Читать книгу: «DIE GABE», страница 5

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„Langes Leben!“, wünschte Diego mit einem unverbindlichen Lächeln.

„Ich bin Alicia Moss von der Hausverwaltung. Willkommen in Berkeley. Das Beste wird sein, wenn wir zunächst zu deinem Zimmer gehen, damit du das Gepäck abstellen kannst.“

„Gerne.“ Diego folgte ihr zu den Aufzügen. „Ist mein Mitbewohner eigentlich schon da?“

„Oh, ich fürchte, das weiß ich nicht“, sagte Alicia mit einem bezaubernden Lächeln, „aber ich könnte nachfragen.“ Sie griff nach ihrem Handy.

„Nicht nötig, danke“, wehrte Diego ab. In spätestens zwei Minuten würde er ja sowieso wissen, ob Hercule den Weg hierher auch schon gefunden hatte.

Hatte er nicht, also konnte sich Diego ganz in Ruhe die Einrichtungen des Hauses zeigen lassen und seine Seite des Zimmers einräumen. Gerade schloss er das Stromkabel seines Notebooks an, als es vor der Tür rumorte. Schabende und schleifende Geräusche drangen durch das Holz, gefolgt von einem Poltern und einem leisen Fluch. Statt anzuklopfen trat jemand von außen gegen die Tür. Den Geräuschen nach musste das die Lieferung mit der schweren Bücherkiste sein. Diego ging eilig zur Tür und öffnete sie.

„Hallo, Diego!“ Es war Hercule, der sich gleich drei prallvolle Reisetaschen umgehängt hatte. Auf dem Weg hierher waren die Gurte ihm allerdings von den Schultern gerutscht, hingen jetzt in den Armbeugen und behinderten ihn bis zur Bewegungslosigkeit. Ändern konnte er daran nichts, denn vor sich trug er einen Flachbildschirm von enormen Ausmaßen, auf dessen Sichtfläche alles mögliche Zeug gestapelt war. Diego erkannte eine Notebook-Tasche, eine X-Box mit den nötigen Controllern und DVDs, eine Mini-Stereoanlage mit Lautsprecherboxen und einige unidentifizierbare Geräte, die aber bestimmt alle auch gewaltig viel Krach machen konnten. Ganz obenauf thronte ein Plastik-Totenschädel mit einem Elektrokabel daran.

„Mein Nachtlicht“, erklärte Hercule, der Diegos Blick bemerkt hatte. „Der leuchtet. Klasse, was? Ich kann im Dunklen doch nicht schlafen. Er kann auch singen. Drei Lieder. Zeig ich dir. Ich schließ ihn gleich an.“

„Hallo, Hercule.“ Diego spähte in den Flur. „Ist niemand von der Hausverwaltung da?“

„Nein.“ Hercule schüttelte den Kopf. „Dieser Hausmeistertyp ist mit dem Taxifahrer gleich zurück zum Tor. Ich hab gehört, dass du schon da bist, da hab ich dem gesagt, dass du mir alles hier zeigst.“

„Ah, ja. Na, komm rein.“ Diego trat zur Seite. „Soll ich dir was abnehmen?“

„Nicht nötig!“, wehrte Hercule ab. „Ich hab’s im Griff.“ Ungestüm drängte er voran und prompt verkantete sich der Bildschirm im Türrahmen. Der bekam einen gehörigen Kratzer, was Hercule aber nicht weiter störte. Mit noch ein wenig mehr Druck ging es dann doch. Lacksplitter rieselten zu Boden und Hercule war im Zimmer. Allerdings verhakte er sich mit dem Tragegurt einer weit abstehenden Tasche am Türknauf und wäre durch die plötzliche Bremsung fast gestürzt. Statt nun aber einen Schritt zurückzugehen, um die Spannung aus dem Gurt zu nehmen, trampelte er hilflos auf der Stelle, bis Diego ihn befreite.

„Welche Seite ist meine?“ Hercule schwankte gefährlich unter seiner Last.

„Du schläfst links“

„Okay!“ Hercule steuerte nach rechts und baute sich vor dem Bett auf, das dort stand.

