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5

Es war schon dunkel, als ich mich die Weinsteige in den Kessel hinunter staute und die Blitzer angrinste. »Ich kann nicht schneller, sorry.«

Die Radionachrichten beschäftigten sich mit dem Zug­unglück von Hordorf auf der Eisenbahnstrecke Magdeburg-Thale, bei dem zehn Menschen ums Leben gekommen waren. Hatte der Zugführer des Güterzugs oder der des Personenzugs den Fehler gemacht, oder hatte es eine technische Fehlfunktion gegeben? Daran erinnere ich mich – die Einzelheiten habe ich gerade noch mal nachgeschaut –, vielleicht, weil mir zum ersten Mal die Formulierung »technisches Versagen« auffiel und ich über menschliches Versagen nachdachte. Wie kann Technik versagen? Was heißt überhaupt versagen? Wir sind Versager, wenn wir nicht schaffen, was wir schaffen wollen oder was andere von uns erwarten. Als Tochter habe ich versagt. Zumindest aus Sicht meiner Mutter. Ich sehe das aber so, dass ich mich befreit habe aus katholischer Höllenangst und Festlegung auf Fremdsprachensekretärin und Ehefrau.

Eine Ampel wiederum hat versagt, wenn sie nicht Rot zeigt und Züge ineinanderdonnern. Oder ihr Steuercomputer hat versagt. Oder der Programmierer, der nicht alles bedacht hat, was Technik zum Versagen bringt. Letztlich ist alles menschliches Versagen. Schlecht gebaut, schlecht gewartet. Oder? Als ich am Charlottenplatz abbog, gingen mir die Züge durch den Kopf, die sich in Japan selbständig gemacht hatten, und der PC, der nachts träumte, obgleich er keinen Strom bekam. Kann man von technischem Versagen sprechen, wenn stillgelegte Geräte nicht stillstehen?

Und wie hatte Rosenfelds Mörder überhaupt den Raum verlassen? Durch die Tür jedenfalls nicht. Durch die Fenster auch nicht. Denn er hätte das Eis im Wassergraben nicht betreten können, ohne Einbruchsspuren zu hinterlassen, deren Narben im Eis auch an diesem Montag noch sichtbar gewesen wären.

Ich brachte Charlotte Brontë in ihre Garage – »Sei brav, ja. Fahr nicht weg!« –, stieg die drei Treppen zu meiner Wohnung hinauf, warf den Computer an und schaufelte die Fotos von meinem Handy.

So ’n Hure’seich! Alles verwackelt, unscharf, verblendet, eines sogar ganz schwarz. Total vergespenstert. Auch die, die ich mit ausgestrecktem Arm durch den Türspalt ins Büro von Rosenfeld hinein gemacht hatte. Das gibt’s doch nicht! Nur ein einziges, das ich von der Leiter aus gemacht hatte, ließ immerhin Rosenfelds Beine erahnen, die unter dem Tisch hervorragten. Man erkannte die Lage der Leiche, bevor die Polizei eingetroffen war und die Tür gegen den Widerstand der Beine hatten aufschieben müssen, um hineinzukommen.

Kalte Hände strichen mir über den Nacken. Wo war ich da hineingeraten? Ich nahm Cipión und ging raus, um nachzudenken, was in doppelter Hinsicht ein Misserfolg war. Cipión war es zu nass und zu kalt auf seinen kurzen Dackelbeinen und mein Hirn taugte seit jeher nicht zum Nachdenken.

»Ich bin Freitagnachmittag etwas früher gegangen«, hatte Dr. Barzani der Polizei erklärt. »Professor Rosenfeld wollte noch zum Flughafen und dort Professor McPierson abholen.« Desirée hatte nach eigenen Angaben ebenfalls Schluss gemacht, kaum hatte Dr. Barzani das Haus verlassen. Freitagnachmittag machten alle früher Schluss. Zu der Zeit war unten in der Eingangshalle noch ein Maler damit beschäftigt gewesen, die Toilettentüren zu streichen.

Ich vermutete, dass der Professor seit Freitagabend tot in seinem Büro gelegen hatte. Es war ein klassisches Doyle/Christie-Arrangement, nur dass bei den Briten die Leichen in verschlossenen Räumen nicht derartig nach schwedischem Lustmörder aussahen. Und das Herz fehlte. Auch das hatte ich zufällig mitgehört, obgleich ich es nicht hätte hören dürfen. Aber wieso hatte derjenige, der da gewütet und die Leiche so ausgelegt hatte, dass er selbst den Raum nicht mehr durch die Tür verlassen konnte, hinterher diese Tür auch noch mit einem Schlüssel verschlossen? Vielleicht um Zeit zu gewinnen. Denn wenn ich nicht gekommen wäre, hätten die Damen womöglich noch einige Tage gewartet, bis der Gestank unerträglich wurde und Maden unterm Türritz hervorkrochen.

