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Читать книгу: «AktenEinsicht», страница 2

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Selbstverständlich kommen auch Fragen zu Tobias – darauf ist sie vorbereitet: »Wann haben Sie Ihre alte Liebe mit Tobias wieder aufgenommen? War Tobias eifersüchtig? Wollte er, dass Sie Kevin verlassen? Wann merkten Sie, dass er besser zu Ihnen passte als Kevin?« und: »Wann wurden Sie eigentlich Kevins überdrüssig?«

Je nach Delikt, sozialem Status, Herkunft und Geschlecht wird Zeug*innen eher geglaubt oder misstraut. So gilt bei Gericht etwa die Grundannahme, dass Polizeibeamt*innen vor Gericht nicht zu Lügen tendieren und ihnen grundsätzlich geglaubt werden könne.10 Denn man geht davon aus, dass Polizeizeug*innen kein Interesse daran hätten, die Unwahrheit zu sagen, und als quasi Berufszeug*innen einen besonders geschulten Blick für das Richtige hätten und der Wahrheit verpflichtet seien. Gleiches gilt für Angehörige von Justiz oder anderen Behörden, denen man grundsätzlich vertraut. Hingegen besteht grundsätzliches Misstrauen, wenn Frauen über Taten wie häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch oder auch schweren Menschenhandel aussagen.

Der Mythos der stets falsch bezichtigenden rachesuchenden Frau, die, etwa um sich einen Vorteil zu verschaffen oder um vielleicht auch nur der verflossenen Liebe zu schaden, Ermittlungsbehörden dreist belügt und Straftaten erfindet, ist hartnäckig und wirkmächtig. Es gibt unendlich viele Vorurteile, wie eine »echte Vergewaltigung« aussehen soll und wie sich ein »echtes Vergewaltigungsopfer« verhalte. Man spricht deshalb von Vergewaltigungsmythen.11 Tatsächlich gibt es keine wissenschaftlich fundierten Zahlen, die beweisen, dass Frauen überproportional Sexualdelikte oder Partnerschaftsgewalt falsch anzeigen.12

Immer noch werden in Gerichtsverhandlungen intimste Fragen zu allen Lebensbereichen gestellt, etwa zum gesamten Vorleben, zu sämtlichen Sexualpartner*innen und -praktiken, zu Freund*innen, Verwandten und Bekannten, einfach allem Erdenklichen, was irgendwie geeignet sein könnte, Zweifel zu säen. Immer wieder kommt es vor, dass Zeug*innen als Lügner*innen beschimpft, verlacht und verunsichert werden, sie werden verächtlich und herablassend befragt, oder es werden einfach Behauptungen in den Raum gestellt, die vor allem dazu geeignet sind, die Zeug*innen aus der Fassung zu bringen, wie etwa: »Könnte es auch daran liegen, dass Sie häufig sexuelle Erlebnisse später bereuen?«, oder: »Wenn Sie schon lange keinen Sex mehr hatten, dann waren Sie womöglich einfach von der Situation überfordert, dass endlich mal einer ernst machte, oder?«

Gern werden auch Fragen gestellt wie: »Trinken Sie häufig zu viel?« »Haben Sie sich oft nicht unter Kontrolle?« »Bereuen Sie häufig etwas, was Sie noch kurz vorher wollten?« Frauen wird unterstellt, sich durch das Verfahren das alleinige Sorgerecht erschleichen zu wollen oder endlich keinen Umgang mehr gewähren zu müssen, oder dass sie einfach mal ihren Vorgesetzten fertigmachen wollten, der sie nicht befördert habe. Auch welch unglaublichen finanziellen Vorteil die Verletzten aus der Falschbezichtigung zögen, wird behauptet.

Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Regel ist, dass anzeigenden Frauen nicht geglaubt wird, dass sie einen Spießrutenlauf vor sich haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende eines Verfahrens ein weiteres Mal Missachtung erfahren haben, leider größer ist, als dass am Ende ein Vergewaltiger angemessen bestraft wird. Häufig ist die strafrechtliche Verfolgung ökonomisch eine Katastrophe für die Betroffenen, etwa wenn der Vergewaltiger oder Misshandler der Ehemann und Alleinverdiener war und ins Gefängnis kommt. Oder wenn der Täter etwa ein Arbeitgeber ist und besonderes Ansehen genießt. Dann wird, selbst wenn er verurteilt wird, die anzeigende Frau in dieser Branche kaum noch eine Anstellung finden, gilt sie doch als schwierig, belastet oder eben als die, die den anderen angezeigt hat. Auch die Schmerzensgeldsummen sind in Deutschland so gering, dass sie, wenn das Geld überhaupt eintreibbar ist, nicht annähernd für das Ausmaß der Folgen angemessen sind.

