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|50| Kindliches und erwachsenes Beten

Kierkegaard setzt bei dem Beten eines Kindes ein. Das Kind gerate in keinen Streit mit Gott: Es bitte Gott um das Gute, danke Gott für das Gute, das nach der Vorstellung des Kindes gut sei. Bekommt es zu Weihnachten das ersehnte Spielzeug, so dankt es Gott. Das Traurige, Unangenehme werde aber vom Kind nicht auf Gott zurückgeführt, sondern anders erklärt, zumeist mit der Vorstellung von bösen Menschen. Stirbt dem Kind der Vater, so hat es eigentlich keine Vorstellung davon, was der Tod sein mag. Man sagt dem Kind, dass der Vater bei Gott im Himmel sei, und schon ist das Kind wieder mit Gott zufrieden. Den Tod aber mit all seinen Schwierigkeiten überspringe das Kind. Es werde ihm schwerlich einfallen, den Tod Gott zuzuschreiben.

Auf die Mutter des Kindes aber kommen Schwierigkeiten im Gebet zu, wenn sie den Tod ihres Mannes mit Gott zusammenzudenken versuche und sich dabei nicht mit den Erklärungen begnüge, die sie ihrem Kind gegeben hat. Das wäre in Kierkegaards Augen kindisch, wenn ein Erwachsener der Schwierigkeit auswiche, den Tod, das Böse und das Widrige mit Gott zusammenzubringen, auf den doch zuletzt alles zurückgeführt werden müsse. Irgendwann müsse ein Gebet erwachsen werden. Die reife, erwachsene Innerlichkeit des Gebetes bestehe darin, alles mit Gott zusammenzubringen, alles auf Gott zurückzuführen, den Tod ebenso wie das Leben, das Böse ebenso wie das Gute. Das sei in widerwärtigen Fällen zuweilen sehr schwer, wie das Beispiel des Hiob zeigt. Das Gebet wird dann zu einem Streit mit Gott nach der Art, wie Jakob am Jabbok gekämpft hat: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« (Gen 32). Das zeichne ein erwachsenes Gebet aus, dass es mit Gott ringt, kämpft und streitet, um ihn für das menschliche Anliegen zu gewinnen und von Gott recht zu bekommen. Wie soll aber so ein Streit aussehen? Wie kann ein Mensch in diesem Streit siegen, indem Gott über ihn siegt, und er, der Mensch, unterliegt und eben dadurch der rechte Beter wird?

Der Streit mit dem Weisen

Mit einer direkten Anrede des Lesers zeigt Kierkegaard an, dass er nun in das Zentrum seiner Rede eintritt, auf das sich auch der exemplarische Textausschnitt in diesem Kapitel bezieht. Ein Vergleich steht im Mittelpunkt, wie ihn Kierkegaard oft wählt, wenn er bei seinem Leser eine Evidenz des Gedankens und die Phantasie der Einbildungskraft entzünden will: »Mein Leser, hast du niemals mit einem Menschen gesprochen, der an Weisheit dir weit überlegen dennoch es wohl mit dir meinte, ja mehr oder doch besser (und somit mehr) besorgt war um dein Wohl als du selbst; hast du es nicht, |51| nun wohl so bedenke, was dir wie mir widerfahren könnte, so wie ich es nun darlegen will.«

Es ist des Vaters dialektische Kunst, auf die Kierkegaard hier anspielt.68 Der Vater ist der Weise, der im Streit die Übersicht behält, während sein Widerpart heftig wird, um den Vater für seine Ansicht zu gewinnen. Als am Ende des Streits der Punkt klar ist, auf den es ankommt, gibt der Weise zu verstehen: »Das war es ja, was ich von Anfang an sagte, während du in der Hitze des Gefechts mich nicht verstehen konntest noch wolltest.« Dennoch war der Streit nicht vergebens, denn er führt dazu, dass der dem Weisen Unterlegene selber zur Einsicht kommt und entdeckt, was dem Weisen von Anfang an klar war.

