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In Frankreich ist ein wichtiger Vorläufermoment der 9. April 1950, als vier Personen, eine davon als Dominikanermönch verkleidet, die ostersonntägliche Hochmesse in der Pariser Kathedrale Notre Dame stürmen und proklamieren: «Gott ist tot!». Es kommt zu einem Tumult, und die vier können nur dank der Polizei vor den aufgebrachten Gottesdienstbesuchern gerettet werden. Es handelt sich um das erste öffentliche Auftreten der 1946 ins Leben gerufenen lettristischen Bewegung. Mit Isidore Isou, einem Emigranten aus Rumänien, verfügen die Lettristen über eine schillernde Künstlerfigur, die mit ihren öffentlichkeitswirksamen Auftritten die Bewegung in die Presse bringt. Mit Filmen wie «Traité de bave et d’éternité», dessen Aufführung die Lettristen 1951 mit Störungen am Filmfestival von Cannes erzwingen, sucht Isou die narrativen und formalen Zwänge des damals dominierenden italienischen Neorealismus und französischen und amerikanischen Film noir aufzubrechen. In seinen filmischen Experimenten läutet er die europäische Kinoavantgarde der Nachkriegszeit ein, die in den 1960er-Jahren jenseits des Autorenfilms des britischen Free Cinema und der französischen Nouvelle vague eine Phase radikaler Erneuerung erlebt. Isou ist es auch, der in seinem 1952 veröffentlichten Text «Traité d’économie nucléaire: le soulèvement de la jeunesse» der Jugend eine ausserordentliche Rolle in der Gesellschaft zuspricht und sie dazu aufruft, als das «neue Proletariat» gegen Unterdrückung zu kämpfen. Bereits vier Jahre zuvor, also 20 Jahre vor 1968, haben er und einige Lettristen das Quartier Latin mit Plakaten beklebt, auf denen zu lesen ist: «12 000 000 werden die Strassen erobern, um die lettristische Revolution zu machen.»

Der Lettrismus ist direkter Vorläufer und Vorbild einer weiteren Bewegung, die sich dem damaligen Konformismus in Kultur und Gesellschaft radikal entgegenstellt: den Situationisten. In der Tradition der Surrealisten und Dadaisten stehend, geht es der situationistischen Bewegung um die radikale Umformung von bestimmten, oft alltäglichen «Situationen», um damit Neuinterpretationen von Realitäten anzubieten und herkömmliche Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen. Wie ihr Begründer und wichtigster Vertreter Guy Debord 1958 in der ersten Ausgabe der «Internationale situationniste» schreibt, werden diejenigen siegen, «die es verstanden haben, die Unordnung zu schaffen, ohne sie zu lieben». Unmittelbaren Einfluss auf die 68er-Bewegung hat Debord mit seinem Schlüsselwerk «La société du spectacle» von 1967, in dem er die zunehmende Entfremdung der Menschen voneinander in einer durch Massenmedien und Warenfetischismus bestimmten Konsumgesellschaft beschreibt. In der Gesellschaft des Spektakels sind die Menschen zu blossen Zuschauern degradiert, wodurch eine echte Kommunikation verunmöglicht wird. Wichtig für die späteren «68er» ist aber nicht nur die situationistische Gesellschaftsanalyse, sondern vor allem auch ihr revolutionäres Selbstverständnis. Dieses wird beispielsweise in der situationistischen Broschüre «De la misère en milieu étudiant» ausgedrückt, die im Herbst 1966 an der Universität Strassburg verteilt wird. Darin kritisieren die Situationisten die Entfremdung der Studenten und rufen sie zur Revolution auf. Mit dieser Aktion, die von Störungen des universitären Betriebs begleitet ist, findet die situationistische Bewegung erstmals grössere Beachtung in der Öffentlichkeit. Ihre Broschüre wird in mehrere Sprachen übersetzt, immer wieder neu aufgelegt und erlangt entgegen den Absichten ihrer Verfasser Kultstatus. Dennoch bleiben die Situationisten, wie vor ihnen die Lettristen, eine marginale Gruppe, die sich bewusst dem kulturellen Mainstream entzieht und nur punktuell für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt.