„Nein, nein, da schlafe ich“, protestierte Diego.

„Ich weiß“, strahlte Hercule ihn an, und ließ den Stapel von seinen Armen auf die Bettdecke rutschen. „Aber ich muss doch noch einräumen. Da kann ich doch nicht meine eigene Seite blockieren. Da wär’ ich ja blöd!“ Schwungvoll klatschte er die erste seiner drei Umhängetaschen zu dem übrigen Zeug auf Diegos Bett.

„Pass auf, Hercule!“ Diego hielt ihn am Arm fest und schaute ihn ernst an. „Wenn du das hier überleben willst, dann musst du lernen, zuzuhören. Also pass auf: Dein Bett steht links, also steht auch dein Schrank links, genau wie dein Schreibtisch und dein Stuhl. Und dieser Müllhaufen auf meinem Bett verschwindet jetzt auch nach links, und zwar zügig, sonst fliegt das Zeug im hohen Bogen runter!“

„Nach links“, vermutete Hercule mit eingezogenem Kopf.

„Auf deine Seite!“, bestätigte Diego. „Denn das hier ist die rechte Seite - meine Seite, kapiert?“

„Jetzt sei doch nicht gleich so“, maulte Hercule, ging aber mit den restlichen beiden Taschen auf seine Seite des Zimmers, stellte sie dort auf den Boden und begann Diegos Bett abzuräumen. Zuletzt nahm er den Totenkopf, schloss ihn an eine Steckdose an und stellte ihn am Kopfende seines Betts auf die Fensterbank. Es war noch zu hell im Zimmer, sodass der Effekt nicht richtig zur Wirkung kam; das Teil sah aber so schon abscheulich genug aus.

„Jetzt pass auf!“ Hercule schlug dem trübe glimmenden Ding auf die Schädeldecke, das sofort anfing mit knarzender Stimme Somwhere over the rainbow zu plärren. Der Kiefer öffnete und schloss sich im Takt und untermalte die Vorstellung mit knackenden Geräuschen.

„Götter der Tiefsee!“, fluchte Diego. „Stell das ab!“

„Geht nicht“, grinste Hercule. „Der singt immer zu Ende, aber ich kann den Song wechseln.“ Wieder ließ er seine Hand auf den Schädel klatschen, der sofort zu Always look on the bright side of live wechselte.

Blitzschnell war Diego bei Hercules Bett und zog den Stecker aus der Wand. Sofort brach das Lied ab und der Kiefer des Plastikschädels blieb weit geöffnet stehen, was dem Ding ein erstauntes Aussehen verlieh.

„Aber du hast das dritte Lied doch noch gar nicht gehört“, protestierte Hercule.

„Später!“ Es war Diego völlig klar, dass er es in allzu naher Zukunft wirklich hören würde. Das war unvermeidlich und im Moment tat es ihm mächtig Leid, dass er seinen Eltern das Versprechen gegeben hatte, sich um Hercule zu kümmern.

Etwas beleidigt stöpselte Hercule den Stecker wieder ein, verzichtete aber darauf, Diego das dritte Lied sofort vorzuspielen. Stattdessen legte er sich auf sein Bett, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen.

Als Diego ein paar Minuten lang nichts von ihm hörte, begann er zu hoffen, dass sein ungeliebter Zimmergenosse eingeschlafen sei. Leise setzte er sich vor sein Notebook und versuchte ein wenig zu arbeiten, als es schon wieder an der Tür klopfte.

Mit einem Seufzer stand Diego auf und öffnete. Diesmal war es wirklich der Kurier mit den Büchern. Hinter ihm stand ein Mann von der Security. Der Kurier rollte die Kiste mit einem kleinen Transportwägelchen in das Zimmer und stellte sie mit einem deutlichen Schnaufer der Erleichterung auf den Boden.

„Steht sie auch weit genug auf der rechten Seite?“, ließ Hercule sich von seinem Bett aus hören.

Diego drückte dem Mann eine Fünfdollarnote in die Hand, bedankte sich und begann, die Kiste zu öffnen.

