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Ich suchte im weltweiten Netz gerade nach Buchbindern im Gäu, da klingelte mein Handy. Unbekannte Nummer.

»Ja?«

»Spreche ich mit Herrn Nerz?«

»Wie man’s nimmt.«

»Michel Schrader hier! Ich brauche Ihre Dienste. Am besten wird sein, Sie kommen gleich bei uns vorbei. Dann können wir alles in Ruhe besprechen und den Vertrag fertig machen.«

»Einen Vertrag?«

»Oder wie ist das bei Ihnen in der Branche üblich?«

Eine Stimme, die es gewohnt war zu schicken. Das Bild des filigranen Herrn aus Ursprungs Laden gesellte sich dazu. Der aufgeregte Vater, der selig lächelnde Verleger, die kindliche Autorin. Über den schweren Verlust, den die Buchhandlung Ursprung für das Stuttgarter Kulturleben bedeutete, hatte man die arme Krott und ihr ambitioniertes Büchlein ganz vergessen.

»Ich bin der Vater von Lola Schrader.«

»Schön für Sie. Ob es allerdings für Lola auch schön ist …«

»Sie lesen vermutlich keine Zeitung!«, unterbrach er mich. Er klang wie mein letzter Deutschlehrer: Ulysses in den Augen, Grundgesetz in der Tasche, Goethe in den Nasenfalten. »Und Sie haben sicher auch noch nie von Lola Schrader gehört. Nun ja, in Ihrer Branche kommt man wohl nicht zum Lesen.«

Von welcher Branche redete er eigentlich? »Meinen Sie Bücher?«

»Jaha!« Mein Telefon nickte.

»Tut mir leid, ich bin Internetanalphabet.«

»Das spielt eigentlich keine Rolle. Sie sollen das Buch ja nicht lesen. Und wie gesagt, am besten wird sein, Sie kommen gleich einmal bei uns vorbei. Am Telefon möchte ich das nicht besprechen. Und wir können auch gleich einen Vertrag machen. Falls das in Ihrer Branche üblich ist.«

Zum Teufel mit meiner Branche! Was textete der eigentlich? Ich versuchte zu peilen. »Herr Schrader, wie sind Sie auf mich gekommen? A: über eine Zeitungsanzeige, B: übers Internet, C: zufällig, D: Ich bin Ihnen empfohlen worden. Bitte ankreuzen.«

Der Lehrer trudelte einen Moment. »Na, wenigstens haben Sie Humor.«

Ich habe keinen Humor!

»Man hat Sie mir empfohlen. Sie sind in der Branche ja nicht sonderlich bekannt. Eine Website haben Sie auch nicht.«

Es gab eigentlich nur eine Branche, in der meine Telefonnummer derzeit gehandelt wurde – allerdings nicht mit männlichem Präfix –, nämlich unter polnischen, ukrainischen, ungarischen und tschechischen Ex- und Noch-Nutten auf der Suche nach in der Sexindustrie verschollenen Schwestern. Ein Link zum letzten Fall, der mich meine Tapeten und Richard seinen Glauben an den Sinn der Nächstenliebe gekostet hatte. Ich ging im Geist die Clubs und Studios durch, in denen ich mich am Wochenende herumgetrieben hatte, um eine Jana aufzutreiben, die es als verdorbener tschechischer Engel irgendwohin verschlagen hatte.

In dem Etablissement, in dem sie sich laut Website hätte befinden müssen, war sie nicht gewesen. Ich hatte eine nette Unterhaltung mit dem Chef der Four Roses über den Generationenwechsel gehabt, sein Sohn wollte das Table-Dance-Lokal übernehmen. In anderen Clubs stellte man besser keine Fragen. Mit den Arachnes hatte ich später über Grenzgebiete geflachst und darüber, dass sich ihr SM-Club in der Grenzstraße am äußersten Rand eines Industriegebiets befand. Im Büro hatte das Buch mit dem callgirlroten Cover gelegen. Über Kunden äußerte sich die Domina nicht, aber es war unzweifelhaft ein Kunde gewesen, der ihr das Buch dagelassen hatte. »In den Shop kann ich es aber nicht stellen«, hatte sie erklärt. »Was die Kids tun, ist voll bizarr. Aber Fisting an einer 13-Jährigen, das kannst du als Literatur verkaufen, nicht aber als Pornografie in einem Shop für BDSM6.« Jana hatte ich dann in einem Schuppen in Ludwigsburg aufgetrieben.