Claudia S. macht ihre Sache gut. Sie ist bestens auf den Termin vorbereitet, weiß, dass es darum geht, sie zu verunsichern, dass versucht werden würde, sie an einen Punkt zu bringen, sei er noch so abseitig, an dem sie sich in Widersprüche verwickeln, an dem sie lügen würde. Eine altbewährte und beliebte Fragetechnik. Aber Claudia S. lügt nicht, antwortet konzentriert und offen. Sie weiß auf alles eine Antwort, manchmal überlegt sie etwas länger, manche Details erinnert sie nicht mehr genau und kann dies darstellen. Es gibt keine Widersprüche, keine Unsicherheiten. Das Thema Drogen umschiffen alle gemeinsam.

Irgendwann verstehen die Verteidiger, dass sie mit dieser Taktik nicht weiterkommen und Claudia S. mit jeder Frage nur noch glaubwürdiger wird. Sie beantragen eine Pause zur Beratung, stellen danach die Strategie um und keine einzige Frage mehr. Jetzt will man sie nicht mehr in Widersprüche verwickeln, sondern ihr zu gutes Aussageverhalten problematisieren. Ihre Vernehmung wird abgeschlossen, und unmittelbar danach gibt einer der Verteidiger eine kurze Stellungnahme ab, wie sie jeder Verfahrensbeteiligte nach jeder Beweisaufnahme abgeben darf, und erklärt:

»Ich bedaure es, dass ich Frau S. so lange befragen musste. Für sie war es sicherlich eine Qual, und es ist nicht schön, sein Privatleben so ausbreiten zu müssen. Wir würden dies am liebsten auch nicht tun. Aber es ist eine Qual, die man auf sich zu nehmen hat, wenn man einem anderen Menschen die noch viel größere Qual beschert, seine Freiheit einzubüßen, in Untersuchungshaft, womöglich sogar in Strafhaft zu sitzen, unschuldig inhaftiert zu sein.

Claudia S. ist eine phantastische Zeugin. Wir wissen, was uns unser Mandant erzählt, und deshalb mussten wir versuchen, Ihnen nahezubringen, wie sie wirklich ist. Aber, das müssen wir hier einräumen, es ist uns kaum gelungen.

Claudia S. ist, ich will das mal so flapsig sagen, anders als der Angeklagte, eine Zeugin von uns, eine, die vielleicht einen Abschluss als Juristin machen könnte oder in Philosophie, in Psychologie. Wir können uns vorstellen, wie sie Hörsäle füllt oder eine Klinik leitet, ihr steht die Welt offen. Sie ist schlau, eloquent, gewandt. Wenn man sie hier sitzen sieht, ihr zuhört, versteht man alles, was sie weshalb getan hat, und man wünscht ihr aus tiefstem Herzen, dass sie wieder auf die Beine kommt, weg von der Prostitution, hin zu dem Leben, das ihr ihre Eltern so gerne bereitet hätten.

Nur eines versteht man nicht: Weshalb sie mit diesem Angeklagten mehr als einen One-Night-Stand hatte. Sie muss es doch nach kürzester Zeit durchschaut haben, was für ein Typ der Angeklagte ist. Sie muss seine Freunde verachtet haben, seinen Lebensstil, seine Ziele und Werte.

Nie würde man glauben, dass sie noch andere, abgründige, hinterhältige Seiten hat.

Unserem Mandanten ging es nicht anders. Er sah sie und verliebte sich unsterblich. Er himmelte sie an, befand sich im siebten Himmel, den wir alle so gern erreichen möchten. Auch alle seine Freunde mochten sie, bewunderten ihn dafür, sich eine solche Frau geangelt zu haben.

Wie ist das möglich?

