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Britta: »Das schöne Leben«

Seltsam, seltsam, wie wenig unglücklich ich bin …

Ein Samstag im März 2006, eisiger Wind, es schneit – Berlin zeigt sein schäbigstes Gesicht, als ich mich auf den Weg mache, um Christiane Rösinger zu treffen. Anlass ist die Veröffentlichung von »Das schöne Leben«, dem vierten Album ihrer Band Britta. Mit den Vorgängerplatten »Irgendwas ist immer«, »Kollektion Gold« und »Lichtjahre voraus« haben sich Britta den Ruf erspielt, die »traurigsten Menschen von ganz Berlin« zu sein. Gilt das noch immer? Während ich durch den Schnee stapfe, höre ich »Depressiver Tag« auf dem Discman und die stimmungsaufhellende Wirkung des Songs ist erstaunlich. Der auf dem Cover abgebildete, rosafarbene Blüten tragende Baum materialisiert sich vor mir, direkt auf den grauen, matschigen Straßen Kreuzbergs. Die aufmunternde Melodie mit einem Gitarrenlauf zum Verlieben trägt den vermeintlich schwermütigen Text, dessen Botschaft aber grundpositiv ist: Auch der mieseste Tag dauert nur 24 Stunden. Geht vorbei, kein Grund zur Panik!

»Depressiver Tag« ist der älteste Song der Platte, entstanden nach Britta Neanders Tod. Die Schlagzeugerin und Namensgeberin der Band Britta starb im Dezember 2004 nach einer Herzoperation. Kurz darauf wurde Christiane Rösinger schwer krank, noch dazu ging der EfA-Vertrieb pleite, die Band war buchstäblich leidgeprüft. Doch mit dem Musikmachen aufzuhören, kam für Britta nicht in Frage. Auch wenn Christiane die widrigen Umstände eine Zeitlang als Zaunpfahlwink des Schicksals interpretierte, doch alles aufzugeben. »Britta Neanders Tod führte uns die eigene Endlichkeit vor Augen«, sagt Christiane. »Aber Handwerker, Büroangestellte und Taxifahrer machen nach ähnlichen Schicksalsschlägen auch in ihren Berufen weiter. Warum sollte das bei Musikern anders sein?«

Während dieser schweren Zeit entstand ­»Depressiver Tag« – laut Christiane sollte man während trauriger Phasen nicht auch noch deprimierende Musik machen oder hören, die eine:n noch mehr herunterzieht. Dementsprechend ist »Das schöne Leben« weniger düster, sondern lebensbejahend und kämpferisch geraten. »Liebe als Konstrukt« und das Scheitern von Beziehungen sind nicht mehr die vorherrschenden Themen. Soziale Verhältnisse, Ungerechtigkeiten und Kommunikationsprobleme sind in den Mittelpunkt gerückt.

Aber man kann nicht über Britta schreiben, ohne deren Quasi-Vorgängerband Lassie Singers zu erwähnen, zu würdigen und zu lobpreisen. Schon bei den Lassie Singers war Christiane Rösinger für die eher melancholischen Texte zuständig, Almut Klotz für die fröhlicheren. Gemeinsam schrieben sie Songs für jede erdenkliche Gemütslage, der Titel des ersten Albums »Die Lassie Singers … helfen Dir« war Versprechen und Programm. Mit Liedern wie »Ist das wieder so ’ne Phase«, »Leben in der Bar«, »Mein zukünftiger Ex-Freund« und – unerreicht – »Liebe wird oft überbewertet« haben die Lassie Singers ein zeitloses, unerschöpfliches Reservoir konkreter Lebens- und Überlebenshilfe geschaffen. Therapiemusik sozusagen.