Beatniks und Provos

Eine breitere Rezeption erfährt eine andere, in den 1950er-Jahren in den USA ursprünglich als Künstlerboheme entstandene Subkultur: die Beatniks. Desillusioniert vom konsumbesessenen Nachkriegsamerika und begeistert von der afroamerikanischen Musikkultur, insbesondere vom Bebop, dieser von Miles Davis, Charlie Parker und Dizzy Gillespie geprägten neuen Stilrichtung im Jazz, formiert sich um Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William Burroughs und Gary Snyder in New York und San Francisco Mitte der 1950er-Jahre eine Szene von Beat-Poeten. Wie Norman Mailer 1957 in «White Negro» schreibt, haben die Beatniks wie auch die sogenannten Hipster eine Vorliebe für Marihuana und Jazz, verfügen über wenig Geld und glauben, die Gesellschaft sei ein Gefängnis des Nervensystems. Während Ginsberg in seiner oftmals live vorgetragenen Gedichtsammlung «Howl» seine tiefe Abscheu vor der bigotten amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, singt Jack Kerouac in seinem Reiseroman «On the Road» eine Hohelied auf die individuelle Freiheit der Aussteiger. Die Literatur und Performances der Beat-Poeten finden schon bald in europäischen Künstler- und Literatenkreisen Widerhall, insbesondere in Frankreich, wo in den 1950er-Jahren weite Teile der literarischen Bohemeszene zu einer politischen Literaturszene mutiert, vor allem nachdem sich französische Existentialisten um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir den poststalinistischen Kreisen einer sich neu orientierenden Linken angenähert haben. Die Texte von Ginsberg und Kerouac werden zur Schlüssellektüre einer Generation, die ihr neues Lebensgefühl aus Poesie, Jazz und Drogen speisen und damit einen Gegenentwurf zum Konformismus der damaligen Zeit manifestieren. In einem gewissen Sinn werden die Beatniks mit ihrer Absage an Gesellschaft und Politik zu Vorläufern der Hippies, die als Flower-Power-Bewegung ab Mitte der 1960er-Jahre, wiederum von den USA ausgehend, nicht ein Engagement innerhalb, sondern den Ausstieg aus der Gesellschaft suchen.

Anders sieht es bei den sogenannten Provos aus, die vor allem in Amsterdam auftreten und gezielt kulturelle Subversion und politischen Protest miteinander verbinden. Wie Daniel Cohn-Bendit, der Studentenführer im Pariser «mai 68», rückblickend feststellt, haben die niederländischen Provos einen nachhaltigen Einfluss auf ihn und seine Mitstreiter gehabt. In einer ihrer Aktionen stören sie 1966 eine Hochzeitsfeier des niederländischen Königshauses mit Rauchbomben und erregen damit weltweit Aufsehen. Um ihre politischen Forderungen durchzusetzen, arbeiten die Provos auch mit der aufkommenden Neuen Linken zusammen. Dazu gehören verschiedene politische Gruppen und Zeitschriften, die in den späten 1950er- und vor allem in den 1960er-Jahren entstehen und sich von der Alten Linken abgrenzen. Sie berufen sich auf trotzkistische oder anarchistische Vorbilder oder verehren Mao und die chinesische Kulturrevolution. Um Zeitschriften wie «Socialisme ou Barbarie» in Frankreich und «New Left Review» in Grossbritannien sammeln sich Intellektuelle, die eine grundlegende Erneuerung des Marxismus anstreben und jenseits ökonomistischer Reduktion linke gesellschafts- und kulturkritische Entwürfe anbieten.

Von den Theorien der New Left beeinflusst sind auch die sich in den 1960er-Jahren radikalisierenden studentischen Organisationen wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der sich 1961 von der Sozialdemokratischen Partei getrennt hat. Die Students for a Democratic Society, ihr US-amerikanisches Pendant, verabschieden im Sommer 1962 das «Port Huron Statement», in dem sie den Rassismus gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung, die Gefahren der Atombombe, den Überfluss in der Industriegesellschaft und die Unterernährung in den Entwicklungsländern heftig kritisieren und diese Zustände mit der Apathie der amerikanischen Gesellschaft erklären. Rhizomartig überspannen all diese Ideen, Strömungen und Gruppen die Vorgeschichte zu «1968». Sie sind nicht nur Vorboten, sondern sie dienen den Akteuren von «1968» auch als intellektuelle, künstlerische und subkulturelle Referenzsysteme, die sie aufnehmen, neu interpretieren und auf die eruptive Situation im Jahr 1968 anpassen.