Kierkegaard folgert aus dieser gleichnishaften Erfahrung: »Wer aber die Innerlichkeit nicht fahren lässt, mit seinem Streit sich nicht aus dem Verhältnis mit Gott herausstreitet, sondern sich hineinarbeitet in Gott, ihm geht es ganz so, wie es erklärt worden ist, indem die innerliche Einkehr des Gebetes in Gott ihm die Hauptsache wird und nicht Mittel zum Erreichen eines Zwecks.« Was ist das – »innerliche Einkehr des Gebetes in Gott«? Am besten wird es wohl im Gegensatz zur Äußerlichkeit klar, mit der ein Mensch im Gebet nur an seinem Wunsch klebt oder auf seiner Ansicht Gott gegenüber beharrt. Dann bleibt er Gott noch gegenüber, arbeitet sich nicht in Gott hinein. Die innerliche Einkehr des Gebetes in Gott ist aber die Hauptsache.

Deshalb fragt Kierkegaard eher rhetorisch: »Sollte der nicht ein Beter sein, ja der rechte Beter, der spräche: Mein Herr und Gott, eigentlich habe ich gar nichts, dich darum zu bitten; verhießest du mir gleich, mir jeden meiner Wünsche zu erfüllen, ich weiß dennoch eigentlich nicht, was ich mir ausdenken soll, nur daß ich bei dir bleiben möge, so nahe, wie es möglich ist in dieser Zeit des Getrenntseins, in welcher du und ich leben, und ganz und gar bei dir möge sein in der Ewigkeit?«

Damit ist Kierkegaard ganz nahe bei dem Beter von Psalm 73, der sich in seinem Eifer über die »Ruhmredigen« mehr und mehr in Gott hinein arbeitet, so dass er schließlich bekennt: »Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde« (Ps 73, 25). Das ist die »innerliche Einkehr«, auf die es beim Gebet ankommt. Die Wünsche des Menschen fallen dann mehr und mehr ab, die Frage nach Himmel und Erde verstummt, weil am Ende nur noch die Anbetung Gottes bleibt, das innerliche Erfülltsein von Gottes Nähe. Das Du Gottes hat nun das Ich des Menschen mit seinem |52| Trotz, seiner geheimen Rechthaberei, seinen Wünschen ganz aufgesogen, so dass es in Psalm 73 nur noch heißt: »Du hältst mich … Du leitest mich … du nimmst mich an.« Dieses dreimalige Du versammelt sich in dem »Wenn ich nur dich habe …«. Kierkegaard sagt es so: »So wird denn der Mensch minder und minder glühend, zuletzt ist seine Zeit vorüber, so stirbt denn der Wurm des Verlangens klein bei klein, und das Verlangen stirbt ab, so schlummert denn die Wachsamkeit der Besorgnis allmählich ein, um niemals mehr zu erwachen, die Zeit der Innerlichkeit aber ist niemals vorüber.«

Innerlichkeit heißt also, dass ein unruhig auf seine Wünschen pochender Mensch zur Ruhe kommt, weil ihn eine Dankbarkeit für Gottes Nähe erfüllt. Alles Wünschen ist dann Nebensache geworden, ja, mehr noch: Alles Wünschen wird so kleinlich, so armselig und gering, dass es wie von selbst angesichts der »unbeschreiblichen Freude« an Gott verschwindet. Das ist der Sieg im Streit des Gebets. Der Mensch siegt durch seine Niederlage, weil er selbstvergessen auf Gott schaut und sich selbst mit seiner verzehrenden Sehnsucht auf glückliche Weise vergessen kann.

Im Gebet verändert sich die Gottesbeziehung

Schließlich fragt Kierkegaard, was denn nun durch den Streit anders geworden sei. Ist Gott vielleicht ein anderer geworden? Nun, es habe sich im Streit gezeigt, dass Gott unveränderlich sei, aber diese Unveränderlichkeit sei nicht mehr jene eisige Gleichgültigkeit, jene tödliche Erhabenheit, jenes kalte Schicksal, das noch der Verstand gepriesen habe. »Nein, im Gegenteil, diese Unveränderlichkeit ist innerlich und warm und allenthalben gegenwärtig, ist unveränderlich in der Sorge für den Menschen und eben darum lässt sie sich nicht verändern durch des Beters Schreien, so als ob nun alles vorüber wäre.«