Und nun sitze ich mit Christiane Rösinger im Café und bin froh. Auch mir haben sie und die Lassie Singers oft geholfen, meine gesamte Studienzeit ist undenkbar ohne Textzeilen wie »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin, verliebt bin ich sowieso, ich sag’ Mikrokosmos, hallo«, der mehrstimmige Mädchengesang tat ein Übriges. »Es wäre prima, wenn die ganzen Lassie-Fans zu Britta überlaufen würden. Leider hören ja viele Menschen über dreißig auf, sich für neue Bands zu interessieren. Wie erfahren die denn dann von Britta?«, fragt sich Christiane. Aber zu wissen, dass man mit den Lassie Singers so vielen Menschen etwas bedeutet hat, sei schon sehr schön. »Natürlich wäre es toll, von der Musik leben zu können, aber man muss sich vom Star-sein-Wollen lösen. Es ist viel cooler, wenn es nur um die Musik geht«, sagt sie. Doch Britta sind definitiv Stars am Himmel hiesiger Popmusik. Christiane Rösingers Texte sind lebensklug, manchmal traurig, immer weise und zitierfähig wie eh und je. Britta ist die erwachsene Version der Lassies: »Man kann mit 40 nicht mehr singen ›Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht‹. Irgendwann stehen einfach andere Themen an und manchmal macht sich auch eine gewisse Traurigkeit breit.« Aber Depression und Verbitterung können nur bis zu einem gewissen Grad als Triebfeder der Kreativität dienen, die Schwermut darf nicht überhandnehmen. »Texten geht auch mit Erfolg und guter Laune!« Melancholie hin, Depression her, Britta nehmen auf »Das schöne Leben« jedenfalls kein Blatt vor den Mund. In »Menschenfeind« heißt es:

»Alte Zausel, Indieboys, Neocons, Mutanten/ Junge Spießer, Pradafrauen und ihre Anverwandten/ Höhere Töchter, bessere Söhne und eure ganze Schicht/ Ihr denkt, ich kann euch leiden/ aber ich verzeih’ euch nicht«

In »Wer wird Millionär« werden prekäre Lebenssituationen thematisiert, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten angeprangert und außerdem wird die berechtigte Frage gestellt: »Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?« Doch Nine-to-­Five-Berufstätigkeit ist auch nicht wirklich erfüllend, wie der Song »Büro, Büro« zeigt. Christiane singt: »… und sie rennen rum/ und raus kommt doch nur/ Smoke on the Water, Baby …« Wie wahr! Aber wie soll, wie kann man leben? Berlin-Mitte-Bohémien oder Frankfurter Banker – welches Modell verspricht mehr Glück? Auch das »Leben in der Bar« kann auf Dauer verdammt anstrengend sein, davon erzählt »Heimi Heimato«, ein anrührendes Stück über das dringende Bedürfnis, nach einer langen Nacht einfach nur noch nach Hause zu wollen, »nichts mehr reden, nur noch liegen, nur noch sein«.

Gut möglich, dass man sich deshalb nach »Kissingen und Bettingen« sehnt, weil man in der Kneipe von einem Zeitgenossen vollgequatscht wurde, wie er in »Du sprichst in Rätseln« porträtiert wird: »Du sprichst in Rätseln/ in Bildern und Zeichen/ die sich stets gleichen«, aber man weiß längst: »Das Leben ist konkret«, wie es am Ende dieses Songs heißt. Die Platte ist geprägt von wohltuender Weisheit und Erfahrung, die Abgeklärtheit zu nennen zu heftig wäre. Vielmehr herrscht ein leiser, freundlich lächelnder Optimismus, der sich aus dem halbwegs sicheren Wissen nährt, dass am Ende doch alles gut werden kann. Besonders schön kommt diese Haltung in »Seltsam Seltsam« zum Ausdruck: »Es ist gar nicht so schlimm/ und es geht auch schnell vorbei/ seltsam seltsam, wie wenig unglücklich ich bin/ es liegt wohl an der Sommerzeit.« Das ist Lebensmut mit kleinen Rissen und einem schief genähten Saum, aber ungemein aufbauend. Ganz nebenbei ist Britta mit diesen Zeilen eine moderne Version des alten Spruchs von Martinus von Biberach gelungen (»Ich lebe und weiß nicht wie lang/ Ich sterbe und weiß nicht wann/ Ich reise und weiß nicht wohin/ Mich wundert’s, dass ich so fröhlich bin«). Doch bei allen grandiosen Textzeilen – welchen Stellenwert hat die Musik bei Britta? »Die ist natürlich wichtig, sonst könnte man ja auch Gedichte schreiben«, sagt Christiane und Brittas Singer-/Songwriter-Rock wird auf der neuen Platte von allerlei feinem Beiwerk geschmückt. So ertönt bei »24 Stunden sind kein Tag« ein Cello, Mandolinen und Keyboards beflügeln die ohnehin sehr lebhaften (Bass-)Gitarren und Christianes Stimme hält alle Fäden zusammen. Produziert hat wieder Herman Herrmann, der auch bei der kommenden Tournee dabei sein wird. Und um noch einmal eine Textstelle zu zitieren: »… und für uns bleibt nur das schöne Leben«, singen Britta in »Wer wird Millionär«.