»Und was für Dienste haben Sie sich vorgestellt, Herr Schrader?«, fragte ich den Kunden. »Französisch?«

»Was … äh … Nein. Ich unterrichte Rhetorik.«

»Ah so.«

»Und wie gesagt, lieber nicht am Telefon. Wann können Sie kommen?«

»Das kommt drauf an, wohin.«

»Dann nehmen Sie den Auftrag an?«

»Welchen Auftrag?«

»Sie müssen verstehen, aus bestimmten Gründen kann ich unsere Adresse nicht ohne Weiteres an Fremde weitergeben.«

Ich musste lachen. »Herr Schrader, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich nicht in spätestens einer Stunde weiß, wo Sie wohnen.«

»Gut, dann in einer Stunde. Dann sehe ich auch gleich, was Sie können!« Damit legte er auf.

Wer sich provozieren lässt, hat schon verloren. Wahrscheinlich wäre ich jetzt noch am Leben, wenn ich mich gezwungen hätte, Michel Schrader nicht zu beweisen, was ich konnte. Aber Lehrerstimmen packten mich immer noch an Häkchen meiner Kindheit. Mein Vater war zu früh gestorben, als dass ich ihm hätte beweisen können, dass ich mehr war als nur ein Mädchen. Das ist meine Ausrede, warum ich habe handeln müssen.

Ich orientierte mich schnell im Netz. Lola Schrader – Malefizkrott, Amazon-Verkaufsrang 35245, kartoniert, 9,90 Euro. Das Buch war vor Weihnachten bei Yggdrasil in Tübingen erschienen. Der Verlag verriet auf seiner eigenen Seite, dass Lola Schrader die Tochter der Schauspielerin Marlies Schrader war. Bei Google Bilder erschien eine schmale Brünette. Ich erinnerte mich. Sie pilcherte meist eine Exfreundin, die noch ein bisschen intrigierte, ehe sie verlor. Sie gehörte einer Filmagentur in München. Tochter Lola Schrader war ihrem Facebookprofil zufolge Fan von Tokio Hotel. Von ihrem Gesicht sah man vor lauter Haaren nichts. Sie hatte 156 FreundInnen. Unter ihnen erkannte ich auch den Jungen wieder, der bei der Lesung gewesen war: Nino Villar. Lola wohnte in Stuttgart-Vaihingen. Schule: Fanny-Leicht-Gymnasium.

Michel Schrader zeigte sein gelehrtes Gesicht auf der Seite der Musikhochschule im Bereich Figurentheater. Dort prangte auch seine Privatadresse. Er wohnte ihm Österfeldgewann, Stuttgart-Vaihingen. Spaßeshalber schaute ich noch nach, ob er in einem Online-Telefonbuch verzeichnet war. Er war es nicht. Das Ganze hatte mich neun Minuten gekostet.

Umso mehr Zeit hatte ich für den Kleiderschrank.

Schrader hatte mich mit Herr Nerz angeredet, also sollte er auch einen bekommen. Aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen kam es mir außerdem darauf an, dass er mich nicht gleich als Gast von Lolas Lesung wiederkannte. Ich wählte den dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine Durchschnittsvertreterkrawatte, schwarze Schuhe und den Trenchcoat. Ans Handgelenk schnallte ich eine von den klobigen Tiefseetaucheruhren, die Männer so lieben. Das Haar ölte ich nach hinten.

»So, ziehet Sie wieder amol in den Krieg?«, fragte Oma Scheible im Treppenhaus. »Passetse uf, gell!«

In Büchern nannte man eine Wiederholung Leitmotiv. Alte Leute schufen ständig Leitmotive. Ein Wort, das es, wie ich sicher wusste, auch im Englischen gab.

Es regnete noch. Die sonnigen Tage kamen erst später. Aber die ersten Deutschlandwimpel flatterten schon an den Autos an mir vorüber. An der Ecke Neckarstraße, Hackstraße erneuerten Maschinen das Gleisbett der Stadtbahn, die zum Gaskessel abbog. Ich holte Brontë aus der Garage. Die alte Dame aus der Familie Porsche, hochzeitsweiß mit nuttenroten Ledersitzen, muckte, als Regen ihre Windschutzscheibe nässte. Der Scheibenwischer knarzte.