Hochkonjunktur in der Schweiz

Auch für die Schweiz beginnen nach dem Zweiten Weltkrieg die «goldenen dreissig Jahre». Es ist eine Phase des Wirtschaftswachstums und Wohlstands, die bis zur Ölkrise und Rezession Mitte der 1970er-Jahre andauert. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern stellt jedoch das Kriegsende für die Schweiz weder in wirtschaftlicher noch in politischer Hinsicht eine Zäsur dar. Das Land verfügt über einen intakten Produktionsapparat und reichlich vorhandene Kapitalreserven. Bereits Ende der 1940er-Jahre sind die meisten Regulierungen des Kriegswirtschaftssystems abgebaut. Mit geringen Steuerbelastungen und minimalen staatlichen Reglementierungen bestehen äusserst liberale Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft. Gegen aussen löst sich die Schweiz rasch aus der anfänglichen Isolation durch die Alliierten, die dem Land wirtschaftliche und finanzielle Kooperation mit NS-Deutschland vorwerfen. Im aufziehenden Kalten Krieg positioniert sich die Schweiz trotz der offiziell deklarierten Neutralität bedingungslos auf der Seite der «freien Welt» und gilt aufgrund ihrer langen Tradition des Antikommunismus als vertrauenswürdiger Partner im westlichen Allianzsystem.

Trotz dem Abseitsstehen beim Aufbau der internationalen Nachkriegsordnung gelingt es der Schweiz, günstige Bedingungen für ihre Aussenwirtschaft auszuhandeln. Die Exportindustrie mit ihren Hauptbranchen Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik und Nahrungsmittel sowie Banken und Finanzinstitute entwickeln sich zum Zugpferd der schweizerischen Volkswirtschaft und verhelfen dem Land zu einem Spitzenplatz in der sich zunehmend globalisierenden Weltwirtschaft. Die geringe staatliche Kontrolle erweist sich vor allem für den Aufstieg des schweizerischen Finanzplatzes als äusserst vorteilhaft.

Einen weiteren wichtigen Faktor des Wirtschaftsbooms bildet die intensiv betriebene Rekrutierung von Arbeitsimmigranten aus südeuropäischen Ländern, insbesondere aus Italien. Da ihnen nur sehr niedrige Löhne bezahlt werden, tragen die ausländischen Arbeitskräfte dazu bei, dass der Ausbau der Schweizer Industrie, wo noch über 40 Prozent der Beschäftigten arbeiten – mehr als in den meisten westlichen Industriestaaten damals –, kostensparend geschieht und ein Teil der kostenintensiven Modernisierung von Industrieanlagen mit Verzögerung stattfindet. Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte an der berufstätigen Bevölkerung steigt zwischen 1950 und 1970 von 8,8 auf 22 Prozent. Die bereits früh zum Ausdruck gebrachte Skepsis der Gewerkschaften gegenüber der Arbeitsimmigration wird durch den Umstand gemildert, dass der «Import» von wenig qualifizierten ausländischen Arbeitskräften manchem einheimischen Arbeitnehmer den Aufstieg in höhere Positionen ermöglicht. Zudem bleiben die ausländischen Arbeitskräfte aufgrund des im Ausländergesetz von 1931 festgelegten Rotationsprinzips «Gastarbeiter» im eigentlichen Sinn und werden von Seiten der Behörden wie auch von Wirtschafts- und Gewerkschaftskreisen als Konjunkturpuffer betrachtet, denen der Status gleichgestellter Mitglieder der schweizerischen Gesellschaft verwehrt bleibt.