»Nur«? Die Pradafrauen sollen sehen, wo sie bleiben. Wir haben Britta.

Tori Amos: »American Doll Posse«

»Seelenstriptease«, »Exorzismus« – diese Begriffe fallen häufig im Zusammenhang mit Tori Amos, Pianistin, Songwriterin, Exzentrikerin. Die in North Carolina geborene und in Cornwall lebende Amos kehrt mit jedem Song ihr Innerstes nach außen, treibt öffentlich, für alle sicht- und hörbar, ihre Dämonen aus. Ihre Schönheit trug sicherlich dazu bei, die Wahrnehmung zu befördern, aber ihre Musik ist zu intensiv, die Texte zu drastisch, um Amos zu »just another pretty face« zu degradieren. Toris Liveauftritte – sie allein mit ihrem geliebten Bösendorfer Piano – sind eher Psychodrama als Popkonzert, das Publikum liegt ihr zu Füßen. Seit ihrem Album »Little Earthquakes« (1992) und Hits wie »Professional Widow«, »Crucify« und »Cornflake Girl« beweist sie außerdem, dass auch anspruchsvolle Singer-/Songwriterkompositionen zu Charterfolgen werden können. Amos gilt als hochbegabt, empfindsam und emotional – in früheren Zeiten hätte man sie wohl »überspannt« genannt. Tori Amos spielt aber nicht die Kapriziöse, um gewollt geheimnisvoll und kompliziert zu erscheinen: Ihre Lebensgeschichte beinhaltet viele düstere Momente. Die erlittene Vergewaltigung durch einen Tramper im Jahr 1985, mehrere Fehlgeburten – harter Stoff, der bewältigt werden muss. Ihre erste Single »Me And A Gun« thematisiert offen das Vergewaltigungstrauma. Manchmal ist ein Leben zu wenig, um Geschehenes zu verarbeiten – und so ist es nur einleuchtend, dass sich Tori Amos auf ihrer neuen Platte in fünf Frauenfiguren aufspaltet.

Die »American Doll Posse« besteht aus weiblichen Charakteren, die ihre Vorbilder in der griechischen Mythologie haben: Fotografin Isabel repräsentiert Artemis, Göttin der Jagd. Die blonde Santa verkörpert Aphrodite, die vom Leben gebeutelte Clyde ist die Göttin der Unterwelt, Persephone. Und die kämpferische Pip ist, klar, Athene, Göttin der Weisheit und Kriegslist. Die »echte« Tori komplettiert den Reigen. Jede einzelne Figur hat auf Tori Amos’ Website einen eigenen Blog, viele überwiegend weibliche Fans tummeln sich dort bereits begeistert. »American Doll Posse« beinhaltet zudem einen politischen Aspekt: Amos bezeichnet die amerikanische Regierung als monotheistisch und patriarchalisch – im Gegensatz zum griechischen Pantheon, das demokratisch, polytheistisch und durchaus matriarchalisch organisiert war. Alle fünf »Dolls« thematisieren auf ihre eigene Weise das US-amerikanische System, die ihm innewohnende Bigotterie, die Stellung der Frauen. Okay, dieser Überbau ist anstrengend und hyperambitioniert und möglicherweise überstrapaziert Tori (oder wer von den fünfen?) den Rahmen, den Popmusik bieten kann. Aber möglicherweise ist dieses Album – 23 Songs in achtzig Minuten – in all seiner Schizophrenie und Kleinteiligkeit Amos’ persönlichstes und konsequentestes Werk so far. Tori Amos liebt Themen- und Konzeptalben ohnehin: »Scarlett’s Walk« aus dem Jahr 2002 zum Beispiel verarbeitet anhand einer Reise durch Amerika den 9/11-Schock; »Strange Little Girls« (2001) ist ein reines Coveralbum, auf dem sie Songs männlicher Musiker interpretiert – auf dieser Platte zelebriert sie ihren Hang zum Verkleiden, dem Schlüpfen in andere Rollen, das Cover zeigt sie in vier verschiedenen Stylings.