Als ich mit Cipión wieder in die Neckarstraße bog und mein Blick auf den von Anti-Terror-Strahlern erleuchteten Bunker der Staatsanwaltschaft fiel, klingelte mein Handy.

»Meisner!« Der Name der Staatsanwältin fiel dunkel auf die Waagschale meiner Schuld. »Wieso waren Sie wieder mal vor Ort, bevor die Polizei eingetroffen ist? Das kann doch kein Zufall sein. Langsam glaube ich an widernatürliche Kräfte.«

»Ich auch. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, können Sie mich sehen. Ich winke.«

»Sie wissen doch, dass mein Fenster nach hinten rausgeht.« Sie schaute auf den Parkplatz mit den vom Dezernat für Wirtschaftsdelikte konfiszierten Autos von Betrügern und Steuerhinterziehern.

»Dann sind Sie zuständig? Nicht Tübingen?«

»Und ich möchte umgehend die Fotos sehen, die Sie gemacht haben. Wieso muss ich das von der Polizei erfahren, und wieso hat die es nur von einer Zeugin erfahren?«

»Sie sind nichts geworden, Frau Meisner. Es sind nur Gespenster drauf.«

»Gespenster?«

»Lichteffekte, schwarze Schatten, alles unscharf. Nur auf einem ist die Lage der Leiche zu erahnen. Ich schicke es Ihnen per Mail.«

Meisner schnaufte besänftigt. »Sie schicken mir alle!«

Die Ampel ließ mich über die Straße. »Stimmt es, dass der Leiche das Herz fehlt?«

»Dazu kann ich nichts sagen, Frau Nerz. Wir müssen das rechtsmedizinische Gutachten abwarten.«

»Wo wird er obduziert? In Tübingen?«

Das durfte und konnte sie mir sagen. »Ja.«

»Hätte man nicht den Rechtsmediziner zum Fundort bitten können? Das ist doch alles sehr merkwürdig. Die zugeklebten Augen, der zugeklebte Mund …«

»Haben Sie mir nicht gerade eben erklärt, Ihre Fotos seien nichts geworden?«

»Ich habe vorher mit einem Spiegel hineingeschaut.«

Meisner seufzte. »Aber bitte nichts in der Presse!«

»Zu Befehl. Ich habe übrigens ein ganz ungutes Gefühl«, sagte ich unbedacht, während ich nach meinem Hausschlüssel suchte.

»Ich habe immer ein ungutes Gefühl bei einer Leiche«, antwortete die Staatsanwältin.

Verdammt, wo war der Schlüssel? Eine Katastrophe bahnte sich in mir an. »Das ist irgendwas Großes! Was ganz Hässliches! Ich finde meinen Hausschlüssel nicht.«

»Wenn man was sucht, muss man den Weg noch mal von Anfang an gehen. Haben Sie ihn überhaupt eingesteckt?«

Die Gute, immer praktisch. Also zurück auf Anfang. Aber ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, wie ich vor einer halben Stunde mit Cipión meine Wohnung verlassen hatte. Leere im Kopf. Man muss sich immer an das erinnern, woran man sich nicht erinnern kann, dann ist das Problem für alle Zukunft gelöst. Das Paradoxon der Freud’schen Schulpsychologie. Lisa Nerz ist eine Neurose.

Wie soll ich jemals den Anfang finden? Meinen Moment geistiger Instabilität, wo ich Teil der Verschwörung wurde? Ich bin immer geistig instabil. Als Todt Gallion mit seinem Porsche und mir gegen den Birnbaum fuhr, hatten wir uns gestritten. Doch in der Sekunde, als er von der Fahrbahn abkam, war ich nicht mehr bei der Sache gewesen. Ich hatte an was anderes gedacht. An was? An die drückenden Schuhe? An den drohenden Geburtstag meiner Mutter? Und da war noch etwas gewesen. Ich erinnere mich plötzlich an mein Gefühl: an einen unendlichen Überdruss, an Sehnsucht nach woanders, eine kraftlose Sehnsucht ohne Ausblick. Gedankenlos und lebensunlustig befand ich mich in dieser Nacht auf einer Landstraße in einer Ehe, die nicht mehr meine war. Als ob ich kurz vergessen hätte, die Leine immer schön straff zu halten. Prompt war mein Schicksal ausgeschlenkert. Todt war tot, ich im Krankenhaus und ganz wer anderes mit ganz anderer Zukunft. Ja, immer wenn etwas passierte, was Lebenswege umkehrte, hatte ich gerade nicht richtig aufgepasst.