Und der Beter? Hat er sich durch den Streit des Gebetes verändert? Dessen Veränderung sei nicht schwer einzusehen, meint Kierkegaard, denn am Beginn des Streits sei der Beter ja von seinen Wünschen umgetrieben gewesen. Dann aber, als sein Gebet innerlicher und innerlicher wurde, sammelte sich alles in ihm auf einen Wunsch, bis er auch mit diesem Wunsch zu nichts wurde, weil Gott ihn völlig erfüllte, ein Wechsel, den Kierkegaard mit einem wunderbaren Bild veranschaulicht: »Wenn das Meer alle seine Kraft anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade nicht widerspiegeln, auch nur die mindeste Bewegung, so spiegelt es den Himmel nicht rein; doch wenn es stille wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts.«

Es braucht freilich zunächst viel Leiden, Kampf und Streit, um zur Innerlichkeit des Gottesverhältnisses vorzudringen. Auch das Gebet ist dazu nicht in der Lage, wenn es aus einem zerstreuten und nicht aus einem gesammelten |53| Herzen kommt. Wo die Innerlichkeit in Kierkegaards Sinn fehlt, da gleicht der Mensch einem Bogen, der nicht gespannt ist, so dass die abgeschossenen Pfeile kraftlos zu Boden fallen und ihr Ziel nicht erreichen.

Wie ist »Innerlichkeit« zu erlernen? Kierkegaard schreibt in seinem Tagebuch69 einmal von der »Methode der Innerlichkeit« und weist auf Hebr 5,8 hin, wo von Christus gesagt wird: »Er lernte an dem, das er litt«. Dies sei die »Methode der Innerlichkeit«, die von Christus als dem »Vorbild« zu erlernen sei. Durch Leiden ist Innerlichkeit zu erlernen, genauer: dadurch, dass ein Mensch dem Leiden nicht ausweicht, das ihm bestimmt ist. Und wie erkenne ich, welches Leiden mir bestimmt ist? Es lässt sich wohl nur im Nachhinein, d. h. im Rückblick auf erlittenes Leiden sagen, was mir an Leiden zugedacht war. So hat ja auch Kierkegaard zeitlebens sich seiner Schwermut gestellt und dadurch »an dem gelernt, was er litt«. Das war für ihn die Schule der Innerlichkeit. »Solange das Leiden dauert, ist es oft ungeheuer qualvoll. Doch nach und nach lernt man mit Gottes Hilfe, glaubend bei Gott zu bleiben, selbst im Augenblick des Leidens, oder doch so hurtig wie möglich wieder zu Gott hinzukommen, wenn es gewesen ist, als hätte er einen kleinen Augenblick einen losgelassen, während man litt. So muß es ja sein, denn könnte man Gott ganz gegenwärtig bei sich haben, so würde man ja gar nicht leiden.«70

C Bezug zur Gegenwart
Missverstandene Innerlichkeit

Der Begriff »Innerlichkeit« wird seit Hegel häufig als selbstgenießerische Sentimentalität bzw. als ein »Verhausen« der Subjektivität in sich selbst abgetan. Stattdessen komme es auf eine Vermittlung von innen und außen an. Kierkegaard lehnt jedoch Hegels Vermittlungsdenken ab, weil es Abgründe (sc. der Schwermut) überspringt, über die hinweg nichts zu vermitteln ist. Der im Äußerlichen zerstreute Mensch kann vielleicht gedanklich, aber nicht existenziell mit dem Inneren vermittelt werden, es sei denn, er arbeitet sich mit Hilfe des Gebets in Gott hinein.

Nietzsche schrieb in seinen »Unzeitgemäße[n] Betrachtungen«: »Das Wissen […] wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach außen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamem Stolz als die ihm eigenthümliche |54| ›Innerlichkeit‹ bezeichnet.«71 Das sei typisch deutsche Innerlichkeit, die auf Luthers Reformation zurückgehe und die Deutschen rückständig gemacht habe.