Weil sie wandelbar ist, weil sie Phantasie hat, und …«

– hier macht der Verteidiger eine Pause –

»‰ Hohes Gericht – es ist nur meine Meinung – und ich weiß, dass sie nicht von Bedeutung ist –, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Zeugin so überzeugend ist, weil sie sehr, sehr gut lügen kann.«

Selbstverständlich gibt es auch falsch anzeigende Frauen, die eine Vergewaltigung zu Unrecht behaupten, so wie es falsche Anzeigen wegen Brandstiftung, Diebstahl, Raub oder Beleidigung gibt.

Es gibt aber keinerlei belastbare Zahlen dazu, dass es höhere Falschanzeigezahlen bei sexualisierter Gewalt gibt als bei anderen Delikten. Auch die Mär, dass ein Mann, allein dadurch, dass ihm ein Sexualdelikt vorgeworfen wurde, vor dem beruflichen und sozialen Aus stehe, ist durch zahlreiche prominente Beispiele widerlegt.13

»Weil sie jedem erzählen kann, was gerade ins Konzept passt, und sie intelligent und begabt genug ist, das Geschehen so zu drehen, wie es für sie am besten ist. Das muss man hier beachten. Die Aussagen von einfach strukturierten Menschen zu beurteilen, Hohes Gericht, mit Verlaub, das ist einfach. Aber wenn jemand über so viel Intelligenz und Eloquenz verfügt wie diese Zeugin, dann tun wir uns schwer, lassen uns gern blenden, so wie es vor dem Amtsgericht geschehen ist. Mein Mandant versteht bis heute nicht, weshalb es so gekommen ist, weshalb sie ihn plötzlich verlassen hat und weshalb sie ihn mit diesem falschen hinterhältigen Vorwurf belastet. Vielleicht reichte ihr das Leben mit ihm einfach, vielleicht bevormundete er sie zu sehr, war zu eifersüchtig, zu besitzergreifend. In der Welt meines Mandanten ist Emanzipation nicht gerade großgeschrieben, Frauen haben schön zu sein, nett zu sein, den Mund zu halten. Er trug sie auf Händen. Wollte eine Familie mit ihr gründen. Vielleicht ging es ihr zu schnell, wusste sie schon, dass sie nicht an seiner Seite alt werden wollte.

Vielleicht war es Claudia S. auch einfach leid, sich täglich mit diesem Mann, der ihr intellektuell sagenhaft unterlegen ist, abzugeben. Wahrscheinlich spürte sie, dass ihr das Leben an seiner Seite nicht reichen würde. Aber sie kannte seine Eifersucht, sie wusste, dass sie nicht einfach so gehen könnte. Sie musste etwas gegen ihn in der Hand haben, wenn er sie finden würde. Damit wollte sie ihn erpressen, ihn fertigmachen, wenn er es wagen sollte, sie zurückzuholen. In der Nacht vor ihrem Verschwinden ist der Sex entglitten, es war einverständlich, SM, so wie sie es beide mochten. Aber es ging etwas weiter als sonst, sie hatten beide Drogen konsumiert, dass er sie würgte, gehörte dazu, auch dass er sie schlug. Diesmal aber war es vielleicht mehr als sonst. Unschön, aber nicht strafbar. Claudia S. ergriff die Gelegenheit. Nur so ist es zu erklären, weshalb sie nicht sofort nach der angeblichen Vergewaltigung die Polizei aufgesucht hatte. Das wäre doch der sicherste Weg gewesen. Die Spuren waren frisch. Stattdessen rannte sie zu ihrer unschuldigen Freundin, sammelte Beweise, aber zeigte ihn nicht an. Machte sich aus dem Staub mit dem Pelzmäntelchen und dem Hund, dem Schmuck, dem neuen Handy und Bargeld in einer nicht unbeträchtlichen Höhe. Und schrieb ihm noch die SMS – ›Wenn du mir folgst, zeig ich dich an.‹ Ein schlauer Plan.«

Verteidiger*innen verteidigen nie eine Tat, machen sich nicht mit einer Mandant*in und ihrem Handeln gemein. Sie verteidigen ihre Mandant*innen und sorgen als Teil der Rechtspflege dafür, dass am Ende eines Verfahrens ein rechtsstaatliches Urteil gesprochen wird. Oft wissen sie nicht, ob ihre Mandant*in die vorgeworfene Tat begangen hat, oft wissen sie es, lassen es außer Betracht. Es geht nicht um Wahrheit, nicht um Gerechtigkeit im moralischen Sinn in einem strafrechtlichen Verfahren. Richtig und gerecht ist ein Urteil, wenn es ergeht, nachdem die zur Entscheidung berufenen Richter*innen die gewonnenen Beweise und Argumente zur Kenntnis nehmen und abwägen und unvoreingenommen zu einem rechtsstaatlichen Urteil kommen. Die vorliegenden Beweise eröffnen meist einen weiten Beurteilungsraum für die Richtenden, Aufgabe der Verteidigung ist es, diesen so eng wie möglich zugunsten der Mandantschaft zu gestalten.