„Was haste da? Was ist das?“ Sofort nachdem der Fremde zusammen mit dem Sicherheitsmann gegangen war, sprang Hercule auf und stellte sich neben Diego, der betont langsam den Deckel öffnete.

„Och, Bücher!“ Hercule war enttäuscht.

„Ja, Bücher!“, bestätigte Diego. „Wo sind deine eigentlich?“

„Hab keine. Erst mal abwarten. Die sagen mir schon was ich brauche, dann hol ich’s mir. Außerdem hast du ja jede Menge von dem Zeug dabei. Kann ich mir ja leihen.“

„Äh, du machst Philosophie und ich Medizin.“

„Na und?“, meinte Hercule. „Wird schon irgendwas dabei sein. Buch ist Buch!“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Diego war sich nicht ganz sicher.

„Spaß muss sein, sonst kommt keiner zur Hinrichtung!“, grinste Hercule. „Verstehste?“

Diego verstand nicht und wandte sich mit einem leichten Kopfschütteln wieder seiner Bücherkiste zu.

„Bäh, immer noch der alte Stockfisch!“, beschwerte Hercule sich. „Das war ´n Spaß, Mann. Jetzt lach doch mal. Mach dich locker, Mann!“

Als Diego nicht reagierte und weiter in der Kiste herumkramte, hob Hercule kurz die Schultern und wechselte das Thema: „Übermorgen hole ich mir übrigens meine Desert Eagle ab“, trompetete er los. „Hab ich mir heute bestellt. Sofort mitnehmen ging nicht. Zweiundsiebzig Stunden Wartezeit.“

„Desert Eagle, was ist das? Ein Geländemotorrad?“ Diego stellte den ersten Packen Bücher in sein Regal.

„Quatsch!“, lachte Hercule. „Das ist ne .45er. Soo ne Wumme!“ Mit den Händen zeigte er eine Länge von knapp einem halben Meter an. „Damit kannst du durch Ziegelwände schießen.“

Diego drehte sich zu ihm hin, und die noch nicht abgestützte Bücherreihe fiel mit einem leisen Klatschen um. „Du hast dir eine Pistole gekauft?“

„Sofort nach dem Abschiedsküsschen von meiner Mutter. Das ist schließlich ein freies Land hier – nicht so langweilig wie Frankreich – und immerhin bin ich seit Neuestem Amerikaner. Da habe ich das Recht ...“

„Das glaub ich jetzt nicht. Was willst du mit dem Ding?“

„Nur so.“ Hercule hob die Schultern. „Man weiß ja nie. Besser man hat eine und braucht sie nicht, als man braucht eine und hat sie nicht.“

„Ah, ja.“ Diego wandte sich wieder seinen Bücherstapeln zu.

„Da gibt es so einen Schießclub draußen vor der Stadt. Der Verkäufer im Waffenladen hat gesagt ich wär willkommen“, redete Hercule weiter. „Da kannst du rumballern, solange du willst. Klasse, was?“

„Ah, ja.“ Schießplatz hörte sich gut an, aber vor seinem inneren Auge sah Diego trotzdem seinen Zimmergenossen mitten in der Nacht im Bett mit der geladenen Pistole herumspielen, während der erleuchtete Totenschädel dazu sang.

07 DER ALTE AUFZUG

Madame Ulliette lässt sich erweichen und so müssen wir nicht weiter zu Fuß laufen. Wir nehmen die Metro vom Louvre zum Gare de Saint Lazare. So wie sie sich allerdings seufzend auf einen Platz sinken lässt, scheint mir diese Entscheidung purer Eigennutz zu sein.

„Was haben Sie eigentlich so die ganze Zeit im Louvre gemacht, Madame?“, fragt Coco sie neugierig und grinst dabei verschmitzt. Sie vermutet wahrscheinlich, dass Madame Ulliette sich die ganze Zeit im Museumsrestaurant ausgeruht hat.

Mit einem lauten Hupen schließen sich die automatischen Türen der Metro und so verstehen wir nur: „... endlich mal in Ruhe angeschaut.“

„Was angeschaut?“ fragt Coco nach.