»Es muss sein«, erklärte ich ihr. »Wegen der Performance!«

Das Autoradio teilte mir mit, dass unser Bundespräsident soeben zurückgetreten war, der Horst. Das habe es in Deutschland noch nie gegeben. Schlechte Performance. Dabei hatten wir doch erst am Samstag mit Lena den Grand Prix gewonnen. Gute Performance. Nettes junges Mädchen erklärt uns, wie das für schlanke Teenies ist, wenn sie sich verliebt haben. Die reine Physik, da gibt es kein Entkommen in die Vernunft. Sie glaubt sogar, der Kerl interessiere sich für die Lackfarbe der Zehennägel. Zwischen Opernkleidern und alten Melodien hopst im schwarzen Hängerchen die entzückende Jugend, die wir ja ansonsten gar nicht mehr kennen. Wir kennen nur die Schläger.

Stuttgart verstand übrigens von Performance auch nichts. Nicht einmal mehr Autostadt mochte sie sein. Alle Straßen, die Brontë gefallen hatten, weil raserisch und mehrspurig, waren ökolustfeindlich auf Tempo fünfzig zurückgestutzt und von Fußgängerampeln zerhäckselt.

Und in diesem Sommer herrschte eh Krieg. Nein, nicht Fußball. Es ging um den Hauptbahnhof mit seinem kreiselnden Mercedesstern und der Turmuhr aus den Fünfzigern, mit seinen Bossenwerkfassaden und den endlosen Seitenflügeln, an denen Passanten verhungerten und Ratten fett wurden.

Ich gehörte nicht zur Kulturelite der Stadt, aber ich sah es mit Wohlgefallen. Es schmeichelte mir. Denn beim Kampf um den Retrocharme des Hässlichen ging es im Grunde auch oder eigentlich um mich. Er war wie ich, dieser Hauptbahnhof: ungefällig, von altertümlicher Ästhetik, schroff, rau und verschlossen. Er war eine sperrige Demonstration gegen den bürgerlichen Schnörkelklassizismus anderer Metropolenbahnhöfe, zugleich jeglicher Modernisierung abhold, geistig tief im vorigen Jahrhundert verwurzelt und entschlossen, nichts dazuzulernen. Deshalb durften, wenn es nach mir ging, auch die Seitenflügel nicht abgerissen werden. Und wenn sich die Stuttgart-21-Gegner zu ihren Montagsdemonstrationen und Mahnwachen versammelten, dann taten sie es insgeheim für mich, für mein Narbengesicht, an das man sich gewöhnt hatte, und für meine Anstrengungen, nicht zu gefallen und mich dem zeitgemäßen CO2 -neutralen Glasbaudenken nicht zu unterwerfen.

Ich schickte Brontë durch die Tunnel nach Vaihingen hinauf und überließ den Rest des Wegs dem Navi. Er führte uns über die Bahnlinie ins Österfeldgewann, wo die Straßen Othello, Don Carlos oder Hamlet hießen. Brontë schnurrte zufrieden. In der Sackgasse zum Wald standen immerhin ein Porsche Cayenne und ein Z3. Wahrscheinlich würde sie den jungen Boliden Märchen aus Zeiten erzählen, als sich noch niemand um Auspuffemissionen kümmerte.

Das Haus mit dem Klingelschild Schrader war Teil eines dreihäusigen Neubaus mit großen Fenstern.

»Nerz«, sagte ich in die Gegensprechanlage.

»Pappo«, hörte ich aus dem Lautsprecher ein Mädchen rufen. »Da ist ein Nerz.«

Eine Antwort hörte ich nicht. Aber es knackte der Türöffner.

»Pünktlich sind Sie ja!«, empfing mich der filigrane Akademiker mit wachen grauen Augen und der Lehrerpersönlichkeitstonlage. »Angenehm, Herr Nerz!«

Mir gar nicht. Die Wohnung roch nach musischer Erziehung und Globuli.

»Schön, dass es geklappt hat«, konversierte Schrader weiter. »Möchten Sie ablegen?«

»Danke.« Ich legte den Trenchcoat über meinen Arm.

Lolas Blick war nadelscharf, er trennte alle Nähte meines spießigen Anzugs auf, freilich ohne sich schlüssig zu werden.

»Das ist meine Tochter Lola«, sagte Michel Schrader.

Ihr Händedruck war gewollt lasch. Ich schaute ihr ungeniert auf die Titten. Sie zog die Jacke zusammen. Unser geheimes Spiel begann.

»Darf ich bitten«, sagte der Vater. Im Wohnzimmer standen ein Klavier, Möbel, Unterhaltungstechnik und Leuchtmittel, die den unbedingten Willen zur Gestaltung verrieten. In die weißen Ledersofas würde niemand zu furzen wagen. Die Glasfront erlaubte direkten Einblick auch unterhalb der Gürtellinie. Nach dem, was ich über Feng-Shui wusste, ging es kaum unheimeliger.