Auf »American Doll Posse« lebt Tori Amos inhaltlich und musikalisch alle Facetten ihres Könnens aus: Teils opulent instrumentiert, teils nur auf Stimme und Piano reduziert, fügen sich die Songs zu einem großen, sinnhaften Ganzen. Aufgrund der schieren Materialmenge besteht natürlich die Gefahr, dass einzelne Songs untergehen, deshalb seien hier einige besonders hervorgehoben: der Opener und Anti-Bush-Song »Yo George« mit der schönen Zeile »I salute to you Commander/ and I sneeze/ ’Cause I have now an allergy/ to your policies it seems«. Der countryeske Saloonstomper »Big Wheel« mit Barpiano und Geige wurde bereits als Single ausgekoppelt, das mit eingängigen Synthiebeats unterlegte »Bouncing Off Clouds« bietet Tori großen stimmlichen Spielraum. Das exaltierte »You Can Bring Your Dog« besticht mit dem Wechsel von Heavy-Metal-Gitarren zu Toris expressivem Pianospiel. Tori Amos zitiert auf diesem Album auch gern alte Helden wie die Beatles und ihr großes Vorbild Robert Plant, bleibt aber, so paradox es scheint, immer sie selbst. Pardon, eine von fünfen.

Holly Golightly & The Brokeoffs: »You Can’t Buy A Gun When You’re Crying«

Wesentlich entspannter, thematisch aber ebenfalls für die Ewigkeit bestimmt, geht es auf Holly Golightlys neuem Album zu. Auch wenn die zauberhafte Engländerin mit dem (angeblich echten) glamourösen Namen kein Topstar ist, kann sie auf einen enormen Plattenoutput und eine treue Fanschar verweisen. In den Achtzigerjahren gehörte sie zum Umfeld des legendären »Wild« Billy Childish und gründete als Antwort auf seine Band Thee Headcoats die Girlband Thee Headcoatees. Im Laufe ihrer mittlerweile gut fünfzehn Jahre währenden Solokarriere und nach -zig Singles, Alben und Gastauftritten bei befreundeten Musikern, beispielsweise auf dem White-­Stripes-Album »Elephant«, konnte sie sich längst davon freimachen, nur im Zusammenhang mit Childish erwähnt zu werden. Ihr charakteristischer Gesangsstil – stets leicht ironisch, tongue-in-cheek – und der reduzierte Sixties-Garage-Sound mit Blues- und ­Girlgroup-Appeal machen sie zu einer unverwechselbaren Künstlerin, die mit schnelllebigem Firlefanz nichts am Hut hat. Geblieben ist über die Jahre ihre Liebe zur Kollaboration: Gemeinsam mit Lawyer Dave und dessen Band The Brokeoffs hat sie mit »You Can’t Buy A Gun When You’re Crying« ein zeitloses Slow-Lo-Fi-Werk geschaffen, das laut Covertext zu Hause aufgenommen wurde. Holly knüpft weniger an ihr früheres Œuvre an, sondern verbeugt sich vor klassischem Blues und Country. Die hauptsächlich verwendeten Instrumente sind Slideguitar und Kontrabass, und zwischen den Polen »Devil Do« (Song Nummer eins) und »Devil Don’t« (letzter Song) erstreckt sich die ganze Bandbreite archaischer Bluesthemen. Angefangen mit Tod und Teufel über Liebe bis zu Alkohol und die-Stadt-verlassen-müssen. Der knochentrocken instrumentierte Opener klingt liebevoll altmodisch, dezent Rockabilly-like. Songs wie »Just Around The Bend«, »Medicine Water«, »So Long«, »Jesus Don’t Love Me Anymore« evozieren eine Stimmung, als wäre man morgens um fünf der letzte Gast in der Bar (oder im Saloon) und hört ­Holly dabei zu, wie sie mit dem Barkeeper über verlorene Liebe singt und dazu den langsamsten Walzer aller Zeiten tanzt. Minimalistischer kann Musik kaum sein: Jeder Ton und jede einzelne gezupfte Saite erzählen ihre eigene melancholische Geschichte. Holly und Dave singen mal gemeinsam, mal abwechselnd, wie einst Lee Hazlewood und Nancy Sinatra. Das muntere »Everything You Touch« ist ein typischer Holly-Song, lakonisch singt sie: »Now I understand you/ Now I don’t/ Everything around you ends up broken«. Diese Zeilen würden auch zu ihrem früheren Girlgroup-Sound passen, aber das Countrykleid steht dem Text hervorragend. »Time To Go« spielt mit einem archetypischen Americana-Topos: À la »Mystery Train« hört man einen Zug in die Stadt hinein- und wieder herausfahren, es geht um einen vagabundierenden Outlaw, Hunde bellen, der Tag bricht an, der Desperado ist aus der Stadt geritten. »Clean In Two« ist eine todtraurige Liebes- beziehungsweise Einsamkeitsballade, eine skelettierte Gitarre unterstreicht mit schrillen Tönen die Seelenpein der Verlassenen. Holly klagt: »These days are longer/ than they need to be/ One more day for me to wait and see«. »I Let My Daddy Do That« klingt wie ein klassisches Traditional mit zurückgenommenem Sound und geklopftem Bass. Beim letzten Track, der ohne Gesang auskommt, wird wild auf Küchengeräten herumgeklöppelt und gejammt, bis auch der Teufel fröhlich auf die Zuckerdose hämmert.