Plötzlich hatte ich den Hausschlüssel in der Hand.

6

Noch in der Nacht nahm die Polizei den 23-jährigen Maler­gesellen Juri Katzenjacob in Böblingen unter dringendem Tatverdacht fest. Am folgenden Tag erging richterlicher Haftbefehl. Auf einer Pressekonferenz teilten Staatsanwaltschaft und Polizei mit, dass der Beschuldigte am Freitag auf Burg Kalteneck im unteren Stockwerk die Toilettentüren gestrichen habe. Seine DNS habe sich nicht nur dort, sondern auch in Rosenfelds Büro gefunden. Außerdem habe man in seiner Böblinger Wohnung, die er sich mit einem Kollegen teilte, ein Paar Arbeitsschuhe mit Anhaftungen vom Blut des Opfers sichergestellt. Nach der übrigen Kleidung, die massive Blutspuren aufweisen müsse, werde intensiv gesucht. Der Beschuldigte habe zur Tat keine Angaben gemacht. Auf seinem Computer habe man reichlich Bildmaterial von Tiertötungen sowie Filme und Fotos mit wüst zugerichteten Leichen von allen Kriegsschauplätzen dieser Erde gefunden.

Die lokale Presse fand schnell heraus, dass der nette Junge von nebenan mit neun oder zehn angefangen hatte, Kaninchen die Beine auszureißen und sie aufzuschneiden. Seine Kindheit hatte er in Sigmaringen verbracht. Seine Eltern waren vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Auf glatter Strecke bei Sommers, einem Ort im Schwäbischen Allgäu, von der Straße abgekommen und gegen eine Mauer geprallt. Man sah Archivfotos eines zermatschten Autos, die Straße, eine Senke und das Schild »Totensteige«.

»Haben die braven Leute den Teufel an ihrer Brust genährt?«, fragte ein Boulevardmagazin. Das Foto zeigte einen Burschen mit in sich gekehrtem Blick und vorsichtigem Lächeln in der weißen Arbeitskleidung der Maler. Er hatte seine Lehre in dem Böblinger Betrieb gemacht, der ihn anschließend übernommen hatte. Ein netter, höflicher Mensch, sagten die Kollegen unter Kopfschütteln. Fleißig und gewissenhaft.

Was hatte ihn wohl nach Böblingen verschlagen?

Staatsanwaltschaft und Ermittler verfolgten eine restriktive Informationspolitik, und schon kurz darauf war für die Medien die Frage interessanter, wie man in Doktorarbeiten richtig zitiert und einen Minister stürzt, der uns mit seinem Charme heillos zu verwirren drohte. Ein Aufatmen ging durch die Republik, als er weg war, wir sanken zurück in die gewohnte Glanzlosigkeit und diskutierten im Fernsehen über die Frage, ob die Revolution in der arabischen Welt den Untergang der westlichen Welt bedeutete. Wie gefährlich ist die Demokratie dort, wo Diktaturen das Weltgefüge zementiert haben?

Fern aller Weltfragen steuerte Baden-Württemberg in diesen Tagen auf einen Regierungswechsel zu, was nachhaltige Aufregung in Funk und Zeitungen erzeugte.

Ich dachte schon gar nicht mehr an den Fall Rosenfeld, da klingelte mein Handy. Es war Kitty zu Salm-Kyrburg. Sie fragte, wann denn nun der Artikel über die Geisterjagd im Ludwigsburger Schloss im Stuttgarter Anzeiger erscheine. »Wir haben derzeit andre Themen«, beschied ich ihr. »Außerdem soll es eh ein größerer Artikel über Parapsychologie werden. Woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer?«

»Aus Facebook.«

»Hm, ja.« Da hatte ich meinen Privatsphärenschutz wohl etwas nachlässig behandelt. Andererseits war das ja auch der Sinn der Klatsch- und Tratschplattform. Gefunden werden können. »Wie gesagt … ich muss noch recherchieren.«

»Sie … Sie glauben nicht an diese Sachen. Sie sind Skeptiker.«

»Und ich lasse mich auch nicht missionieren.«

Kitty lachte mir ins Ohr. »Das läge mir fern.« Sie machte eine Pause. Wartete auf eine Antwort. Sie gehörte zu denen, die dem Verstärker von Handys jede Menge Raum gaben, sich zu einem Rauschen hochzutunen.