Auf dem Rauchglascouchtisch lagen die Süddeutsche, die Welt, der Stuttgarter Anzeiger und das Buch mit dem callgirlroten Cover.

»Ja, das ist es, das Corpus Delicti.« Michel Schrader nahm es hoch, wechselte es von einer Hand in die andere, bevor er es mir überreichte.

Lola lächelte Grübchen in ihre Backen. »Nur so eine Spielerei von mir.«

Ich hielt mir das Buch verkehrt herum unter die Augen und ließ die Blätter unterm Daumen durchratschen.

Michel Schrader runzelte die Stirn. Lola lächelte sich aufs Kinn. Der Unterschied zwischen ihr und mir war nur, dass meine Spielereien nicht gedruckt und unter die Leute gebracht wurden.

Ich kann allerdings seit der Grundschule Texte lesen, die auf dem Kopf stehen, denn nur so hatte ich von meiner ersten Bank aus entziffern können, was die Lehrerin las, wenn sie uns eine Klassenarbeit schreiben ließ. Deshalb hatte mich schon in früher Jugend die Erkenntnis angesprungen: »Die Frau leidet als soziales und als Geschlechtswesen. Es ist schwer zu sagen, in welcher von beiden Beziehungen sie am meisten leidet. Daher ist der Wunsch vieler Frauen begreiflich, dass sie möchten als Mann und nicht als Weib geboren worden sein.«

In den Zeiten meiner Tätigkeit für die Frauenzeitschrift Amazone pflegte ich zu behaupten, dieser Satz sei von Simone de Beauvoir und habe mir schon in der Grundschule die Erleuchtung verschafft, dass es sich für mich nicht lohnte, das Ego-Projekt Frau weiterzuverfolgen. Keine hatte mir jemals widersprochen. Da hatte erst Richard kommen und August Bebels Die Frau und der Sozialismus ins Spiel bringen müssen. Gerne hätte ich diese Lehrerin heute gefragt, was sie damals bewogen hatte, Bebel zu lesen. Ich vermute, sie ist nicht im Schuldienst geblieben. Vielleicht ist sie damals verzweifelt an Ungerechtigkeit und Vietnamgemetzel und wurde – Anfang der siebziger Jahre – aus dem Dorf in die antiimperialistische Stadtguerilla gespült, kaufte einen Wecker, der für einen Kaufhausanschlag benutzt wurde, gewährte einer gesuchten Rote-Armee-Fraktionistin Unterschlupf und ging später in der Lesben- und Emanzenbewegung auf. Damals kannte man ja das iPad noch nicht und hielt deshalb die Weigerung, BH zu tragen, für eine Revolution.

Und jetzt sprang mir aus dem falsch herum gehaltenen Buch der Satz in die Augen: »Hakim lässt Oliva nackt tanzen, während eine Katze sie kratzt und beißt. Immer weiter und weiter, bis er sich entladen hat.«

Ich schaute hoch. Michel Schrader blickte weg. Lola kratzte sich mit kontaktlosem Blick die Hand unter dem langen Ärmel. Für einen Hausaufgabennachmittag war sie arg aufwändig geschminkt. Kajal um die Augen, Lidstrich, Mascara, ein kräftiges Violett auf den Lidern. Emo nannte man diese Farbrichtung. Das kam von Emotional. Emo sein lohnte sich eigentlich eher für Jungs, die sich schminkten und riesige Mützen auf toupierten Haaren tragen wollten, ohne als weibisch zu gelten, was die Lans nicht hinderte, sie zu mobben. Emo-Weibchen weinten nur ständig und ritzten sich die Unterarme.

»Es verkauft sich ganz gut«, behauptete Michel. »Offenbar hat Lola den Nerv der Zeit getroffen.«

Ihr Blick kam hoch und prallte gegen mein Gesicht. Ein kleines Lächeln befeuchtete ihre Lippen.

Na, du Malefizkrott, wer hat dir denn gesteckt, dass Schweinkram mit Gewalt immer den Nerv trifft?

Mit einem Ruck zog sie den Haarvorhang vor ihr Gesicht.

Empfindlich! Sensibel? Ich hätte gerne diese Stimme wieder gehört, mit der sie beim Eintritt in Ursprungs Laden »Guten Abend« gesagt hatte. Aber im Moment spielte sie was anderes. Ich kam nur nicht drauf, was.

»Bitte nehmen Sie doch Platz!«, sagte der Vater.

Ich steckte das Buch in die Innentasche meines Jacketts, legte den Trenchcoat über die Sofalehne und schlug die Beine übereinander. Dabei knallte ich mit der Schuhspitze unter den Couchtisch. Die Platte hob sich. Die Zeitungen rutschten.