Die Ende der 1940er-Jahre beginnende Phase der Hochkonjunktur beschert der Schweiz Jahreswachstumsraten von bis zu 5 Prozent. Zwischen 1950 und 1970 steigt das jährliche Bruttosozialprodukt von 19,9 auf 93,9 Milliarden Franken. In der gleichen Zeitspanne verdreifacht sich das Handelsvolumen beinahe: Nachdem 1950 Waren für 3,9 Milliarden Franken exportiert wurden, sind es 1970 Güter im Wert von 22,1 Milliarden. Gleichzeitig vergrössert sich die Wareneinfuhr von 4,5 auf 27,9 Milliarden. Zum konjunkturfördernden Investitionsschub und Bauboom der 1950er- und 1960er-Jahre trägt auch der massive Nachholbedarf im Bereich der Infrastruktur bei. Die Ausgaben für die Bautätigkeiten im Auftrag der öffentlichen Hand nehmen zwischen 1950 und 1970 von 0,7 auf 6,8 Milliarden Franken zu. Der wirtschaftliche Aufschwung wird nur durch kurzzeitige Einbrüche gestört, wobei diese aufgrund der weiterhin verbreiteten Erinnerung an die Rezessions- und Krisenzeit der 1930er-Jahre aber eine beachtliche Wirkung haben. Dennoch beginnt der Bundesrat angesichts konjunktureller Überhitzungen und zunehmender Inflation punktuell konjunkturdämpfende Massnahmen zu ergreifen, die vor allem auf den Bau- und Finanzsektor abzielen.

Wie das Beispiel des Nationalstrassennetzes, des grössten Infrastrukturprojekts der Schweizer Nachkriegsgeschichte, zeigt, unterstützt die grosse Mehrheit der Bevölkerung diese «Investitionen für die Zukunft». In einer Volksabstimmung von 1958 sind 85 Prozent der Stimmbürger damit einverstanden, dass der Bund die Kompetenz für den Ausbau des Strassennetzes erhält. Die geplanten 1900 Kilometer Nationalstrassen sollen die Ansprüche des Individual- und Güterverkehrs wie auch die steigenden Mobilitätswünsche weiter Teile der Bevölkerung erfüllen. Das Auto wird zusehends zum individuellen Statussymbol und zum Indikator gesellschaftlichen Wohlstands stilisiert. In den 1950er-Jahren setzt eine eigentliche Massenmotorisierung ein, sodass sich zwischen 1950 und 1970 der Bestand an Personenwagen fast verzehnfacht. Als weiteres Zeichen für den kaum in Frage gestellten Fortschrittsglauben und die Vorrangstellung wirtschaftlicher Bedürfnisse ist die Nutzung der Atomenergie zu nennen, die damals in der Bevölkerung noch wenig Bedenken auslöst. Mit einer überwältigenden Mehrheit von über 77 Prozent nehmen die Stimmbürger 1957 den Verfassungsartikel zur Atomenergie an, und das Parlament verabschiedet 1959 nahezu geschlossen das Atomgesetz.

Babyboom und Massenkonsum

In den 1950er- und 1960er-Jahren macht die Schweiz grundlegende demografische Veränderungen durch. Die Gesamtbevölkerung wächst zwischen 1950 und 1970 um beinahe 30 Prozent (1950: 4,715 Mio.; 1960: 5,429 Mio.; 1970: 6,269 Mio.), eine der höchsten Wachstumsziffern in Europa. Aufgrund dieses starken Wachstums prognostizieren Studien zu Beginn der 1960er-Jahre für die Jahrtausendwende eine Wohnbevölkerung von zehn Millionen, was sich auch auf die damaligen Planungen im Infrastrukturbereich auswirkt. Ein Grund für die Bevölkerungszunahme sind die hohen Geburtenraten, die bereits während des Zweiten Weltkriegs anzusteigen beginnen. Ab Mitte der 1960er-Jahre kommt diese erste Generation des «Babybooms» ins Jugendalter und bildet die kritische Masse des jugendlichen Aufbruchs jener Zeit. 1955 kommen 17,1 Geburten auf 1000 Einwohner, 1960 17,6, und die Zahl steigt auf 19,2 im Jahr 1964. Danach gehen die Geburtenzahlen kontinuierlich zurück, eine Zäsur, die mit dem Aufkommen der empfängnisverhütenden Pille zusammenhängt und als «Pillenknick» bezeichnet wird. 1970 sind es noch 15,8 Geburten auf 1000 Einwohner, 1975 noch 12,3 und 1980 nur noch 11,6.