Es kommt vor, dass ein Freispruch ergeht, selbst wenn bewiesen ist, dass die angeklagte Person die Täter*in der angeklagten Tat ist, etwa weil die Beweise rechtsstaatswidrig erlangt worden sind oder die Taten unterdessen verjährt sind. Häufig ergehen Freisprüche, weil das Gericht nicht ohne vernünftigen Zweifel von der Schuld der angeklagten Person überzeugt ist und in richtiger Anwendung des Zweifelsgrundsatzes dann freizusprechen hat.

Wenn die anwaltlich gut beratenen Beschuldigten schweigen und anhand der Akteneinsicht die Ermittlungsergebnisse nachvollzogen werden können, entwickelt man gemeinsam mit den Mandant*innen eine Verteidigungsstrategie, die für sie zum besten Ergebnis führen soll. Das kann ein Geständnis sein, auch Reue, auch Wiedergutmachung, das Ziel einer möglichst milden Bestrafung.

Es kann aber auch der Weg sein, für einen Freispruch zu kämpfen und dafür alle Mittel einzusetzen, die der Rechtsstaat erlaubt.

In den seltensten Fällen erklären Mandant*innen ihren Verteidiger*innen sofort, dass sie die vorgeworfene Tat begangen haben, wenn sie sie begangen haben. Erfahrene Verteidiger*innen setzen nicht darauf, lassen es sich und ihren Mandant*innen offen, um möglicherweise auch während einer Beweisaufnahme umzuschwenken und doch noch ein spätes Geständnis ablegen zu können. Das ist schwer, wenn die Verteidiger*in selbst von der Unschuld überzeugt ist und womöglich das Mandat nur unter der Prämisse der Unschuld der Mandant*in übernommen hat.

Verteidiger*innen ermitteln manchmal selbst, suchen nach Schwachstellen bei Belastungszeug*innen, Fehlern bei der Spurensicherung, der Lichtbildvorlage, dem Beschluss zur Telefonüberwachung, der Lücke in der Argumentation der Anklage. Sie suchen nach Zeug*innen, die die Wahrheit der Beschuldigten bestätigen oder auch nur eine andere Version des Anklagegeschehens möglich machen. Oft stochern sie im Nebel. Sie haben nicht die Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden und häufig wenig Kapazitäten, um aufwendig selbst zu recherchieren. Sie versuchen, irgendeine Schwachstelle zu finden, ein Geheimnis, das sich nicht gut macht vor Gericht, ein Dilemma, das eine Zeug*in partiell zu Lügen verleitet, deren sie später überführt werden kann.

Verteidiger*innen machen meist keine Supervision, denn sie lassen die Fälle gar nicht an sich herankommen. Sie lesen sich Obduktionsberichte durch, begutachten Fotos von Folterspuren, lesen Aussagen schwerster Misshandlungen allein mit dem Blick durch, wo Lücken sein könnten, Ungereimtheiten, Fehler. Erfolgreich abgeschlossen sind Fälle dann, wenn die Verteidigungsstrategie zumindest teilweise durchgesetzt werden konnte.

Die Verteidiger von Kevin bringen mehrere Zeug*innen an, die aussagen, dass Claudia S. schon länger unzufrieden gewesen sei, dass es Streit unter den beiden gegeben habe, dass sie mehr wollte, als nur Kevins Schoßhund zu sein. Als Claudia S. davon hört, muss sie lachen, nie hatte es einen solchen Streit gegeben, nie hätte sie es gewagt, vor anderen Personen Unzufriedenheit mit Kevin auszudrücken, ganz abgesehen davon, dass es diese Unzufriedenheit auch nicht gab. Der Chauffeur bestätigt die Geldsumme, die Kevin angeblich nach dem Verschwinden von Claudia S. fehlte, verweigert aber die Aussage zur Herkunft des Geldes. Er kennt angeblich auch den Wert des Schmucks, den Kevin Claudia S. geschenkt hatte, und den des Pelzmäntelchens.

