des leicht vermorschten Schnabels. Lucius schickte die Diener fort. Lauderdale kratzte sich.

«Ich will wissen», sagte Lucius, «wie er heißt.»

Lauderdale biss in seine Stange, den Kopf zwischen den Füßen.

«Gibt es einen schwedischen Gesandten in London?»

Lauderdale versuchte einen Überschlag und verhedderte sich in seiner Kette.

«Ich versprach, ich besuche ihn. Ich möchte ihn noch immer besuchen. Ich kann ihn gut leiden. Ich möchte sehen, was er tut. Und warum. Ich möchte ...»

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