Ein weiterer Grund für das Bevölkerungswachstum in der Schweiz sind die steigenden Einwanderungszahlen. 1950 leben 285 446 Ausländerinnen und Ausländer im Land, was einem Anteil von 6,1 Prozent an der gesamten Wohnbevölkerung entspricht, 1960 sind es 584 739 (10,8 Prozent) und 1970 liegt die Zahl bei 1 080 076 (17,2 Prozent). Auch die Binnenwanderung vom Land in die Städte bringt nachhaltige demografische Veränderungen mit sich und verstärkt die Urbanisierung der Schweiz und das Anwachsen der Ballungszentren. Nachdem während des Zweiten Weltkriegs nur gerade ein Drittel der Menschen in Städten mit einer Einwohnerzahl von über 10 000 gewohnt haben, sind es 1970 bereits 45 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Eine treibende Kraft des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Schweiz ist der in den 1950er- und 1960er-Jahren massiv zunehmende Privatkonsum, der nicht zuletzt mit der steigenden Kaufkraft weiter Teile der Bevölkerung sowie technologischer Innovationen und automatisierter Massenproduktion zusammenhängt. Während zwischen 1950 und 1960 der Reallohn in der Schweiz um 20 Prozent steigt, wächst er in den 1960er-Jahren um weitere 40 Prozent. Der schnelle Ausbau des Telefonnetzes, die beinahe flächendeckende Verbreitung des Radios und die Einführung des Fernsehers, das 1953 den Versuchsbetrieb aufnimmt, sind Zeichen für den sich rasch ausbreitenden Wohlstand, aber auch für Zäsuren im Bereich der Massenkommunikation. 1953 sind erst 920 Fernsehkonzessionen gelöst worden, 1968 steigt die Zahl auf über eine Million, und im gleichen Jahr strahlt das Schweizer Fernsehen erstmals Programme in Farbe aus. Auch in anderen Lebensbereichen treten Konsumgüter als technische Hilfsmittel und gesellschaftliche Statussymbole ihren Siegeszug an. Wie eine viel beachtete Umfrage der Wochenzeitschrift «Beobachter» bei ihrer Leserschaft zeigt, haben 1950 11 Prozent der Haushalte einen Kühlschrank, ebenso viele ein Privatauto. 1960 wiederholt die Zeitschrift die Umfrage und gibt an, dass nun 55 Prozent der Haushalte einen Kühlschrank und 22 Prozent ein Auto besitzen. Auch andere Haushaltsgeräte gehören 1960 bei einer grossen Mehrheit der befragten Familien zur Ausstattung: 87 Prozent besitzen einen Staubsauger, 73 Prozent eine Waschmaschine, 66 Prozent Dampfkochtöpfe und 65 Prozent ein Bügeleisen mit Temperaturregler. Solche Medienberichte tragen dazu bei, dass der Besitz von Konsumgütern und der nach aussen sichtbare materielle Wohlstand zunehmend als wichtig betrachtet werden, nicht zuletzt in Erinnerung an die Entbehrungen vergangener Kriegs- und Krisenzeiten.

Insgesamt kommt es zu einer merklichen Verbesserung des materiellen Lebensstandards für breite Bevölkerungskreise und so auch zur Vorstellung zunehmender sozialer «Nivellierung» der schweizerischen Gesellschaft, obwohl weiterhin beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Kaufkraftklassen bestehen und die Erhöhung der Reallöhne angesichts des Preisanstiegs nur teilweise in den Konsum von Gütern umgesetzt werden kann. Mit der Konsolidierung der konsumorientierten Massengesellschaft stellt sich zwar das Bild einer gesellschaftlichen Uniformierung ein, was sich im Konsumverhalten und in der Orientierung am «American way of life» zeigt, gleichzeitig beginnen sich aber mit dem Ausbrechen aus einer materiell prekären Lebenssituation allmählich neue Möglichkeiten zu eröffnen, die eine individuelle Lebensgestaltung erlauben und soziokulturelle Ausdifferenzierungen zur Folge haben, wie sie sich zunächst in der Freizeitgestaltung ausdrücken.