Die Zeug*innen sind gut instruiert, aber nicht ausreichend, um den Fragen der Verfahrensbeteiligten schlüssig und überzeugend zu begegnen. Denn wie die Verteidigung bereiteten sich auch Staatsanwaltschaft und die Nebenklagevertreterin gut auf die Beweisaufnahme vor und bringen die Zeug*innen in Erklärungsnöte.

In dieser Instanz wird auch Tobias, der Freund aus den Kindertagen von Claudia S., als Zeuge gehört. Erst nach einem Ordnungsgeld und der Androhung von Ordnungshaft erscheint er beim Gericht, sichtlich unwillig auszusagen. Letztlich redet er aber doch und berichtet, dass er nach der Party von einem ihm fremden Mann verfolgt worden sei, ein blaues Auge davongetragen habe und die klare Anweisung, nie wieder Kontakt zu Claudia S. aufzunehmen. So etwas will er auf keinen Fall wieder erleben. Und nein – ein Verhältnis mit Claudia S. habe er nie gehabt. Sie hätten an diesem Abend über alte Zeiten gesprochen, über ihre Eltern, über seine Freundin, die auch in ihrem Abschlussjahrgang war. Er habe sicher nicht mit Claudia S. geflirtet.

Am Ende ist das Gericht von der Schuld Kevins überzeugt. Nach acht Monaten Verhandlungsdauer und kaum einem Lebensbereich von Claudia S., der nicht durchleuchtet worden wäre.

Ausschlaggebend für die Kammer ist nach der mündlichen Urteilsverkündung, dass sich niemand und kein Anhaltspunkt dafür fand, dass Claudia S. Sexualpraktiken ausführte, bei denen sie sich schlagen und verletzen ließ. SM ja, aber stets als die Überlegene, nie als Geschlagene. Kevin habe die Tat auch geplant, denn er habe, nachdem Tobias gegangen sei, gegen seine Gewohnheit getrunken, wie es mehrere Zeugen bestätigt hätten. Das passe zu den Aussagen von Claudia S. gut, füge sich ins Bild, ebenso wie die Körperverletzung und Bedrohung von Tobias.

Auch der Anlass der Anzeige spreche für die Glaubhaftigkeit von Claudia S., nicht für die von Kevin.

Aber das Gericht befindet, dass die Schuld von Kevin nicht ganz so hoch anzusiedeln sei, wie es die erste Instanz geurteilt hatte. Besonders beachtlich sei, dass es eine schwierige Vorgeschichte zwischen den beiden gegeben habe, in der sich der Angeklagte aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur als minderwertig vorgekommen sei. Die Affäre der Zeugin mit dem alten Kindheitsfreund müsse zugunsten des Angeklagten unterstellt werden, auch wenn Tobias und Claudia S. dies bestritten hätten. Zumindest müsse man zugunsten Kevins unterstellen, dass er es geglaubt haben könnte. Seine Eifersucht und Wut darüber, dass die Geschädigte dies bei der von ihm organisierten und bezahlten Feier offen zur Schau getragen habe, sei deshalb nachvollziehbar, wenn sie auch die Tat nicht vollends rechtfertigen könne. Besonders zu berücksichtigen sei auch, dass die Beteiligten eine Beziehung miteinander geführt hätten und deshalb der Unwert der Tat anders, nämlich als weniger gravierend zu bewerten sei als eine Vergewaltigung durch einen Fremdtäter. Auch müsse gesehen werden, dass die Geschädigte sich gerade von der »aggressiven Männlichkeit« des Angeklagten, die ihr letztlich zum Verhängnis wurde, angezogen gefühlt habe und sie, wenn man auch nicht von einer Mitschuld sprechen könne, doch konstatieren müsse, dass die Tat unter einem anderen Vorzeichen stünde, als wenn sie sich einen anderen Partner gesucht hätte.