Direkt auf Innerlichkeit bei Kierkegaard sind Theodor W. Adornos Überlegungen zur »Konstruktion des Ästhetischen«72 gerichtet: »Wer jeden Eingriff in die äußerliche Realität als Abfall vom rein inwendigen Wesen ahndet, der muß die gegebenen Verhältnisse sanktionieren, wie sie sind. Kierkegaard scheute lange Zeit davor nicht zurück.«

In dieser Kritik an Innerlichkeit wird freilich übersehen, dass eine tiefe Innerlichkeit zu äußerster Kampfbereitschaft führen kann. Dafür geben gerade Luther ebenso wie Kierkegaard anschauliche Beispiele: Die Verweigerung eines Widerrufs in Worms begründet Luther – ganz »innerlich« – mit dem in Gottes Wort gefangenen Gewissen. Bei Kierkegaard sehen wir am Beispiel seines Streits mit dem »Corsar« ebenso wie am Streit mit der dänischen Staatskirche, wie sich tiefste Innerlichkeit und äußerste Kampfbereitschaft gegenseitig fordern. In Taizé brachte es Roger Schutz auf die Formel: »Kampf und Kontemplation!« Die Innerlichkeit der Kontemplation gibt dem Kampf um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung die Kraft und bewahrt ihn vor Leerlauf. Stets geht es um die Dialektik, die Paulus in 2Kor 4,16f. so zum Ausdruck brachte: »Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.« Das ist die Innerlichkeit, auf die es Kierkegaard ankommt. Bei ihm wird sie unter viel Leiden im Streit des Gebets gelernt und hat zum Ziel, sich »in Gott hineinzuarbeiten«.

Innerlichkeit und »Entweltlichung«

Als Papst Benedikt XVI. 2011 Deutschland besuchte, kam die Pointe seines Besuchs erst ganz am Schluss bei einer Rede in Freiburg zur Sprache: »Entweltlichung« der Kirche, forderte der Papst. Weist »Entweltlichung« in die Richtung einer recht verstandenen »Innerlichkeit«? Ist der purgatorische Ton des Begriffs »Entweltlichung« vielleicht besser in dem Begriff »Innerlichkeit« aufgehoben? Der Sache nach ist doch wohl gemeint: Eine Kirche, die sich dadurch verzettelt, dass sie in tausend weltlichen Dingen mitmischt, |55| wird zur innerlichen Sammlung auf die Kräfte der Eucharistie und des Gebetes aufgefordert, damit sie sich nicht in äußerlichem Aktivismus erschöpfe. Von der Welt Abstand gewinnen, um die Welt wieder erreichen zu können – das scheint mir in dem Appell des Papstes wie in Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit mitzuschwingen.73 Das ist auch der Sinn von Röm 12,2: »Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist«.

Ich wünschte mir, dass der Appell des Papstes an seine Kirche ebenso wie Kierkegaards Ruf nach Innerlichkeit auch in evangelischen Kirchen gehört würden. Dann würde manches Wort, mancher Begriff, manche Parole verschwinden, weil die Innerlichkeit fehlt, die einer Parole erst die Spannkraft gibt. Ohne Innerlichkeit gleicht ein Wort einem Bogen, der nicht gespannt ist, so dass jeder Pfeil kraftlos zu Boden fällt. Das ist bei Luthers Parole von der »Freiheit eines Christenmenschen« anders, weil hier die innerliche Spannung von Glaube und Liebe, von Freiheit und Dienst mitschwingt und die Kirche der Freiheit davor schützt, eine Kirche der Beliebigkeit zu werden.

Innerlichkeit und Aktivismus

Die Bochumer Praktische Theologin Isolde Karle hat die evangelische Kirche eine »Kirche im Reformstress«74 genannt. Das Grundproblem vieler Kirchenreformprogramme sei, dass sie zu viel Steuerbarkeit und Planbarkeit unterstellten, dass sie Prozesse organisieren wollten, die sich nicht organisieren lassen. Dadurch manövriere sich die evangelische Kirche in einen Aktivismus hinein, der große Frustrationen hervorrufe und die kirchlichen Mitarbeiter auslauge. Die Frage ist also, was sie mit den Erwartungen machen, die an sie herangetragen werden, ob sie auch entschieden »Nein!« sagen können und eine Zuflucht haben, in der sie sich in Zeiten der Erschöpfung bergen können, um zu neuen Kräften zu kommen.