»Ist noch was?«, fragte ich.

»Ja, also …« Pause.

Ich machte auch Pause.

»Sind Sie noch dran?«, fragte sie.

»Ja.«

Kitty kicherte. Es war ein seltsam abwehrendes Lachen.

»Sie täten’s auch lieber telepathisch, nicht wahr?«, bemerkte ich.

»Was?«

»Reden.«

Pause.

»Dabei kommt Telefonieren der Sache doch schon relativ nah, nicht wahr. Nur dass man am Telefon nicht schweigen sollte. Da kommt der Geist nicht, da geht er, vielmehr, er legt auf.«

Wieder dieses humorlose Gekicher.

»Stellen Sie die Kuh über den Eimer, Kitty. Hat Ihr Medium, wie hieß sie noch gleich, ach ja, Janette … hat sich Rosenfelds Geist bei Janette gemeldet oder was?«

»Woher wissen Sie das?«

»Wie bitte?«

»Ich habe alles über die schreckliche Tat in der Zeitung gelesen. Wir …«

Ich unterbrach sie: »Kannten Sie Rosenfeld?«

»Wie man es nimmt. Ich war einmal bei ihm im Institut. Ich hatte ihm Bildmaterial von uns geschickt von einer PU …«

»Was?«

»Einer Parapsychologischen Untersuchung. Im Sigmaringer Schloss. Da standen wir noch am Anfang. Ich hatte mir von ihm Tipps und Unterstützung erhofft. Aber er hat es nicht einmal für nötig befunden zu antworten. Das Material zurückgeschickt hat er uns auch nicht. Da bin ich nach Holzgerlingen gefahren. Er hat mir dann ziemlich arrogant erklärt, dass wir Scharlatane wären und dem Ansehen der Parapsychologie schaden würden. Im besten Fall wären wir nur dumm und naiv, im schlimmsten Betrüger. In jedem Fall müsste man uns das Handwerk legen. Dabei nehmen wir kein Geld für unsere PUs. Wir arbeiten ehrenamtlich.«

»Dankbare Spenden werden aber sicher gerne angenommen.«

»Manche wollen eben unbedingt etwas geben. Rosenfeld hat schließlich auch kassiert. Die eine Stunde beim Professor, wo ich mich habe abkanzeln lassen, hat mich 25 Euro gekostet.«

»Ja, wir sind alle Nepper. Ich koste hundert Euro pro Stunde.«

Kitty schluckte. Der Verstärker rauschte hoch. Bei manchen Leuten sind Scherze ein echter Konversationsstopper.

»Wofür denn?«, fragte sie nach reiflicher Überlegung.

»Ihnen mache ich es gratis. Was wollten Sie mir denn nun erzählen über Ihr Medium und Rosenfeld?«

»Ja, also … Janette hatte ein Erlebnis. Ich vertraue ihr da. Janette hat etwas gespürt, sagt sie, das mit Rosenfelds Tod zu tun hat. Sie hat eine große Gefahr gespürt. Wir haben überlegt, ob wir nicht im Institut mal eine PU machen sollten.«

Ich musste lachen.

»Sie haben doch den Artikel über Rosenfelds Tod geschrieben«, fuhr Kitty fort. »LiN, das ist doch Ihr Kürzel, nicht wahr, und da dachte ich, Sie könnten …«

»Aber der Fall ist geklärt. Der Tatverdächtige sitzt ein. Ach ­übrigens, er soll aus Sigmaringen stammen. Kennen Sie ihn?«

Pause. »Die Eltern hatten die Bäckerei, bis zu dem tragischen Unfall. Sie hatten ihn adoptiert, als er so fünf oder sechs war.« Sie druckste.

»Was ist passiert?«

»Ich weiß nicht. Na ja, er hat sich in mich verknallt. Da war er sechzehn, siebzehn. Ich bin ja nun ein gutes Stück älter. Er hat mich auf der Straße gestellt und wollte es wissen. Ich habe ihm erklärt, dass ich einen Freund habe und so. Darauf drehe ich mich um und gehe weg. In meinem Rücken fühle ich seine Augen. Man fühlt das ja. Ich gucke mich um. Da fällt ein Blumenkasten runter, auf meine Schulter. Hätte ich mich nicht umgeschaut, hätte er meinen Kopf getroffen, und ich wäre tot gewesen.«

»Wenn man’s nur immer so genau wüsste.«

»Ich bin mir absolut sicher. Es hat auch nicht geklärt werden können, wieso der Blumenkasten so plötzlich heruntergestürzt ist.«