»Verzeihung.« Ich rückte die Platte wieder gerade.

»Nichts passiert«, sagte Michel.

Lola kicherte. »Passiert mir auch ständig.« Sie ließ sich schwerhüftig in einen Sessel plumpsen.

»Darf ich Ihnen was anbieten?«, erkundigte sich der Hausherr. »Kaffee? Tee? Wasser?«

»Einen Kukicha«, antwortete ich. »Wenn Sie haben.«

»Ich fürchte, ich weiß nicht einmal, was das ist.«

»Japanischer Grüntee. Aber ein vietnamesischer Soui Bu Mu Tan tut’s auch.«

Michel lachte ratlos.

»Dann nichts, danke.«

»Ein Wasser?«

»Pappo, chill out! Hock di na!«, befahl Lola. Und an mich gewandt: »Sie sollen also auf mich aufpassen. Wie läuft das? Stehen Sie hinter mir mit Sonnenbrille, damit man Ihre Augen nicht sehen kann?«

»Warum sollte ich?«

»Meine Tochter hat Drohungen erhalten.«

Aus einer Schrankschublade zog Michel einen Ordner und setzte sich mir gegenüber. Der Ordner enthielt einen Vorrat Klarsichthüllen. In einigen steckten bereits Zeitungsausschnitte und Internetausdrucke. Offensichtlich war Pappo entschlossen zu dokumentieren, woran seine Tochter sich später einmal erinnern sollte. Er zog drei Blätter aus einer Hülle und breitete sie auf dem Glastisch aus.

Ich löste den Beinüberschlag, um mich vorbeugen zu können, und donnerte erneut mit dem Schuh gegen die Tischplatte.

Es waren fünf E-Mail-Ausdrucke mit Absendernamen wie Ann Onym, Kurt Zeller und Colly A. House. Im Textfeld stand je ein Satz ohne Komma. »Der Tot wird dich bekleiden Schlampe«, lautete der erste.

»Vermutlich meint er ›begleiten‹, typischer Fehler unserer bildungsfernen Jugend«, bemerkte Michel. »Und Tod ist auch falsch geschrieben.«

»Bücher brennen hell Luder« lautete der nächste, und der dritte: »Der Tot wartet auf dich Buchhasser.«

Diese beiden gab es in doppelter Ausfertigung, nur von jeweils anderen Absendern: Nemo Celsior und Fritz Wuehlmaus.

»Natürlich Tarnadressen!«, erklärte Michel Schrader.

»Wahrscheins nur ein Scherz«, sagte Lola. Ich entdeckte keinerlei Angst in ihrem Blick.

»Klingt auch eher nach Penisknochenbruch«, bemerkte ich.

»Wie bitte?«, fragte Michel.

»Nach einem Dauererektor, der sich an Mädchen in Angst aufgeilt«, erklärte ich. Die Sache mit den brennenden Büchern gefiel mir allerdings gar nicht. »Hat er schon angerufen?«

Vater und Tochter schüttelten die Köpfe.

»Sollte er dazu übergehen, dann legen Sie sich eine Trillerpfeife neben’s Telefon. Das bläst ihm das Trommelfell raus. Aber trillern Sie erst, wenn Sie sicher sind, dass es nicht Tante Erna ist, die erst mal zu Atem kommen muss, bevor sie sich meldet.«

Lola gluckste.

»Grammatisch und semantisch sind es eindeutig Drohungen«, bemerkte Michel Schrader streng.

Wir starrten uns an. Wenn sich zwei Männer gegenübersitzen, ist Kommunikation kinderleicht. Man macht eine breite Brust, zeigt die Waffen, man kreuzt sie, einer gewinnt, dann ist alles klar und flutscht, bis zum nächsten Gefecht. Das gewinnt dann auch mal der andere. Michel besaß eindeutig die Bildung.

»Warum sollte jemand Ihrer Tochter drohen?«, fragte ich.

»Neider gibt es überall.«

»Und worauf sind sie neidisch? Auf das Buch?«

»Kann ich mir auch nicht vorstellen!«, sagte Lola, schnell bereit, sich zu unterwerfen. »In meiner Klasse interessiert das null.«

»Bei Wittwer liegt es inzwischen in Stapeln herum!«, trumpfte Michel auf.