„Die Ägyptische Sammlung“, wiederholt Madame Ulliette geduldig. „Weißt du mein Kind, es gab einmal ein Land namens Ägypten“, sagt sie betont langsam, „und diese Ägypter ...“

„Das weiß ich doch“, erwidert Coco mit hochrotem Gesicht, „ich hatte das nur akustisch nicht verstanden.“ Ärgerlich schüttelt sie den Kopf und dreht sich weg.

Madame Ulliette grinst und schließt, sich zurücklehnend, die Augen. Niemand stört sie mehr mit neugierigen Fragen.

Am Gare de Saint Lazare schwingt sich Bea stöhnend hinter mich auf die Blaue Elise und wir knattern durch die Rue d’Amsterdam in Richtung Montmartre davon. In einer Seitenstraße der Avenue de Clichy lasse ich sie vor ihrem Haus absteigen. „Was machst du jetzt noch?“

„Mathe-Hausaufgaben“ seufzt Bea.

„Die muss ich auch noch machen“, nicke ich. „Gut dass es nächste Woche Herbstferien gibt.“

„Da sagst du was Wahres, also salut Chérie!“ Bea beugt sich vor und drückt mir rechts und links ein Küsschen auf die Wange. Am Eingang des alten Mietshauses winkt sie mir nochmal zu, schließt auf und schlüpft durch die knarrende Holztür. In diesem Haus wohnt sie mit ihrer Mutter und einer Katze in einer kleinen Dachwohnung.

Ich winke zurück und setze meinen Weg fort. Elises knatterndes Motorgeräusch hallt laut zwischen den hohen Häuserwänden wider.

Wir wohnen in der dritten Etage eines alten Jugendstilhauses. Jetzt erst merke ich, wie fertig ich bin. Schnaufend schleppe ich mich die Treppen hoch. Es gibt da zwar so einen altertümlichen Aufzug mitten im Treppenhaus, aber der macht immer so klappernde Geräusche. Wenn die Gitter hinter mir zugehen, fühle ich mich eingesperrt. Auf seinem Weg nach oben schnauft er wie ein Ungeheuer, das macht die Sache auch nicht besser. Wenn er hinunter fährt, ist es noch schlimmer. Dann zischt er so seltsam, dass ich jedes Mal Zweifel habe, ob er mich auch wirklich im Erdgeschoss rauslassen wird oder geradewegs mit mir in die Unterwelt hinabfährt. Nein danke, da steige ich lieber Treppen.

„Es gibt heute Hähnchen mit Ratatouille“, ruft Didier mir freudestrahlend entgegen, als er die Tür öffnet. Schon flitzt er wieder in die Küche. Von dort duftet es sehr vielversprechend und mein Magen stimmt mir mit lautem Gebrummel zu.

„Bist du das Lana?“, ruft Maman aus der Küche.

Ich stelle den Rucksack neben die Flurgarderobe und gehe zur Küchentür. „Ja“, sage ich, nichts Gutes ahnend.

„Hallo Schatz, könntest du wohl noch mal rasch zu Madame Ledoux fahren und frisches Baguette holen? Ich hab’s vergessen und Papa kommt gleich.“

Ich hab’s geahnt! Wenn Papa mich Schatz nennt, ist er sauer auf mich, wenn Maman mich Schatz nennt, hat sie lästige Arbeitsaufträge. „Warum kann Didier eigentlich nicht gehen?“ starte ich einen aussichtslosen Versuch. Ich kenne die Antwort, sie ist immer die gleiche.

„Weil ich ihn um diese Zeit nicht mehr auf die Straße schicken will und du bist mit Elise dreimal so schnell wieder da!“ Der Tonfall meiner Mutter lässt keinen Zweifel aufkommen, dass mit ihr darüber nicht zu diskutieren ist.

„Okay“, murmele ich ergeben aufseufzend, stoße mich vom Türrahmen ab und nehme das Geld vom Küchentisch, das dort schon bereit liegt. Ächzend drehe ich mich um und schlurfe laut stöhnend den Flur entlang wie ein Gefangener in Ketten.

„Du solltest dir doch überlegen, ob du nicht bei der Theatergruppe mitmachen willst, Chérie“, höre ich meine Mutter aus der Küche. „Die Rolle der armen geplagten Tochter spielst du oskarreif.“ Man kann das Grinsen in ihrer Stimme förmlich hören.