Natürlich meine ich mit »Zuflucht« den Raum, den das Gebet öffnet. Ich meine als Rhythmus das »Ora et labora«, das nicht nur in einem Kloster, sondern auch in einem Pfarrhaus wie in jedem Haus zum Lebensrhythmus werden kann, frei nach Luthers berühmtem Wort: »Heute habe ich viel zu |56| tun. Da muss ich viel beten!« Doch leider gibt es ja auch die flüchtigen, die geplapperten, die routinierten Gebete, die keinen Raum öffnen, sondern mehr in die Enge treiben. Es sind gar nicht unbedingt die geprägten Gebete wie etwa das Vaterunser oder Luthers Morgen- und Abendsegen, die eine Enge verbreiten. Es sind Gebete, die Gott nur zum Erfüller menschlicher Anliegen degradieren. Ich glaube kaum, dass durch solche Gebete ein Raum der Innerlichkeit eröffnet wird, weil sie noch zu sehr am menschlichen Wunsch kleben, statt ihn loszulassen und »sich in Gott hinein zu arbeiten«.

Innerlichkeit und Anbetung

Wie das aussehen könnte, will ich an einem Gebet Kierkegaards verdeutlichen:

»Vater im Himmel! Du hältst alle guten Gaben in Deiner milden Hand. Dein Überfluß ist reicher, als daß menschlicher Verstand ihn fasse; Du bist willig zu geben, und Deine Güte ist größer, als daß eines Menschen Herz sie verstehe; denn Du erfüllst jede Bitte und gibst, um was wir bitten, oder gibst weit Besseres, als was wir erbitten. So gib Du denn jedem seinen ihm zugewiesenen Teil, wie es Dir wohlgefällt; aber gib Du auch einem jeden die Überzeugung, daß alles von Dir kommt, damit nicht die Freude uns von Dir reiße in der Vergessenheit der Lust, damit nicht das Leid die Scheidewand setze zwischen Dich und uns; sondern daß wir in der Freude hinsuchen zu Dir und im Leide bei Dir bleiben, damit, wenn unsere Tage einst gezählt, und der äußere Mensch verdorben ist, der Tod nicht kalt und furchtbar in seinem eigenen Namen komme, sondern mild und freundlich mit Gruß und Botschaft, mit Zeugnis von Dir, unserem Vater, der Du im Himmel bist! Amen.«75

Dieses Gebet ist mehr Anbetung als Anrufung. Der Beter wird aus der Fülle von Gottes Gaben in die Fülle von Gottes Gruß und Zeugnis durch den Tod hindurch geleitet. Kierkegaards Gebete führen in der Regel an einen Punkt, an dem der Anbetende am Ende nur noch ein auf Gott Hörender ist. Darauf kommt es im Grunde an, daß Beten am Ende ein Hören auf Gott wird. Kierkegaard beschreibt diesen Umschlag des Gebets vom Reden zum Hören so:

»Es ist des Menschen Vorzug vor dem Tiere, dass er reden kann; aber im Verhältnis zu Gott kann es dem Menschen, der reden kann, leicht zum Verderben werden, reden zu wollen. Gott ist im Himmel, der Mensch auf Erden: darum können sie nicht gut miteinander reden. Gott ist die Allweisheit; das, was der Mensch weiß, ist leeres Geschwätz: darum können sie nicht gut miteinander reden. Gott ist Liebe, der Mensch ist – wie man wohl zu einem Kinde sagt – sogar hinsichtlich seines eigenen |57| Wohl und Wehes ein kleines Schaf; darum können sie nicht gut miteinander reden. Nur mit viel Furcht und Zittern kann der Mensch mit Gott reden; mit viel Furcht und Zittern. Indes, mit viel Furcht und Zittern reden, ist schwierig aus einem anderen Grunde; denn gleich wie die Angst es macht, dass die Stimme leiblich versagt, ebenso bewirkt wohl auch viel Furcht und Zittern, dass die Rede verstummt und stille wird. Dies weiß der rechte Beter; und wer ein rechter Beter nicht war, der hat vielleicht eben dies gelernt im Gebet. Es war da etwas, das ihm so sehr am Herzen lag, eine Sache, die ihm so wichtig war, es ihm so überaus dringlich machte, sich Gott so recht verständlich zu machen, es bangte ihm, dass er im Gebet etwas vergessen haben könnte, und ach, gesetzt, er hatte es vergessen, so bangte ihm, dass Gott vielleicht von selber nicht daran denken möge: darum wollte er seine Sinne darauf sammeln, recht innerlich zu beten. Und was widerfuhr ihm dann, wenn anders er wirklich innerlich betete? Etwas Wunderliches widerfuhr ihm; allmählich, wie er innerlicher und innerlicher wurde im Gebet, hatte er weniger und weniger zu sagen, und zuletzt verstummte er ganz. Er ward stumm, ja, was dem Reden vielleicht noch mehr entgegengesetzt ist als das Schweigen, er ward ein Hörender. Er hatte gemeint, beten sei reden; er lernte: beten ist nicht bloß Schweigen, sondern ist hören. Und so ist es dann auch: Beten heißt nicht, sich selber reden hören, sondern heißt dahin kommen, dass man schweigt und im Schweigen verharren, und harren, bis der Betende Gott hört«.76

Wohlgemerkt, das Beten beginnt nicht gleich mit dem Hören; es beginnt mit den tausend Anliegen des Menschen; es beginnt vielleicht auch im Streiten mit Gott, weil der Mensch Gott unbedingt auf seine Seite bringen, ihn gewinnen und überreden will. Je mehr dann aber der Beter angesichts von Gottes Größe in Furcht und Zittern gerät, je mehr er sich in Gottes Unveränderlichkeit hineinarbeitet, desto innerlicher wird das Gebet. Nun hat der Beter weniger und weniger zu sagen, ja, am Ende verstummt er und wird ein Schweigender, schließlich ein Hörender.

»Innerlichkeit« ist also bei Kierkegaard etwas anderes als ein mystischer Prozess, in dem der Myste durch unaufhörliches Schweigen das Nahen Gottes erwartet. Es ist auch mehr als ein prophetisches Ringen mit Gott. Beide großen Gebetstraditionen, die mystische und die prophetische Tradition,77 führt Kierkegaard in seinem Gebetsverständnis zusammen, indem er Streit und Ergebung im Gebet beisammen sein lässt bzw. allererst zusammenbringt. Bliebe es nur beim Streit, dann wäre der Beter noch bei sich und seinen Wunsch, für den er Gott zu gewinnen versucht. Käme es sofort zur |58| Ergebung, dann müsste der Mensch eigentlich seine Anliegen unterdrücken und so tun, als ergebe er sich in Gott, obwohl ihn in Wahrheit noch seine Anliegen bestimmen. Das eben macht die Einzigartigkeit von Kierkegaards Gebetsverständnis aus, dass er prophetisches und mystisches Beten in einem Dritten vereinigt, dem innerlichen Beten. Es ist ein Beten, das ganz außen bei dem beginnt, was einen Menschen vor Gott bewegt, und es führt immer tiefer zu einem Hinein-Arbeiten in Gott, bis Gottes Unveränderlichkeit dem Beter zu einer Bleibe wird, die ihn selbst aufs Tiefste bewegt, so dass er dort, angesichts dieser Unveränderlichkeit Gottes, alles ablegen kann und selbst ein Hörender auf das wird, was Gott von ihm will.

Kierkegaard gehört zu den großen Betern des Christentums. Von welcher Hingabe und Innerlichkeit seine Gebete erfüllt sind, wird in der Sammlung von Kierkegaards Gebeten deutlich, die Walter Rest78 herausgegeben hat. Auch in seinen Tagebüchern geht Kierkegaard immer wieder in die Sprache des Gebetes wie in Reflexionen zum Gebet über:

Der archimedische Punkt außerhalb der Welt ist eine Betkammer, wo ein wahrhaft Betender in aller Aufrichtigkeit betet – und er wird die Erde bewegen. Ja, wofern er da wäre, jener wahrhaft Betende, – wenn er seine Tür schließt, so ist unglaublich, was er vermag.79

Christian Möller

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