Soziale Stabilität und politischer Konsens

Als wichtige Bedingung für das Wachstum der schweizerischen Volkswirtschaft erweist sich die in den 1950er-Jahren konsolidierte soziale Stabilität. Arbeitsfrieden und Einbindung verschiedener Interessengruppen in politische Entscheidungsprozesse verschmelzen zum handlungsleitenden Prinzip der sozialen Integration. Die teilweise heftigen sozialen Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt unmittelbar nach dem Krieg sind Anfang der 1950er-Jahre grossteils beigelegt. Die mit dem Friedensabkommen in der Metallindustrie von 1937 eingeläutete Phase der Sozialpartnerschaft und Gesamtarbeitsverträge erlebt in den 1960er-Jahren ihre Hochphase. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der politischen und administrativen Funktion von Interessenverbänden in den Wirtschaftsartikeln von 1947 wird ein weiterer Schritt in Richtung Verhandlungsdemokratie getan. Die vorparlamentarischen Verhandlungsmodalitäten sollen das Risiko eines Referendums und einer möglichen Ablehnung der Gesetze in den unberechenbaren Volksabstimmungen verringern.

Mit der Verankerung des Familienschutzartikels (1946) sowie der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (1948) und Invalidenversicherung (1961) verstärkt der Bund zudem sein sozialpolitisches Engagement. Andererseits üben sich die Behörden in den Gebieten der Kranken-, Mutterschafts- und Arbeitslosenversicherung in Zurückhaltung und machen weitgehende Konzessionen an die Wirtschaft und Industrie. Der schweizerische Sozialstaat ist weit entfernt vom damaligen Wohlfahrtstaatsmodell der skandinavischen Länder. Zudem sind die weiterhin verweigerten politischen Rechte der Frauen und deren Benachteiligungen bei den Bürgerrechten Indizien für die Verbreitung diskriminierender Antworten auf einzelne gesellschaftspolitische Fragen. Dies zeigt sich in den überaus harschen Reaktionen auf das 1958 erschienene Buch «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten, das die umfassende Diskriminierung der Frauen in der Schweiz aufzeigt. Ein Jahr später lehnen die Schweizer Männer im Verhältnis von 2 zu 1 das Frauenstimmrecht ab.

Auch in weiteren innenpolitischen Bereichen sind die 1950er- und 1960er-Jahre eine Weiterführung der beiden vorangehenden Jahrzehnte. Konkordanz und Konsens werden von den etablierten Parteien nun endgültig als Grundsatz der Schweizer Politik akzeptiert. Mit dem bereits 1943 erfolgten Eintritt des Sozialdemokraten Ernst Nobs in den Bundesrat und der 1959 eingeführten «Zauberformel» kommt es zur Integration der Sozialdemokraten und zur Festigung des parteipolitischen Proporzes in der Landesexekutive, der auch durch die vorübergehende Abwesenheit der Sozialdemokraten nach dem Rücktritt von Max Weber 1953 als Bundesrat nicht grundsätzlich erschüttert wird. Gestützt wird diese Konkordanzpolitik durch das eidgenössische Parlament, in dem die vier Bundesratsparteien zwischen 80 und 90 Prozent der Sitze besetzen.

So bleibt es zunächst vor allem dem Landesring der Unabhängigen und der Partei der Arbeit vorbehalten, eine oppositionelle Statistenrolle zu spielen. Mit der Gründung der Nationalen Aktion (1961) und der Vigilance (1964) kommen weitere Aussenseiterparteien hinzu. Als rechtspopulistische Parteien agieren sie vor dem Hintergrund einer Revitalisierung des sogenannten Überfremdungsdiskurses, die zu einer starken Politisierung der Migrationsthematik führt und sowohl von staatlichen Behörden als auch von weiten Teilen der Politik und Gesellschaft, inklusive Sozialdemokratie und Gewerkschaften, mitgetragen wird. 1965 lanciert die Demokratische Partei des Kantons Zürich im Zuge der hitzigen Debatte über das «Italien-Abkommen» die erste fremdenfeindliche Volksinitiative der Nachkriegszeit.