Ich geb’s auf. Kommentarlos und resigniert ergebe ich mich in mein Schicksal.

Als ich angeknattert komme, räumt Madame Ledoux gerade die Stühle vor ihrem Laden zusammen. „Ah Lana“ strahlt sie mich an, „was wurde denn diesmal vergessen? Lass mich raten.“ Sie richtet mit übertrieben hochgezogenen Augenbrauen und gespitztem Mund den Blick nach oben. „Ein Baguette“ In gespielter Erkenntnis schnellt ihr Zeigefinger vor, während sie mich mit großen Augen anschaut.

„Ja Madame“, antworte ich lahm. „Wie immer.“ Hier das Baguette, beim kleinen Ed-Discountmarkt um die Ecke die Paprika oder die Zwiebeln. Und alle finden es immer furchtbar witzig, wenn ich kurz vor Ladenschluss noch angedüst komme.

Die Laternen zwischen den Straßenbäumen beginnen schon zu glimmen, als ich in unsere Straße einbiege. Schon von weitem sehe ich einen Mann, der auf der anderen Straßenseite vor unserem Haus steht. Aufmerksam sieht er nach oben.

Schnell schalte ich den Motor aus und schiebe die Blaue Elise leise das letzte Stück die Straße entlang. Ich versuche im Schatten der Bäume zu bleiben und schlüpfe schließlich durch die große Haustür in den Hinterhof. – Hat er mich jetzt gesehen, oder nicht? - Wer ist das überhaupt? – Warum beobachtet der unser Haus?

Mit klopfendem Herzen schließe ich möglichst geräuschlos die hohe Tür hinter mir und hoffe, dass dieser Kerl es nicht auf mich abgesehen hat. Er macht mir Angst.

Mit zitternden Fingern schließe ich Elise ab und hetze, zwei Stufen auf einmal nehmend, in unsere Etage hinauf. Was ist das für ein Typ da draußen und warum starrt er unser Haus an? Das Minutenlicht geht aus.

Ich öffne vorsichtig ein Treppenhausfenster und spähe auf die Straße hinunter. Der Mann ist nicht mehr zu sehen. Erleichtert atme ich auf. Wahrscheinlich habe ich mich nur geirrt. Was Bea aber auch heute so alles erzählt hat. Da muss man ja ganz durcheinander kommen. Langsam gehe ich die letzten Stufen hoch zu unserer Wohnung.

„Hallo Lana“, Papa steht an der Flurgarderobe und zieht seine Jacke aus. „Lieb, dass du den Einkauf erledigt hast, aber ich hätte doch auch ein Baguette mitbringen können“, begrüßt er mich.

Ach, diese Möglichkeit hätte auch bestanden?

Didier lugt um die Ecke und grinst. Ich blitze ihn böse an und er verschwindet.

„Wo hast du es denn überhaupt?“, fragt Papa.

„Was?“ schnaufend lasse ich mich auf dem Boden nieder um endlich meine Chucks auszuziehen.

„Na das Baguette.“ Mein Vater sieht mich mit großen Augen an und breitet fragend die Arme aus.

„Och nein!“ stöhne ich auf und lehne den Kopf verzweifelt an die Flurwand. „Hinten auf dem Gepäckträger.“

Didier lacht in der Küche laut auf. Ich höre Maman sagen: „Das kannst du jetzt aber mal holen Didier.“

Didier stapft zur Flurtür. Im Vorbeigehen wirft er mir seinen oskarreifen Schmollblick zu: vorgeschobene Unterlippe und eng zusammengezogene Augenbrauen. Er sieht gar nicht mehr so belustigt aus, und ich weiß auch warum: Im Hinterhof ist es jetzt schon recht finster und Didier hat Angst im Dunkeln.

Er sieht ziemlich verzweifelt aus, als er die Korridortür hinter sich zuzieht. Draußen höre ich das Tacktacktack des automatischen Lichtschalters und denke daran, dass auch er nicht den Aufzug nehmen wird, aus denselben Gründen wie ich. Zu Fuß wird er es nicht bis unten schaffen, ohne im Dunkeln zu stehen und nach dem Lichtschalter tasten zu müssen.