»Ach, kontrollieren Sie das?«

»Kontrolle wäre das falsche Wort. Es interessiert mich.«

Ich stellte mir vor, wie der filigrane Mann mit gegen den Wind gestelltem Haar Buchhandlungen stürmte. Wenn er sein Töchterchen nicht fand, nahm er sich die Buchhändlerin zur Brust. Haben Sie die Schrader? Ganz neu auf dem Markt. Malefizkrott. Nicht? Lesen Sie keine Zeitung? Was für ein unternehmerisches Konzept haben Sie eigentlich? Die Buchhändlerlizenz im Lotto gewonnen? Da kann ich mir künftig den Weg zu Ihnen ja sparen und gleich bei Amazon bestellen. Und die Buchhändlerin fing an zu schwitzen. Ich kann es Ihnen bis morgen bestellen. Das aber konnte Schrader nicht akzeptieren, dann hätte er seinen Namen nennen müssen. Schrader. Ach, sind Sie der Ehemann? Nein, der Vater. Was ’n Stress! Erst mit dem Schreiben, dann mit dem Bibbern und Beten, dass es ein Erfolg wird und die Charts stürmt. Und wenn nicht? Kann man dann noch in den Spiegel gucken? Schämt man sich?

»Und bei Amazon«, setzte der Vater hinzu, »steht es auf dem Verkaufsrang dreißigtausend! Falls Ihnen das was sagt!«

Ich kannte einen, der versucht hatte, den Verkaufsrang-Algorithmus von Amazon zu hacken. Immerhin wusste ich, dass sich bei dem Rang, wenn er so blieb, insgesamt vielleicht zweitausend Bücher im Jahr verkaufen würden. Nicht eben viele für das gierige Glitzern in den Augen des Vaters.

»Wie hoch ist denn die gedruckte Auflage?«

Michel Schrader lächelte verkniffen. »Yggdrasil ist ein kleiner Verlag. Und ein Debütroman ist immer ein Risiko.«

Ich lachte. »Hunderttausend?«

»Um Gottes willen! Zehntausend«, antwortete er mit entschlossener Lügenmiene. »Das kommt Ihnen vielleicht wenig vor. Die meisten Leute denken immer gleich an Bestseller, wenn sie hören, dass man ein Buch geschrieben hat. Und sie meinen, Gott was man damit verdient.«

Also dreitausend, dachte ich.

»Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

»Pappo!«, seufzte Lola. »Du weißt doch, ich denke nicht an Cash.« Sie machte ein Ehrlichkeitsgesicht. »Das geht mir voll am Fiedel vorbei.«

Super Stilmix: Schwäbisch – Fiedel heißt Arsch – gemischt mit Anglizismen. In diesem Punkt war das Buch zumindest authentisch, nach dem, was ich am Donnerstag gehört hatte.

»Gut«, sagte ich. »Gehen wir also vom maßlosen Neid eines grenzenlos Unwissenden aus. Fällt Ihnen da jemand ein?«

Pappo und Tochter schüttelten so wild die Köpfe, als glaubten sie grundsätzlich an das Gute im Menschen.

»So unbekannt wie Sie als Autorin sind«, bemerkte ich roh, aber höflich, »muss man wohl von einem Täter im direkten Umfeld ausgehen. Ein Schulkamerad, der Nachbar, der Sie eh schon ständig stalkt.«

Lola machte schmale Schultern und warf einen Blick zum Fenster hinaus auf die Straße. Gegenüber eine Hecke, ein Rasen, ein Mehrfamilienhaus mit Fenstern.

Michel Schrader schüttelte den Kopf. »So einfach ist das, fürchte ich, nicht. Wir hatten … vielmehr meine Tochter hatte eine Lesung letzte Woche bei Ursprung, falls Ihnen das was sagt.«

»Die Buchhandlung, die abgebrannt ist. Es stand in der Zeitung.«

Lolas Blick schaukelte sich in Zufriedenheit ein. Jetzt hatte sie mich erkannt. Jetzt war sie sich sicher.

»Und zwar an dem Abend«, fuhr Michel blind fort, »als wir dort waren. Wir sind mit nur knapper Not hinausgekommen. Und bei der Lesung war niemand, den wir kannten, außer Nino. Das ist ein Schulfreund von Lola, und den kennen wir seit Jahren.«

»Einen Nino kennt man nie, Herr Schrader. Heute der nette Bub, morgen ein Amokläufer!«

»Dazu fehlt dem Jungen die Courage«, stellte Michel Schrader fest. Einfach so. Lola duckte sich kaum merklich.