Ich hustete das Unheimliche zurück zu ihr. »Warum ist er nach Böblingen in die Lehre gegangen?«

»Kann ich nicht sagen. Schwierigkeiten mit den Eltern, nehme ich an. Es waren liebe, aber etwas starre Leute.«

»War bekannt, dass er tote Tiere fleddert?«

»Also mir persönlich nicht. Und ich kann mir das auch nicht vorstellen. Die Polizei wird sicher gute Gründe haben, warum sie ihn verhaftet, aber …«

»Hat sie.«

»Das ist auch nicht mein Thema. Aber wo Rosenfeld sich jetzt bei Janette gemeldet hat.«

»Und was will er?«

»Also, das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber er … also er kann nicht zur Ruhe kommen. Er hat ein großes und schreckliches Geheimnis.«

Ich kramte nach meiner Zigarettenschachtel und zündete mir eine an.

»Ich weiß«, nahm Kitty den Gesprächspfad wieder auf, »Sie halten mich vermutlich für verrückt. Wer sich wie ich seit Jahren in der Welt der Geister bewegt, merkt manchmal gar nicht, wie befremdlich das auf Menschen wirkt, die keine spirituellen Erfahrungen haben.«

»Na!« Es ärgerte mich ganz grundsätzlich, dass eine gut zehn Jahre jüngere Frau mir Erfahrungen absprach, egal welcher Art.

»Am leichtesten finden wir Lebenden Kontakt zum Geist eines Verstorbenen am Ort seines Todes.«

»Und Sie erwarten jetzt von mir, dass ich die Leute vom Institut überzeuge, dass Ihre Agentur dort eine PU machen kann?«

Pause.

»Okay«, sagte ich. »Ich werd’s versuchen. Der Spaß ist es mir wert. Allerdings geht dort derzeit niemand ans Telefon.«

7

Im Fernsehen sah ich einen Bericht darüber, wie Japan seine Kinder auf Erdbeben vorbereitet. Nach den ersten Stößen, die senkrecht verlaufen, haben sie dreißig Sekunden Zeit, unter Tischen und Decken Schutz zu suchen, bevor die waagrechten Stöße beginnen, die Häuser zum Schwanken und Fensterscheiben zum Bersten bringen. Und schon bebte in Japan die Erde und erzeugte nicht nur verheerende horizontale Stöße, sondern auch einen Tsunami, der reichlich zwanzigtausend Menschen mitnahm und vier Meiler im Atomkraftwerk Fukushima zerschlug. Am Abend war klar, dass die Kernschmelze begonnen hatte. Die zufällig für den Samstag seit langem geplante Menschenkette gegen Atomkraft zwischen Stuttgart und Neckarwestheim wurde ungeahnt enggliedrig. Und jählings begriff unsere Kanzlerin, dass ein Ereignis, dem man eine Eintrittswahrscheinlichkeit von einmal in fünfhundert oder einer Million Jahren bescheinigt hatte, auch sofort passieren konnte. Zumindest erklärte sie, dies begriffen zu haben.

»Als Physikerin hätte sie es eigentlich besser wissen müssen«, bruddelte Richard. »Und wenn ihr jetzt behauptet, ihr hättet immer schon gewusst, dass so was passieren würde, ist das natürlich genauso realitätsfern.«

»Wer wir?«

»Ihr Atomkraftgegner.« Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber schaltete in den zweiten Gang und warf mir einen kurzen Blick zu. »Vor dem, was jetzt passiert ist, habt ihr immer Angst gehabt. Was nur zeigt, dass das menschliche Gehirn nicht für Wahrscheinlichkeitsrechnungen gemacht ist. Wie sonst können Leute bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 14 Millionen glauben, sie könnten im Lotto gewinnen.«

Das ließ er mich auf der Fahrt nach Ludwigsburg wissen, wo Kollegin Meisner im bereits hochsommerlich warmen April im Seeschloss Monrepos ihren fünfzigsten Geburtstag feierte. Am Ufer spielten die Mücken, Wasser gluckste unter den Ruder- und Paddelbooten. Im Saal lärmte eine Band, was nicht nur die Raucher auf die Terrasse trieb. Richards Neigung, aus jedem Geplauder eine schwäbische Grübelei zu machen, hatte seinen – unseren – Bistrotisch zum Zentrum einer Diskussion über die Wahrscheinlichkeiten gemacht, dass jemand in einer Disserta­tion Fehler entdeckte oder sich in einem deutschen Atomkraftwerk eine Kernschmelze ereignete.