Mir fällt ein, wie er mich eines Nachts im Urlaub trösten wollte, als ich einen Albtraum hatte. Da hatte ich von Diego geträumt - und von einem Turm mit merkwürdigen unterirdischen Gängen - und Diego wollte mir plötzlich weh tun, obwohl ich ihn doch so sehr liebe. Es war ein schrecklicher Traum gewesen. Ich hatte solche Angst gehabt. Und plötzlich war Didier in meine Schlafkabine gekrabbelt und war ganz besorgt gewesen, weil ich im Schlaf so gestöhnt und geschrien hatte.

„He Didier, warte!“, rufe ich im Treppenhaus. Als ich ihn erreiche, geht gerade mit einem letzten Tack das Licht aus.

„Danke Lana“, murmelt Didier, als ich das Licht wieder anschalte.

„Schon gut, ich weiß ja, wie das ist“, gebe ich zurück. Wir stehen auf dem Treppenabsatz und grinsen uns verschwörerisch an, als sich mit einem Mal der Aufzug mit einem Schnaufen in Bewegung setzt. Didier zuckt zusammen und zieht erschrocken die Luft ein. „Ich hasse dieses Ding!“

„Ich auch, komm jetzt, sonst geht das Licht gleich wieder aus.“

Der Aufzug keucht an uns vorbei und als wir unten ankommen, bugsiert Jean-Claude gerade leise fluchend seine Staffelei, den Farbkoffer und die Leinwände in den Lift.

„Ça va, Jean-Claude! Sollen wir helfen?“

„Ça va! Geht schon, Lana, danke“, grinst er mich an und schiebt sich die Brille aus der Stirn. Schief bleibt sie in seiner wuscheligen grauen Mähne hängen.

„Was verkauft?“

„Ja, ein bisschen was“, grinst er und kratzt sich am Kopf. „Und das mit dem Kaffee, das machen wir wirklich bald mal“, ruft er mir noch zu, als er die doppelten Gitter der Aufzugtür rasselnd schließt. Das Geräusch hat was von Kerker und ewiger Gefangenschaft an sich.

„Okay, geht schon klar“, rufe ich schaudernd zurück.

„Was ist denn mit dem Kaffee?“ fragt Didier neugierig, als wir auf den dunklen Hinterhof hinaustreten, der nur von einer schwachen Glühbirne beleuchtet wird.

Ich winke ab. „Ach, nichts Besonderes. Jeden Morgen, wenn ich zur Schule fahre, sitzt er im Le Mary und schlürft seinen Kaffee, bevor er zum Place du Tertre geht, weißt du. Und dann ruft er mir immer zu, dass er mich abends zu einem Milchkaffee einladen würde. Aber er vergisst es immer. Ich frage mich sowieso, wie er von den paar Cent, die ihm die Portraitmalerei einbringt, leben kann. Da sind so viele Konkurrenten.“

„Weißt du noch, wie er einmal ein Portrait von dir gemalt hat?“

„Klar, und dann hat er es mir geschenkt, anstatt Geld dafür zu verlangen.“ In Gedanken daran schüttele ich den Kopf. So ist Jean-Claude.

Wir befreien das etwas verbogene Baguette von Elises Gepäckträger und gehen wieder ins Treppenhaus. Das Licht geht aus, als wir die untersten Stufen erreichen. Von ganz oben hört man das Klirren eines auf die Fliesen prallenden Schlüssels und ein gedämpftes „Merde!“

Ich mache das Licht wieder an und höre von oben ein heiseres „Merci Lana!“

Didier und ich müssen kichern. Jean-Claude wohnt ganz oben unter dem Dach in einer winzigen Wohnung. Auf seiner Etage ist keine Beleuchtung mehr und so ist er auf den Lichtschein des unteren Treppenabsatzes angewiesen, um das Schlüsselloch zu finden.