Tracey Thorn: »Out Of The Woods«

Menschen meiner Generation (seit einiger Zeit keine 25 mehr, mit Elektropop der Achtziger aufgewachsen) werden sich mit Tracey Thorns Album »Out Of The Woods« schnell anfreunden. Das heimelige Gefühl stellt sich schon mit dem Erkennen von Thorns Stimme ein, die warm und vertraut, zugleich britisch-distanziert und immer ein wenig traurig klingt. Zur Erinnerung: Tracey Thorn bildete mit ihrem Dauerlebensgefährten Ben Watt das Neo-Jazz-, später Elektronik-Duo Everything But The Girl, dessen größter Hit »Missing« vom Album »Amplified Heart« aus dem Jahr 1994 war. Die zurückhaltende, aber eindringliche Melange aus Dance und Trip-Hop bescherte dem schüchternen Duo aus Hull weltweite Aufmerksamkeit, die beide nicht unbedingt suchten. Tracey Thorn zog ihrerseits die Konsequenzen, wurde dreifache Mutter und wollte mit dem operativen Musikbusiness nichts mehr zu tun haben. Gatte Ben arbeitete weiter als Producer und blieb dem Popbetrieb erhalten. Schenkt man der Legende Glauben, ist niemand Geringerer als Neil Tennant von den Pet Shop Boys für Tracey Thorns Rückkehr zum Pop verantwortlich: Auf einer Party fragte er sie, weshalb sie nicht mehr singe. Tracey kam ins Grübeln und fand keinen wirklichen Grund – die Kinder kann man schließlich nicht immer vorschieben. Tracey begann wieder zu singen, zunächst zu Hause, dann im Studio. Die ersten Songs wurden aufgenommen, zum ersten Mal ohne Watts’ Unterstützung (oder Einmischung, je nach Sichtweise). Die Single »It’s All True«, ein Liebeslied für Ben, gibt die Richtung vor: dezente Reminiszenzen an die Achtziger, ein wenig Erasure, ein Hauch Depeche Mode, verhaltene, aber definitiv vorhandene Tanzbarkeit. Im Video kann man Tracey zwischen unzähligen Büroangestellten kaum ausmachen. Ihre Schüchternheit, ihre Abneigung gegen das Gefilmt- und Fotografiertwerden ist geblieben. Folgerichtig wird es auch keine Tournee zum neuen Album geben: »Out Of The Woods« ist ohnehin eine eher intime Angelegenheit. Die Mischung aus akustischen Folkpop-Balladen und dezenten Dancefloor-Beats wirkt, als habe Tracey ein Mixtape für sich selbst aufgenommen. Song Nummer eins, »Here It Comes Again«, klingt zart und fließend, ein bisschen wie Enya (nicht erschrecken) und ist textlich so melancholisch, wie Traceys Stimme klingt: »Your mother’s blue/ Your father’s too/ It’s in the family.« Sie covert die früh verstorbene New Yorker DJ-Legende Arthur Russell, unterzieht sein »Get Around To It« einer reduziert-clubbigen Neubearbeitung mit kaum hörbaren »Ring My Bell«-Glöckchen im Hintergrund. »Hands Up To The Ceiling«, »Nowhere Near« und »By Piccadilly Station I Sat Down And Wept« sind heruntergedimmte Balladen, die durch den Einsatz von Waldhörnern und Flöten eher nach Herbst als nach Frühsommer klingen und den idealen Resonanzboden für Traceys Stimme bieten. Leicht technoid klingt »Easy«, bei »Grand Canyon« lassen sich Minimal-House-Wurzeln ausmachen – insgesamt ist »Out Of The Woods« also sehr abwechslungsreich geworden, aber es ist kein Durcheinander entstanden. Traceys Stimme ist das verbindende und ordnende Element, das Ruhe, Gelassenheit und wiederentdeckte Liebe zur Musik verströmt. Neil Tennant sei Dank.