In den wiederbelebten Überfremdungsdiskurs der 1960er-Jahre fliessen auch Traditionen der in den 1930er-Jahren als Abwehrkonzept gegen die totalitären Nachbarstaaten entworfenen «Geistigen Landesverteidigung» ein, in der die Vorstellung vom «Schweizerischen» als Gegenpart zum «Fremden» eine Leitidee darstellt. Als homogenisierende Gemeinschaftsideologie besitzt sie weiterhin eine kohäsive und identitätsbildende Funktion für die schweizerische Gesellschaft. Ebenfalls aus der «Geistigen Landesverteidigung» entwickelt sich der weit verbreitete Antikommunismus, der nun mit umgekehrten Vorzeichen – Antikommunismus statt Antifaschismus – als stabilisierende Ideologie bis weit in die Sozialdemokratie eine integrative Wirkung hat. In Anlehnung an die in den 1950er-Jahren unter der Ägide des Senators Joseph McCarthy stattfindende Kommunistenhetze in den USA kann von einem schweizerischen McCarthyismus gesprochen werden. Es erstaunt wenig, dass die sowjetische Niederschlagung des Ungarnaufstands von 1956 die grösste Welle von Massenmobilisierungen und Solidaritätskundgebungen der Nachkriegsschweiz auslöst. In dieser Phase des Kalten Kriegs erfährt die politische Überwachung durch staatliche Organe einen weiteren Ausbau. Als Instrument zur Bekämpfung innerer Umtriebe, die im Zeichen des damaligen antikommunistischen Konsenses offenbar in erster Linie von links kommen sollen, übernimmt der Staatsschutz eine repressive und disziplinie-rende Funktion, die die Akteure der 68er-Bewegung noch nachhaltig zu spüren bekommen werden.

Jugend- und Popkultur

Auch in der Schweiz beginnen die Wohlstandsjahre Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre ihre Wirkung auf die damalige Jugend zu zeigen. Sie ist die erste Generation, die nichts anderes als gesellschaftliche Stabilität kennt, die sich im Zeichen der Hochkonjunktur kaum Sorgen um einen Arbeitsplatz machen muss. Dank den Bildungsreformen schreiben sich auch immer mehr Studierende an Schweizer Universitäten ein. An der Universität Lausanne wächst die Zahl der Studierenden von 2429 im Wintersemester 1959/60 auf 3393 im Wintersemester 1969/70, in Genf von 3302 auf 5785, in Freiburg von 1568 auf 2966. Auch an Deutschschweizer Universitäten kommt es zu mehr als einer Verdoppelung der Studierendenzahlen in dieser Zeitspanne, von 2264 auf 5226 in Bern, von 2270 auf 4314 in Basel, von 2978 auf 8387 in Zürich. Ein Grossteil der Jugend unterscheidet sich aber weiterhin kaum von ihren gutbürgerlichen Eltern, ist adrett gekleidet, engagiert sich bei den Pfadfindern und in Studentenverbindungen und will in Beruf und Familie ihre Lebensziele verwirklichen. Auch besteht das kulturelle Angebot in den 1950er-Jahren noch vorwiegend aus Schlagermusik, Heimatfilmen und Folklore.

Allmählich halten jedoch Jazz und Rock’n’Roll auch in der Schweiz Einzug. Musikboxen stehen in den Bars und Cafés, Amateurbands schiessen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden, erste Jazzkeller entstehen in Bern, Basel, Zürich, Genf und Neuenburg. Bereits 1955 begeistert Louis Armstrong an einem Konzert im Berner Casino ein vorwiegend männliches, junges Publikum. 1960 gibt er vor 4000 Leuten ein Konzert in Zürich. Dabei kommt es zu Ausschreitungen, und die Veranstaltung wird von der Polizei abgebrochen. Auch die «Halbstarken» geraten ab 1960 zusehends ins Blickfeld der Öffentlichkeit, und es mehren sich reisserische Artikel in der Presse, die von «verwahrlosten und kriminellen Jugendlichen» und von einem «Halbstarken-Problem» in Schweizer Städten sprechen. 1963 wird ihnen in Zürich sogar verboten, in ihrer Kleidung an öffentlichen Veranstaltungen wie dem Eidgenössischen Schützenfest aufzutauchen.

Wie in anderen westlichen Ländern beginnt Anfang der 1960er-Jahre auch in der Schweiz der Aufstieg der Popkultur. Auch hier wird sie von der Kulturindustrie, die den Konsumentenmarkt der Jugend entdeckt hat, kräftig angekurbelt. Die neue Musik- und Modekultur der Jugend ist aber auch Ausdruck einer Rebellion gegen die konformistischen Haltungen in der kleinbürgerlichen Gesellschaft und gegen den etablierten Kulturbetrieb. Damit irritiert sie einen Grossteil der Erwachsenenwelt. In deren Augen verstösst die Rock- und Beatmusik gegen die akustischen Normen, lange Haare nehmen sie als Missachtung von Sitte und Anstand wahr.