Es gibt wenige Untersuchungen darüber, welche Folgen Vergewaltigungen für die Betroffenen haben. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die vergleichend darstellt, ob eine Vergewaltigung durch einen Fremdtäter oder den aktuellen oder letzten Sexualpartner folgenschwerer ist, gibt es nicht. Dennoch wird an deutschen Gerichten der Umstand, dass die Vergewaltigung durch den Intimpartner verübt wurde, häufig strafmildernd bewertet. Dabei könnte man genau das Gegenteil annehmen. Denn es gibt Untersuchungen im Bereich der allgemeinen Gewalt, dass gerade Gewalt im sozialen Nahbereich besonders traumatisierend wirkt, weshalb in der sogenannten Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch ausdrücklich aufgeführt ist, dass als strafschärfend berücksichtigt werden kann, wenn eine Tat gegen eine andauernde oder ehemalige Lebenspartnerin ausgeführt wird.14

Es gibt kaum einen anderen Deliktsbereich, in dem auf die ein oder andere Weise den Opfern direkt oder indirekt eine Mitschuld für die Tat zugeschrieben wird. Sei es der altbekannte zu kurze Rock, das zu laszive oder wahlweise zu frivole Verhalten, die Ambivalenz, der Drogenkonsum, die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von dem Täter – immer wieder werden Begründungen gesucht und gefunden, um die Schwere der Taten zu relativieren. So etwa, dass zugunsten eines Beschuldigten das Vorverhalten der Geschädigten spräche, die in der vorangegangenen Nacht auf den Beschuldigten, »den sie erst unmittelbar zuvor kennen gelernt hatte, offensiv und auch mit ihren körperlichen Attributen kokettierend zugegangen war und mit ihm einverständlich den Geschlechtsverkehr ausgeführt habe«15.

Kevin wird wegen eines minder schweren Falls der sexuellen Nötigung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Am Tag der Urteilsverkündung kommt er frei.

Claudia S. hört sich das Urteil an, auch die Anordnung, dass Kevin sofort aus der Haft zu entlassen ist. Erschrocken sieht sie sich im Gerichtssaal um und verlässt noch während der mündlichen Urteilsverkündung mit ihrer Anwältin eilig das Gebäude durch einen Hintereingang und rennt dann weg. Danach ist sie verschwunden. Sie ist nicht mehr erreichbar, nicht für ihre Anwältin, nicht für die Polizei, nicht für die Familie, nicht einmal für ihre beste Freundin Anke. Erst nach einer Woche erhält Anke ein Lebenszeichen und die Anweisung, dass sie und die Anwältin sie nicht suchen sollen.

Manchmal kommt es dazu, dass Mandant*innen viele Jahre später wieder am Tisch der Anwältin sitzen. Meist geht es dann um etwas vollkommen anderes, manchmal um Scheidungen, manchmal um Verkehrsunfälle, um neue Straftaten, die an ihnen begangen wurden, oder um Straftaten, die ihnen vorgeworfen werden.

Und so sind acht Jahre vergangen, bis Claudia S. erneut bei der Anwältin am Tisch sitzt und diese erfährt, wie es nach dem Urteil für Kevin weiterging. Damals verließ Claudia S. fluchtartig das Land, jobbte im Ausland wieder als Domina. Sie verdiente gut. Ein paar Jahre machte sie das, bis eine Freundin sie überredete, zu studieren. Sie beschaffte sich die notwendigen Papiere durch ihre Eltern, bekam im Ausland einen Studienplatz und jobbte weiter nebenbei in einem Salon. Nach ein paar Jahren und mit einem Master in Psychologie kehrte sie zurück nach Berlin. Sie hat mit ihrer Therapieausbildung begonnen, ist aktiv in einer Frauengruppe, lebt in einem Haus am Stadtrand.

Der Anwältin legt Claudia S. beim Wiedersehen eine »Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung« auf den Tisch. Der Vorwurf: Schwerer Hausfriedensbruch unter anderem. Dazu soll sie angehört werden.

Die Anwältin rät ihr, der Vorladung nicht zu folgen und zunächst die Akteneinsicht abzuwarten. Als die Anwältin die Akteneinsicht von der Staatsanwaltschaft bekommt, ergibt sich folgendes Bild:

Dem Polizeibericht ist zu entnehmen, dass circa fünfzig Frauen zwischen 20 und 35 Jahren Einlass zu einer Veranstaltung erhalten hätten, da sie sich als Veranstaltungsteilnehmerinnen ausgegeben hatten. Tatsächlich aber seien sie nur in den Veranstaltungssaal gelangt, um ihrem Unmut über das Thema Ausdruck zu verleihen und die Veranstaltung zu stören. Die herbeigerufenen Einsatzkräfte hätten deshalb auf Aufforderung des Veranstaltungsleiters den Saal geräumt, wobei es während der Räumung zu tumultartigen Situationen gekommen sei und sich einige der Frauen vollständig der Oberbekleidung entledigt hätten. Die Einsatzlage habe deshalb nur eine Räumung, nicht aber die Festnahme der störenden Personengruppe zugelassen.