„Wollen wir es wagen Didier?“

„Was?“, Didier wird ganz blass, denn er weiß genau, was ich meine. Leider ist auch er, genau wie ich, mit zuviel Fantasie gesegnet. Na ja, er mit seinen elf Jahren darf das ja im Grunde auch noch sein, aber ich mit fast achtzehn? Eigentlich wirklich peinlich.

„Na ja, irgendwann müssen wir diese alberne Angst vor dem Fahrstuhl doch mal los werden, schließlich fährt Jean-Claude jeden Tag damit und er lebt noch.“

Didier räuspert sich. „Du hast Recht“, sagt er schließlich, „Wagen wir es, Lana!“

Ich drücke den Knopf und Didier bringt sich beim Lichtschalter in Position, um im richtigen Moment für Helligkeit zu sorgen.

Zischend kommt der Lift in dem vergitterten Schacht in der Mitte des Treppenhauses heruntergerattert. Er stoppt in dem Augenblick, als das Licht ausgeht. Einen kurzen Moment blinzeln die rot leuchtenden Etagenknöpfe im Dunkel wie die Augen eines gierigen Ungeheuers. Ich habe das sichere Gefühl, dass die Aufzugskabine sachte atmet und sich dabei rhythmisch ausdehnt und wieder zusammenzieht.

Ich ziehe die Scherengitter auf, und Didier drückt auf den Lichtschalter. Beklommen steigen wir ein und schauen uns zweifelnd an. Ich weiß auch nicht, warum ich diese Angst aus Kindertagen immer noch nicht abschütteln kann. Das Klicken, mit dem die schweren Gitter ins Schloss fallen, klingt so merkwürdig zufrieden. Mir ist so, als sei gerade eine Falle zugeschnappt, und mir pocht das Herz bis zum Hals. Schnell drücke ich auf die leuchtende Drei an der Schalttafel.

„Weißt du“, flüstert Didier während unserer Fahrt nach oben, „der Yves aus meiner Klasse hat erzählt, dass unter jedem Aufzug der Schacht noch vierzig Kilometer in die Erde rein geht. Und manchmal fährt er bis ganz runter. Und der Boden wird dann ganz heiß und fängt an zu glühen. Und wenn er unten angekommen ist - dann kommt ganz flüssige Lava durch die Gitter rein und verbrennt alles!“

Nur gut, das er mir das erzählt, während wir nach oben fahren. Oh Mann, Lana, er ist Elf und er erzählt Blödsinn. Aber trotzdem schaudert es mich und ich bin froh, als uns der Aufzug zwar schnaufend, aber ohne uns zu verschlingen in der dritten Etage die Tür öffnet.

„Na also, geht doch“, flüstere ich, als das Licht ausgeht.

„Ja, aber alleine würde ich mich trotzdem nicht trauen“, flüstert Didier zurück, während ich den Lichtschalter suche.

Als wir wieder in unserer Wohnung sind, muss ich erst mal zum Klo, weil mir ganz schwimmelig ist von Didiers Erzählung.

„Wie war denn euer Ausflug heute?“ fragt Maman beim Abendessen, während ich gerade mit meinem Hähnchenschenkel beschäftigt bin.

„Ganf gug“, nuschele ich mit vollem Mund.

„Ab 50 Gramm wird’s undeutlich“, verkündet Didier schmatzend.

„Und schmatzen tun nur Schweine“, erwidere ich.

Maman grinst Papa an. - Ist für die beiden sicher schön, dass ihre Sprüche auf so fruchtbaren Boden gefallen sind.

„Wo wart ihr denn?“, fragt Papa, während er mit einem Stück Baguette genüsslich die Soße vom Teller wischt.

„In den Katakomben und im Louvre.“

„In den Katakomben? Da sind doch lauter tote Skelette.“ Didier schaut mich mit großen Augen an. „War das nicht unheimlich?“

„Ein bisschen schon“, gebe ich zu, „vor allem als ich die anderen für einen Moment verloren habe. Diese ganzen Knochenstapel und die Totenschädel ...“ Unwillkürlich schaudert es mich. Ich denke an dieses schreckliche Gefühl, nicht wegrennen zu können, so als wäre ich hypnotisiert worden von ... ja von wem eigentlich? Vielleicht habe ich überhaupt nur deshalb so lange dort alleine gestanden?