Leila: »Blood, Looms & Blooms«

Die 1971 in Teheran geborene und später mit ihren Eltern nach London ausgewanderte Elektrokünstlerin Leila Arab bezeichnet sich selbst als kompromisslos. Ihre Musik sei nicht dafür da, den Erwartungen anderer Menschen gerecht zu werden, sondern einzig und allein »dem Noise zu huldigen«, so Arab in einem Interview. Ihre ersten Platten »Like Weather« und »Courtesy Of Choice« verschafften ihr Respekt und Anerkennung, so wurde Leila beispielsweise von Björk eingeladen, um diese live zu unterstützen. Als kurz hintereinander erst ihre Mutter, dann der Vater starb, war Leila so wütend und traurig über die Unkontrollierbarkeit von Krankheit und Tod, dass sie beschloss, nie wieder Musik zu machen. Doch weil Leila Arab eine getriebene Musikbesessene ist, brach sich die Musik von selbst Bahn. Leila kehrte ins Studio zurück, drehte an den Maschinen und entdeckte wieder den Spaß am Kreieren neuer Sounds. Sie lud alte Freunde wie Specials-Sänger Terry Hall, Trickys Kooperateurin Martina Topley-Bird, Andy Cox (Fine Young Cannibals, The Beat), Verwandte und Kinder ins Studio ein, um in mehreren Livesessions »Blood, Looms & Blooms« aufzunehmen. Die so entstandenen vierzehn Tracks gehören zum Spannendsten und Interessantesten, was man in diesem Jahr bisher zu hören bekam: Noise spielt nicht mehr die erste Geige, nur manchmal dräut und lodert es von hinten und von unten, wie bei der Soundlawine »Mettle«, die mit plätschernden Wassertropfen, singender Säge und enormer Dynamik an die Anfangstage des Bristoler Trip-Hop erinnert. Insgesamt überwiegen versponnene Experimente mit dunklem Grundton, aus den Geräten kommt kaum noch Lärm, dafür poetischer Pop. Leila lässt Tangorhythmen durch ein jazziges Chanson stolpern (»Teases Me«) oder schiebt eine massive Bassdrum mitten in ein von Vogelgezwitscher untermaltes Kinderlied (»Daisies, Cats And Spacemen«). Luca Santucci, die bei »Teases Me« zu hören ist, singt außerdem auf der schrägen Coverversion des Beatles-Songs »Norwegian Wood« und zu den Spinettklängen von »Ur Train«. Überhaupt, die Gastvokalist:innen: Martina Topley-Bird macht aus »Deflect« ein berührendes Modern-Soul-Stück, Leilas Schwester Roya Arab klingt auf »Daisies, Cats …« wie ein Kind, das die Hauptrolle in einem Gruselfilm spielt. Den schönsten Gastauftritt aber hat Terry Hall, dessen unverkennbare Stimme das verschrobene »Time To Blow« mit seinem verschleppten Walzerrhythmus und gesampelten Trompeten schon jetzt zu einem Klassiker macht.

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9783945715970
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