Bereits vor Ort seien einige reguläre Veranstaltungsteilnehmende befragt worden. Mehrere äußerst entrüstete Zeugen und Zeuginnen, zumeist Damen und Herren zwischen 55 und 75 Jahren, wohlsituiert, aus akademischen Kreisen, hatten im Ermittlungsverfahren ausgesagt, dass sie einen Vortrag organisiert hätten. Dort habe ein Jurist, ein Richter am Oberverwaltungsgericht, über Lebensschutz unter rechtlichen und moralischen Gesichtspunkten und dem verfassungsrechtlichen Gebot, das Leben von Anfang an zu schützen, sprechen sollen. Erst habe man sich gefreut, dass viele junge Frauen zu der Veranstaltung gekommen seien, gerade sie ginge es ja etwas an. Denn letztlich seien es die jungen Frauen, die die größte Bedrohung für das Ungeborene darstellten. Aber dann, der Hauptredner habe gerade mit seinem Vortrag beginnen wollen, hätten sie auf das Kommando der Rädelsführerin hin plötzlich herumgeschrien. Sie hätten mit faulen Eiern geworfen, wüst gewütet und letztlich sogar die Exponate mit den Embryonen zerstört. »Mit echten, abgetriebenen, ermordeten Babys!« Sehr schnell sei das gegangen.

Die Rädelsführerin wurde als blond und langhaarig, circa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, schlank, circa 1,75 Meter groß und sportlich beschrieben. Sie habe ihre Haare lang und offen getragen und habe keinerlei Auffälligkeiten im Gesicht wie Piercings oder Tätowierungen gezeigt.

Was sie gemeinsam verschwiegen, die Anwältin aber von Claudia S. erfuhr, war, dass viele der protestierenden Frauen auf ihrem Weg hinaus von den Abtreibungsgegnern massiv angegriffen wurden. Viele trugen Hämatome und Kratzwunden davon, eine Frau war gebissen worden und eine mit der Faust in ihren Bauch geschlagen worden. Die zunächst so bürgerlich wirkenden Personen gerieten angesichts des Protestes von jungen Frauen im gebärfähigen Alter in hysterische Wut.

Die Bewegung der Abtreibungsgegner*innen ist seit Langem aktiv und in Deutschland und weltweit wieder erstarkt. Sie schließen Bündnisse mit extrem konservativen bis rechtsextremen Organisationen im Namen eines angeblichen Lebensschutzes und sprechen den Schwangeren ihr Recht auf Selbstbestimmung ab.16 Abtreibung ist in Deutschland grundsätzlich verboten und nur unter bestimmten Umständen, nämlich innerhalb einer Frist und nach Beratung straffrei. Sie soll, wenn es nach den selbsternannten Lebensschützer*innen geht, wenn überhaupt nur bei Lebensgefahr für Mutter und Embryo erlaubt sein, ansonsten sei das Lebensrecht des Embryos nicht verhandelbar. Häufig vertreten Abtreibungsgegner-Organisationen rassistische, rechtsextreme oder ultrakonservative Ziele, wenn sie etwa formulieren, dass das demografische Problem durch »mehr deutsche Kinder statt durch Masseneinwanderung« zu lösen sei, oder Abtreibungen mit dem Holocaust vergleichen. Sie halten ein traditionelles Familienbild hoch, in dem der Mann der Ernährer und die Frau Mutter und Hausfrau ist, und wettern gegen den von ihnen sogenannten »Genderwahn«.17 Abtreibungsgegner*innen machen Frauenärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, das Leben mit Anzeigen und Klagen schwer, versuchen Kliniken, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, Gelder streichen zu lassen. Auch der Papst sprach 2018 davon, dass Abtreibungen wie Auftragsmorde seien, und erklärte damit die Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, indirekt zu Mörder*innen.18