»Ich habe Angst vorm Fliegen«, gab eine junge Staatsanwältin in leuchtend roter Busenverpackung zu. »Dabei habe ich kürzlich gelesen, dass das Risiko für einen Absturz bei 1 zu 150 000 steht und man 67 Jahre lang ununterbrochen fliegen müsste, um …«

»Das ist eben der Grundirrtum«, sagte Richard. »Am Ende dieser 67 Jahre hätte man also garantiert einen Flugzeugabsturz nicht überlebt, denken Sie. Aber genau dieser Absturz könnte sich mit derselben Wahrscheinlichkeit auch am ersten Tag ereignen oder nach drei Monaten oder nie.«

Ich hörte nicht mehr hin, bis Meisner rief: »Also, das mit Schrödingers Katze habe ich nie verstanden! Die Katze ist entweder tot oder nicht tot, wenn man den Kasten öffnet. Das ist doch banal.«

Richards Augen funkelten erregt. »Gar nicht. Der Witz ist, dass die Katze weder tot noch lebendig ist, bevor man reinguckt.«

»Meine Katze wird auch immer fetter, wenn ich nicht hin­gucke«, bemerkte Meisner.

Das fanden Richards Sekretärin Roswita Kallweit und die junge Staatsanwältin zum Giggeln komisch, während der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter verlegen lächelnd in seinem Kopf kramte, um irgendwas zu finden, was er dazu beisteuern konnte.

»Schrödingers Katze«, sagte Richard, der zwar nur Apfelschorle trank, aber zu vorgerückter Stunde übermütig wurde, »ist das Gleichnis dafür, dass die Quantenphysiker einen an der Klatsche haben.«

Meisner lachte. »So kenne ich Sie ja gar nicht … Richard!«

»Doch, doch«, sagte er. »Der Physiker Erwin Schrödinger selbst«, er schaute belehrend in die Runde der Juristen und meiner ungebildeten Kleinigkeit, »einer der Erfinder der Quantenmechanik, der Theorie von den kleinsten Teilchen im Atom, stellte 1935 fest, dass eine Theorie Schwächen hat, wenn sie davon ausgeht, dass man das Verhalten von Atomen, Elektronen oder Lichtquanten nur erklären kann, wenn man annimmt, dass sie sich beispielsweise gleichzeitig an verschiedenen Orten befinden, bevor … ich betone … bevor man anfängt zu messen. Dann nämlich ändert sich alles. Der Beobachter, also das Messgerät vergibt einen exakten Wert. Was man nicht misst, bleibt unklar. So kann man beispielsweise sagen, wo sich ein Elektron befindet, aber nicht gleichzeitig auch, welche Geschwindigkeit es hat.«

»Und was ist mit der Katze?«, fragte Roswita Kallweit besorgt. Katzen waren ihr Thema, an allen strategisch wichtigen Stellen ihres Büros befanden sich Katzenfigürchen oder Katzenbilder.

»Ja, die Katze!« Richard kannte kaum ein größeres Vergnügen, als seine Wissensschatztruhe zu öffnen. »Stellen Sie sich das so vor: Eine Katze sitzt in einer verschlossenen Kiste. Wir sehen sie nicht. Mit ihr in der Kiste befindet sich ein Apparat mit radioaktivem Material, der Zyankaligas freisetzt, sobald ein Atom zerfällt. Man weiß: Innerhalb einer Stunde kann es einen Zerfall geben oder auch keinen. Die Wahrscheinlichkeit liegt genau bei 50 Prozent.«

Kallweit und die junge Staatsanwältin nickten, LOStA ­Krautter starrte über sein Bier auf die Tischplatte und ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Meisner schnorrte bei mir eine Zigarette. »Ich hab’s vor zwanzig Jahren aufgegeben. Aber wenn man fünfzig wird, ist das Grab eh nicht mehr weit.«

»Da wir in die Kiste nicht hineinschauen können«, redete ­Richard über Meisners Lebenskrise hinweg, »wissen wir nicht, ob die Katze noch lebt oder schon tot ist.«

»Natürlich wissen wir das nicht«, rief Meisner. »Das ist banal. Wirklich! Prost, Richard!« Alle am Stehtisch hoben die Gläser. »Und wenn wir schon dabei sind … also, ich bin die Gesine. Aber das wissen Sie … das weißt du ja.«

Meisner hangelte ihren Arm durch den von Weber und die beiden wurden zu Richard und Gesine, was in Kallweit sichtlich die Furcht auslöste, auch sie müsse ihren Chef künftig duzen. Das ist das Gefährliche an Geburtstagen kurz vor Mitternacht.