Mich fröstelt es erneut, weil mir der Mann wieder einfällt, der später aus dem Ausgang der Katakomben kam. Den hatte ich dort unten gar nicht gesehen.

„Was ist denn mit dir, Chérie, hast du dich erkältet?“ Maman sieht mich besorgt an.

„Nein, nein, ich dachte nur gerade an all diese Knochen und Schädel.“

„Also ich hätte da Angst“, sagt Didier leise und sieht mich treuherzig an.

„Sind doch nur alte Schädel“, meint Papa und schiebt dabei seine abgegessenen Geflügelreste auf den Extrateller. „Dieses Hähnchen hat auch mal gelebt und seine Knochen hier machen dir doch auch keine Angst.“

„Stimmt schon“, gibt Didier zu und betrachtet mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn den Knochenteller. Plötzlich blitzen seine Augen und er meint grinsend: „Aber gruselig wäre es doch schon, wenn sich daraus jetzt mit einem Mal ein Geisterhähnchen ...“

„Oh! Ich glaube, es hat sich schon bewegt!“ Ich deute auf den Teller und Didier hält erschrocken inne, während Papa leise auflacht.

„Lana!“, schimpft meine Mutter.

„Er hat angefangen!“, verteidige ich mich.

„Geisterhääähnchen!“, brummt Didier mit tiefer Stimme und weit aufgerissenen Augen, wobei er mit den Armen ganz langsam eine flatternde Bewegung antäuscht. Das sieht so lustig aus, das Papa und ich laut auflachen.

„Nun ist es aber gut, Didier!“ Erbost fährt Maman dazwischen, „Sonst kannst du heute Nacht wieder nicht schlafen!“

Didier grinst uns triumphierend an. - Na, der wird auch immer frecher!

„Wie war es denn im Louvre? Habt ihr dort ein Bild gefunden?“, fährt Maman an mich gewandt fort und blinzelt dabei gleichzeitig ziemlich böse, um mir zu signalisieren, dass sie das Thema Geisterhähnchen nicht zu vertiefen wünscht. Das gelingt ihr zwar, aber der Lachanfall, den sie mit dieser Frage provoziert, ist noch viel größer. Papa kann sich kaum halten. Laut lachend lehnt er die Stirn an meine Schulter.

„Im Louvre ein Bild gefunden“, keucht er.

„Ja, eins schon!“, antworte ich so ernst wie möglich.

Papa drückt sich seine Serviette an den Mund, um ein erneutes Prusten zu unterdrücken.

Maman verdreht die Augen und stöhnt auf: „Ich räum jetzt den Tisch ab!“ Entschlossen steht sie auf.

„Ich helfe dir!“, ruft Didier und sieht uns mit zusammengezogenen Augenbrauen an, während Papa und ich albern rumkichern. Draußen hören wir Didiers leise Stimme: „Was war denn da jetzt so witzig?“ Da prustet auch Maman los.

Ratlos kommt Didier wieder herein und räumt das Geisterhähnchen und die Bestecke weg. Dabei schaut er Papa und mich immer wieder misstrauisch und leicht beleidigt an, während wir immer noch rumglucksen.

„Der war gut“, keucht Papa schließlich und wischt sich mit seiner Serviette die Augen.

Maman bringt Obst und Käse auf den Tisch. „Habt ihr im Louvre ein Bild gefunden - Ne blödere Frage hätte ich auch wirklich nicht stellen können“, murmelt sie und grinst, während sie sich hinsetzt.

„Ich will auch mal lachen“, mault Didier und nimmt sich einen Pfirsich.

Papa schenkt sich und Maman noch ein Glas Rotwein zu dem Käse ein. „Na ja“ erklärt er dabei schmunzelnd „wenn man bedenkt, dass der Louvre das drittgrößte Museum der Welt ist, sollte man doch wohl mehr als ein Bild dort vermuten, oder?“

„Ach so!“, kichert Didier, aber so unsicher, wie seine Augen zu Maman und wieder zu uns wandern, hat er den Witz der Sache - vermute ich mal - immer noch nicht erkannt.

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9783847627234
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