»Außerdem«, bekräftigte Michel, »saß Nino die ganze Zeit unten bei uns, während das Feuer oben im Laden ausbrach. Später hat es geheißen, jemand sei von außen in den Laden gekommen und habe das Feuer gelegt.«

»Und Sie meinen, es habe Ihrer Tochter gegolten?«

»Ich weiß es nicht. Die Zeitungen haben natürlich nur über Durs Ursprung und über den Laden berichtet. Kein Wort über Lola und uns. Immerhin waren wir auch beeinträchtigt, hatten einen Schaden. Ich habe dem Stuttgarter Anzeiger schon eine Mail geschrieben deswegen.«

Lola hörte kaum noch mit. Ihr Blick klebte an mir wie eine Schnecke auf Salat und kroch langsam auf seiner Schleimpur über meine Wange, die Nasenfurche entlang, über meine Stirn. Ihr Mund lächelte versonnen zwischen den Grübchen.

»Jedenfalls«, fuhr Michel Schrader unterdessen fort, »hat Lola nächste Woche Donnerstag wieder eine Lesung. Und ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn jemand dabei wäre, jemand wie Sie.«

Ich lehnte mich zurück. »Klingt, als wollten Sie mich als Bodyguard engagieren.«

»Je nun …«

»Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich so was mache?«

»Wie gesagt, Sie sind mir empfohlen worden … Von einem Bekannten.«

»Den ich ja auch kennen müsste.«

»Ich muss gestehen, ich weiß seinen Namen nicht mehr. Ich habe ihn in einem … äh … Restaurant getroffen. Wir kennen uns von früher. Da kann man schlecht nach dem Namen fragen.«

Ich skizzierte kurz mit meinem Fettfinger ein auf die Glasplatte. Der ausgemergelte Hochschullehrer guckte schneller weg, als er hinschaute. Wenn so einer das Emblem für SM kannte, das auf die Geschichte der O 7 zurückgeht, deutete das nicht unbedingt auf eine gute Schulbildung hin.

»Jedenfalls, man sagte mir, Sie machen so was.«

Philip Marlowe hätte jetzt die Rede knallhart aufs Geld gebracht. »Sie erwarten aber nicht, dass ich Ihnen garantiere, dass Ihrer Tochter nichts zustößt«, sagte Lisa Nerz stattdessen.

Und Michel Schrader witterte sofort Chefluft: »Trauen Sie sich die Aufgabe nicht zu?«

Ich lachte ihn als Herr Nerz an. »Ich übernehme keine Aufgaben. Ich spiele nur.«

Sein Blick verengte sich. »Was verlangen Sie?«

Ich erinnerte mich, dass Philip Marlowes Honorarforderungen mir stets horrend vorgekommen waren. »Fünfhundert Euro pro Stunde plus Mehrwertsteuer und Spesen.«

Jetzt lachte Michel Schrader. »Was glauben Sie, was ich als Lehrer verdiene?«

»Sie sind Hochschulprofessor.«

»Das macht keinen nennenswerten Unterschied.«

Ich ließ meinen Blick wortlos durchs Zimmer schweifen. Lola blickte sich ebenfalls um und machte ein Gesicht, als wollte sie sagen: Du bist so was von peinlich, Pappo.

»Haben Sie denn so was überhaupt schon mal gemacht, Herr Nerz.«

Ich nahm meinen Trenchcoat und erhob mich, diesmal ohne gegen die Tischplatte zu treten. »Überlegen Sie es sich, Herr Schrader. Ich muss jetzt los. Wenn Ihnen die Drohbriefe ernsthaft Sorgen machen, dann gehen Sie zur Polizei. Die Internetfreaks vom LKA können ganz schnell rausfinden, wo sie herkommen.«

»Und wenn es nur ein Scherz ist?«

»Auch Scherze dieser Art haben strafrechtliche Konsequenzen. Falls Sie sich von der Polizei nicht ernstgenommen fühlen, dann empfehle ich Ihnen einen professionellen Personenschutz.«

Michels verhärmtes Gesicht bekam Geizpickel. »Bitte, Herr Nerz. Vielleicht sind das alles nur Hirngespinste eines Vaters, der Schwierigkeiten hat, seine Tochter in die Welt zu entlassen. Man macht sich halt Sorgen. Meine Frau ist Schauspielerin … Marlies Schrader … Haben Sie sicher schon im Fernsehen gesehen. Je nun … In ihrer Branche geht man davon aus, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, ein siebzigprozentiges Risiko haben, einmal im Leben Opfer eines Stalkers zu werden. Ich werde nicht bei allen Lesungen dabei sein können. Abgesehen davon, das Lola ihren Papa nicht ständig dabeihaben will. Und ich bin auch nicht gerade …« Er lächelte schief. Und dann kam die komplette Unterwerfung. »Ich bin kein Karatekämpfer. Ich war schon immer ein Stubenhocker. Ich lese lieber. Ich wäre meiner Tochter wahrlich kein guter Schutz. Ich möchte, dass jemand dabei ist, der … der … nun ja …«