Aber der Kelch ging an Roswita vorüber, denn Richard hatte es eilig, in seinem Thema weiterzukommen.

»Das ist eben nicht banal, Gesine«, sagte er. »Denn die Quantentheorie sagt: Erst in dem Moment, wo wir reinschauen, nimmt die Katze einen der beiden Zustände an. Dann ist sie entweder tot oder lebendig. Bevor wir reinschauen, ist sie beides oder gar nichts davon, sie befindet sich sozusagen in einem Schwebezustand.«

Das war jetzt nicht banal, dafür aber unvorstellbar.

»Die arme Katze!«, bemerkte die junge Staatsanwältin.

Kallweit nickte heftig.

»Ja«, sagte Richard, »Schrödinger wollte mit diesem Bild darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmen kann mit den Quantentheorien. Das fand übrigens auch Einstein.«

»Gott würfelt nicht!«, rief der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter.

»Sehr richtig!« Richard richtete seine asymmetrischen Augen auf den Chef der Justizverwaltungsangelegenheiten bei der Generalstaatsanwaltschaft, der zu schwitzen begann. »Aber vermutlich wissen Sie nicht, was Einstein damit meinte.«

»Nun ja, Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«

Richard lächelte. »Einstein gefiel es nicht, dass die Quantenmechanik den Zustand der Teilchen nur mit Wahrscheinlichkeiten angeben konnte. Er fand, Zufall gehört nicht in die Physik.«

Mir gefiel das auch nicht.

»Inzwischen gibt es eine Quantentheorie, die ohne Beobachter auskommt und trotzdem funktioniert. 2004 haben zwei Mathematiker mit neuen mathematischen Gleichungen gezeigt, dass Elektronen und Quarks sehr wohl objektiv existieren. Müssen sie ja auch, denn wie könnten wir, die Beobachter – oder eben die Katze –, sonst objektiv existieren? Wir bestehen letztlich auch nur aus Atomen und …«

»Gnade!«, rief Gesine Meisner. »Es reicht. Ich weigere mich anzunehmen, dass Rosenfelds Tod irgendetwas mit Quantenphysik und Psi zu tun hat. Ich weiiiigere mich!«

»Wieso?«, flutschte es mir aus dem Mund, noch bevor ich die Dimension ahnte. Der Tumult der Party zog sich plötzlich hinter eine Lärmschutzwand zurück, die unseren Tisch umfing. Gleichzeitig verloren die Staatsmächte aus den Augen, dass ich nicht dazugehörte und sie mir gegenüber Stillschweigen hätten bewahren müssen.

»Dann ist also immer noch nicht geklärt, wie der Beschuldigte wieder aus dem Raum hinausgekommen ist«, bemerkte Krautter.

»Die Operative Fallanalyse arbeitet daran.«

»Warum hat er Rosenfeld eigentlich das Herz rausgerissen?«, fragte ich.

Richard ächzte.

»Und was sagt er zu den Steinchen?«, fragte Krautter.

»Steinchen?«, wiederholte Kallweit.

»Ja.« Meisner lehnte sich über den Tisch, der unter ihrem Gewicht wankte. »Es fanden sich Kiessteine im Blut und im offenen Leib. In Rosenfelds Ohrläppchen steckte eine Stecknadel. Verzeihung, Richard.« Sie grinste.

Er lächelte schmallippig. In der ganzen Stuttgarter Staatsanwaltschaft war bekannt, dass er empfindlich war, wenn es um Leichen ging. Deshalb hatte er sich in Verbrechen mit Zahlen verbissen. »Nun ja«, bemerkte er, um sich vor den Damen keine Blöße zu geben, »was der Kerle mit dem Herzen gemacht hat, ist unschwer zu erraten.«

Meisners Augen schwammen zu ihm hinüber. »So?«

»Er hat es zu Asche verbrannt, mit Wasser vermischt und getrunken oder einem anderen zu trinken gegeben.«

»Iiiih!«, riefen Kallweit und die junge Staatsanwältin.

»Ein alter Brauch aus Rumänien, aus Transsilvanien, genauer gesagt.«

»Ich bitte dich, Richard«, stöhnte Meisner mit großer Handbewegung, »erzähl du mir jetzt nicht, dass Rosenfeld ein Vampir war!«

»In Rumänien sagt man Strigoi. Vor fünf oder sechs Jahren habe ich in der Zeitung gelesen, dass einige Männer in einem Dorf in Rumänien ein Grab aufgemacht, dem Toten das Herz herausgeschnitten, es verbrannt und die Asche in Wasser gelöst getrunken und seinen Verwandten zu trinken gegeben haben.«

»Und wozu?«, fragte Meisner.