Die skeptische bis feindliche Stimmung in der Schweizer Presse vermag jedoch nicht zu verhindern, dass die Pop- und Rockmusik bei der jungen Generation ihren Siegeszug antritt. So hören in der Westschweiz Jugendliche scharenweise die Sendungen der französischen Radiostation Europe nº 1, lesen die 1962 in Frankreich lancierte Zeitschrift «Salut les copains» und verehren Johnny Hallyday, Sylvie Vartan und Eddy Mitchell als Rockidole. Auch unter Deutschschweizer Jugendlichen erfreut sich Europe nº 1, eine der ersten Radiostationen Europas, die Musikprogramme für Jugendliche sendet, grosser Beliebtheit. Wie eine Umfrage von 1967 zeigt, hören 70 Prozent der 17- bis 19-Jährigen den französischen Sender am häufigsten, während es beim Deutschschweizer Sender Beromünster nur gerade 38 Prozent sind. Während sich in der ganzen Schweiz Dutzende von Rockbands formieren und mit ihren Verstärkern und elektrischen Gitarren lauten Sound machen, ist es vor allem in der französischen Schweiz, wo unter dem Begriff «musique Yé-Yé» die Rockmusik einen regelrechten Boom erlebt. 1962 und 1963 finden in Renens die beiden ersten Rockfestivals unter dem Namen «Coupe Suisse de Rock» statt. Als 1962 Johnny Hallyday ein Konzert in Biel gibt, zeigt sich die Presse entsetzt über die Sachschäden, die von Konzertbesuchern verursacht wurden.

Um 1963 und 1964 wird auch die Schweiz von der «Beatlemania» erfasst, und als im Juni 1964 die vier Pilzköpfe aus Liverpool auf ihrem Flug nach Hongkong in Zürich-Kloten zwischenlanden, finden sich nicht nur kreischende Fans auf der Flughafenterrasse, sondern auch die bekannteste einheimische Beat-Band Les Sauterelles, die vergeblich auf ein marketingträchtiges Treffen mit den Superstars wartet. Mitte der 1960er-Jahre entsteht neben Basel vor allem in Zürich mit seinen rund 20 Lokalen, in denen Beat-Bands auftreten können, ein Mekka der Beat-Musik in der Schweiz. 1966 lanciert Jürg Marquard, der spätere Medienunternehmer und Multimillionär, die Zeitschrift «Pop», in der, wie er in der ersten Ausgabe schreibt, «wir Jungen wirklich unter uns sind», und mit der man es den Erwachsenen zeigen wolle, denn sie «haben uns ausgelacht, als wir die Idee für dieses Heft vorbrachten». An Konzerten kommt es immer wieder zu kleineren Scharmützeln mit der Polizei, was die Presse zum Anlass nimmt, eindringlich vor der Gewaltbereitschaft der Jugendlichen zu warnen und von den Behörden resolutes Vorgehen zu verlangen.

Nonkonformisten

Aber auch in anderen Kreisen der schweizerischen Gesellschaft äussert sich seit Mitte der 1950er-Jahre Unzufriedenheit über die Kluft zwischen althergebrachten Werten und den veränderten Lebensformen, zwischen Tradition und Moderne. Auch sie verdeutlichen, dass die 1950er- und 1960er-Jahre eine Umbruchsphase darstellen und dass einzelne Ereignisse und Auseinandersetzungen lange vor 1968 den kritischen Geist von «1968» ankündigen. Zum Kreis der Einzelgänger gehört Kurt Fahrner, der mit seiner Performance-Kunst Öffentlichkeit und Behörden in Basel in Aufruhr versetzt. Im April 1959 stellt er an der Basler «Klagemauer» sein Gemälde «Bild einer gekreuzigten Frau unserer Zeit» aus und verliest dabei sein Manifest «Der grosse Verrat», in dem er die konformistischen Haltungen in der Gesellschaft anprangert. Die Behörden reagieren äusserst heftig, beschlagnahmen Fahrners Bild, das bis 1980 konfisziert bleibt, und verurteilen ihn wegen unzüchtiger Veröffentlichung und Störung der Glaubens- und Religionsfreiheit.

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9783039198764
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