In Ecuador sind Abtreibungen selbst dann verboten, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung herrührt, und nur dann erlaubt, wenn das Leben der Schwangeren ernsthaft gefährdet ist, und in Teilen der USA haben die reaktionären Abtreibungsgegner*innen schon ein faktisches Verbot von Abtreibungen durchgesetzt. In Deutschland haben sie erreicht, dass immer weniger Praxen Abtreibungen durchführen und Ärzt*innen schon allein dafür bestraft werden, wenn sie über den Fakt hinaus, dass sie Abtreibungen durchführen, auch informieren, mit welcher Methode.19 Für ungewollt Schwangere wird es immer schwerer, dass ihre eigene Entscheidung akzeptiert wird und sie eine sichere, medizinisch nach den Regeln der Kunst durchgeführte Abtreibung erhalten können. Dabei ist langläufig bekannt, dass das Verbot von Abtreibungen nicht zu weniger, sondern zu gefährlicheren Abtreibungen führt. Nach Schätzungen der WHO sterben jährlich circa 47.000 Frauen weltweit an den Folgen illegaler Abtreibungen.20

Die Ermittlungsakte enthielt darüber hinaus den Vermerk über die Einsichtnahme in die sogenannte Lichtbildkartei.

Sofort fiel der Anwältin auf, dass alle Zeug*innen am gleichen Tag zur Lichtbildvorlage zum Landeskriminalamt bestellt worden waren und dort Fotos angesehen hatten. Offensichtlich waren sie in unmittelbarem Anschluss nacheinander befragt worden und hatten jeweils die gleiche Lichtbildvorlage gezeigt bekommen. Ob sie sich zwischen den jeweiligen Befragungen be- oder absprechen konnten beziehungsweise ob dies gezielt verhindert wurde, ging aus der Akte nicht hervor.

Die Lichtbildvorlage bestand aus drei Blättern mit jeweils acht Fotos von Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Die Hälfte der abgebildeten Frauen hatte braune oder schwarze Haare. Von den Frauen mit blonden Haaren hatten fünf der Abgebildeten Kurzhaarfrisuren. Es blieben also sieben Frauen mit blonden Haaren, wobei drei Frauen kräftig waren und zwei auffällige Piercings im Gesicht hatten. Es waren also nur zwei Frauen übrig, die auch nur im Entferntesten mit der Beschreibung der Täterin übereinstimmten. Das eine Foto zeigte eine junge Frau, die lächelnd in die Kamera blickte, das andere zeigte Claudia S. Es war bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch die Polizei aufgenommen worden, nachdem sie acht Monate vorher bei einer Frauendemonstration festgenommen worden war.

Ohne jeden Zweifel hatten alle Zeug*innen Claudia S. wiedererkannt.

Die Anwältin versucht daraufhin zunächst vor der Verhandlung, bei Staatsanwaltschaft und Richterin, hervorzuheben, dass die Aussagen der Zeug*innen im Hinblick auf die Wiedererkennung ihrer Mandantin wertlos sind. Die Wiedererkennung durch diese Zeug*innen aufgrund der Lichtbildvorlage war der einzige Beweis der angeblichen Täterinnenschaft von Claudia S. Die Anwältin trägt Staatsanwaltschaft und Richterin schriftlich vor, dass diese Lichtbildvorlage den Verwaltungsvorschriften für Richter*innen und Staatsanwält*innen (RistBV) widerspricht und damit für das Verfahren keinerlei Beweiswert haben kann. Denn die Zeug*innen haben nicht etwa aus mehreren sich ähnlich sehenden Personen eine mögliche Täterin herausgesucht, sondern es kamen überhaupt nur zwei abgebildete Personen in Betracht, und davon war eine so abgebildet, dass bereits das Foto suggerierte, dass es sich um eine Straftäterin handeln musste. Außerdem sei nicht sicher, ob sich die Zeug*innen nicht absprechen konnten. Darüber hinaus schrieb sie, dass die Lichtbildvorlage nicht nur keinen Wert habe, sondern im Gegenteil auch eine spätere Identifizierung durch die Zeug*innen nunmehr insgesamt nicht mehr möglich sei, da sie das Bild von Claudia S. eingehend studiert hatten, diese auch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder identifizieren würden.

Die Staatsanwaltschaft ging auf das Vorbringen der Anwältin nicht ein, und auch das Gericht ließ die Anklage unverändert zu und eröffnete das Hauptverfahren.

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