»Weil ein Strigoi Unglück und Tod über die Lebenden bringt.«

»Zum Glück sind wir aber in Deutschland«, bemerkte ich.

»Keine Chance, Lisa!«, antwortete Richard vergnügt. »Hier nennt man sie Nachzehrer. Man kennt sie seit Pestilenzzeiten. Da hat man erfahren, dass tote Leute, sonderlich tote Weibs­personen, im Grabe ein Schmätzen getrieben wie eine Sau …«

»Herr Dr. Weber«, mahnte Krautter. »Es sind Damen anwesend.« Damit konnte er mich nicht meinen. Es war die junge Staatsanwältin, die sein Lächeln erwiderte.

»Und bei solchen Schmätzern«, fuhr Richard fort, »hat die Pest gemeiniglich heftig zugenommen. So hat es ein gewisser Pfarrer Bohemus um sechzehnhundert festgestellt. Auch im ­Hexenhammer, 1486, findet sich ein Bericht von einer Frau, die im Grab ihr Leichentuch verschlinge. Die Pest, heißt es, werde nicht eher enden, als bis die Hexe das Tuch ganz verschlungen habe. Man öffnete das Grab und fand das Tuch durch Mund und Hals schon halb verschlungen. Der Schulze schlug der Toten mit dem Schwert den Kopf ab, und von Stund an hörte die Pest auf.«

»Mir ist nichts bekannt, dass in Holzgerlingen die Pest grassiert«, bemerkte ich.

»Das ist doch abartig!«, rief die junge Staatsanwältin. »Worauf Menschen so alles kommen!«

»Es ist gar nicht so verwunderlich«, erwiderte Richard und wandte sich der in Rot geschlagenen jungen Frau zu. »Damals wusste man nichts über Leichen. Aber in Pestzeiten hat man frische Massengräber immer wieder öffnen müssen. Da sah man halb verweste Leichen und den Bakterienfraß in Leichentüchern und glaubte, sie holten die Lebenden herunter. Tatsächlich starben ja auch reihenweise Menschen.«

Ein Schauer schüttelte Meisner. »Richard, ich würde gerne noch ein paar Jährchen leben!« Bisher hatte ich geglaubt, die rundliche brünette Staatsanwältin vom Dezernat Tötungsdelikte lasse sich nur von einer Bäckertheke voll süßer Stückle aus der Ruhe bringen. Und Richard wiederum konnte merkwürdig kaltsinnig über historische Kadaver sprechen.

»Luther hat sich dagegen verwahrt und …«

»Bleib mir fort mit dem elenden Wüstgläubigen!«, rief ich und bekreuzigte mich.

»Es ist durchaus bedenkenswert, Lisa, was Luther einem Pfarrer antwortete, der von einem Schmätzer im Grab berichtete, der das halbe Dorf mit in den Tod zöge. Luther meinte, nur wer daran glaube, werde dahingerafft. Es ist der Teufel selbst, der uns Menschen mit Gespenstern narrt. Wer um Vergebung der Sünden betet, wird gerettet.«

»Folglich ist Juri Katzenjacob kein Protestant«, stellte ich fest.

Meisner nickte. »Daher auch der Rosenkranz.«

»Bitte?«

»Rosenfelds Hände waren mit einem Rosenkranz gefesselt … oder umschlungen, wie man es nimmt.«

»Ja, wenn man verhindern will, dass einer zum Nachzehrer wird«, mischte sich Richard erneut ein, »muss man ihm den Mund verschließen, die Augen zudrücken und die Hände fesseln. Je Region gibt es dann noch ein paar Besonderheiten. Zum Beispiel …«

»Knoblauch!«, sagte die junge Staatsanwältin, die von der Aufmerksamkeit des Leitenden Oberstaatsanwalts verleitet wurde, ihre eigene Bedeutung zu überschätzen.

»So lesen wir es bei Bram Stoker. Töten kann man sie, indem man ihnen den Kopf abschlägt, sie verbrennt oder ihnen einen Eichenpfahl ins Herz rammt. Aber hier geht es darum, wie man verhindert, dass ein Verstorbener zum Nachzehrer wird. Und diese Maßnahmen wendet man bis heute an. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen, junge Kollegin?« Richard kriegte sie alle, vor allem jene, die glaubten, sie könnten mitreden, weil der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts sie aus dem Kreis herausgelächelt hatte. »Augen zudrücken, Mund schließen, bei den Katholiken noch der Rosenkranz …«

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
591 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783867549264
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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