»Ein Samurai?«

Der Vater lächelte. »Wenn Sie das so nennen wollen.«

»Aber das kostet halt.«

»Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag. Für diese Lesungen bekommen wir ja auch was. Viel ist es zwar nicht … Ursprung wollte 200 bezahlen. Allerdings gesehen haben wir das Geld noch nicht.«

»Okay«, sagte ich. »Dann kriege ich jeweils achtzig Prozent des Honorars für die Lesung. Plus Fahrtkosten.«

»Ohaaa!«, entfuhr es Lola. Sie dehnte den Vokal schmerzvoll.

»Tja«, sagte ich mit altersweisem Augenaufschlag, »Sie haben die Geschäftswelt betreten. Da gibt es nichts mehr umsonst.«

»Geld, Geld, Geld! Alle wollen abfassen. Will ich die Hausis abschreiben, fragt der, was krieg ich dafür? Ich finde das voll trist.«

Siebzehnjährige und Geld. Das ganz große Geld mochte Lola noch am Fiedel vorbeigehen, aber 200 Euro konnte sie umrechnen in Jeans, Shirts, Schuhe und Motorroller.

»Sie sind sowieso noch nicht geschäftsfähig«, bemerkte ich.

Lola ließ sich in den Sessel zurückfallen und zog sich in sich zurück.

»Einverstanden«, sagte Michel Schrader. »Dann machen wir das so.« Er zog ein Blatt aus den Klarsichthüllen in seinem Ordner. »Ich habe da schon mal einen Vertrag vorbereitet. Sie verpflichten sich …«

Ich lachte nur. »Kommen Sie mal runter!«

»Ich dachte, damit Sie was in der Hand haben.« Seine Mimik wurde pfiffig. »Falls ich nicht zahle.«

»Sie zahlen!« Ich griff mir ins Jackett und zog einen USB-Speicher hervor. »Und hier möchte ich jetzt die Drohbriefe draufhaben.«

»Wozu?«

»Um was in der Hand zu haben, Herr Schrader.«

»Ich weiß nicht …«

»Ich kann mich auch in Ihr Wireless-Netzwerk einloggen und Ihren Computer und den Ihrer Tochter absaugen.«

»Unser System ist selbstverständlich passwortgeschützt.«

Ich schnalzte mit der Zunge und lächelte. »Wo hat der Drohbriefschreiber Lolas E-Mail-Adresse her?«

Eine winzigen Moment nur war er verunsichert. »Jugendliche hinterlassen doch überall Spuren im Netz. Lola ist natürlich in Facebook …«

»Da ist meine E-Mail-Adresse verborgen, Pappo. Das habe ich dir schon ixig Mal erklärt. Da klickt man den Namen an. Und dann stünde hier Facebook als Absender. Ist aber nicht. Additional muss der bei Facebook angemeldet sein.«

Ich kannte zwar einen, der sich ohne eigenes Profil in Facebook bewegte, auch in den verborgenen Profildaten, aber das erwähnte ich nicht.

»Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten«, sagte ich. »Bei dem Autor dieser Zeilen handelt es sich um eine Person aus Lolas Bekanntenkreis, was wir ja ohnehin annehmen, oder aber die Person ist in Ihr Netzwerk eingedrungen und hat Ihre Adressdateien kopiert.«

»Je nun …«, seufzte Michel Schrader und erhob sich endlich.

In Karawane zogen wir in ein mit Büchern vollgestopftes Arbeitszimmer, in dessen Mitte sich zwei Schreibtische gegenüberstanden, der eine mit einem Laptop, der andere mit einem Computer ausgestattet. Auf der Computerseite rutschten Hefte und Schulbücher durcheinander, auf der Laptopseite herrschte eine Parallelordnung von Stiften, Heftern und Büchern.

»Sie sitzen hier gemeinsam?«, fragte ich entgeistert. Vater und Tochter einander gegenüber. Ich war fassungslos.

Lola grinste hinter ihren Haaren. Ihr Blick hatte sich vorübergehend an meinem Kehlkopf festgezurrt. Auch sie wusste wohl, dass der Adamsapfel das einzige fast sichere Erkennungsmerkmal eines Adams war. Nun suchte sie unter meinem Jackett nach Brüsten.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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375 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783867549509
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