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Читать книгу: «Die Siebte Sage», страница 6

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«Und was glaubst du, was sie da machen?», fragte Dshirah.

Sie bekam keine Antwort. Una streichelte über ihren Kopf und fing an zu singen, wie sie Juja oft beruhigte, nur leiser.

Und am nächsten Tag vergaß sie eben dieses Singen.

Es war noch in den Morgenstunden. Da sahen sie, dass an der Südseite außerhalb der Mauer Balken aufgerichtet wurden, die hoch über die Blumen ragten. Dshirahs Blick hing voller Angst und Fragen an Unas Gesicht. Und sie sah in Unas Augen ein unruhiges Flackern. Da waren vielleicht weniger Fragen, aber genauso viel Angst.

«Silbão?», fragte Juja. Sie flüsterte: «Er kommt nicht.» Und sie schrie: «Nie wieder!»

Sie sank in sich zusammen und sang: «Abdalameh, Abdalameh.»

Una starrte auf das Gerüst im Süden, und Jujas Stimme glitt in den Totengesang.

Auf der Mauer stand ein Mann. Er schlug mit einem großen Messer, fast ein Schwert, auf die Blumen ein. Sie fielen hinab nach En-Wlowa, lange Girlanden aus riesigen Blüten. Jujas Lied zerbrach in Schluchzer. Una schwieg noch immer.

Und die anderen? Die vielen anderen? Sie schrien oder lachten oder fluchten oder tanzten oder zitterten – und keiner wusste warum.

An diesem Tag geschah nichts mehr. Sie hatten also noch eine Nacht, voller Grübeln, voller Angst – ohne Schlaf. Und eine kleine, verrückte, vollkommen sinnlose Hoffnung war auch dabei. Dshirah kuschelte sich an Una und träumte, sie läge wieder in den Armen ihrer Mutter.


Glückstag

Und dann begann: der Glückstag.

Früh aufgestanden war Dshirah ja schon immer. Die tief am Horizont stehende Morgensonne war eine Vertraute, eine Freundin, die eben jetzt in diesem Wimpernschlag auch das kleine weiße Haus in der Ebene erhellte und den Patio und den Hof mit den Pferden, die Januão gerade mit seiner Flöte … Hörte sie ihn? Sie stand zwischen Juja und Una in der Schlange am Brunnen, die Schale in der Hand, und dachte: Wenn der Wind nicht so ein träger Klepper wäre, wenn der Wind so flink wäre wie das Licht, dann könnte ich jetzt meinen Bruder hören, wenn –

Sie unterdrückte alle übrigen Wenns, denn vom Dorfinneren brachte der Wind andere Töne: Schreie, schrill und wütend.

Una, Juja und Dshirah waren immer kurz nach Sonnenaufgang, aber niemals als Erste am Brunnen. Auch waren sie heute – kampflos – zurückgetreten, als Shenja und ihre Truppe kamen, die sonst, an gewöhnlichen Tagen, viel länger schliefen. Dies war kein gewöhnlicher Tag. Noch traten welche von den Gefangenen, grau und mager, an das Wasser, hielten ihre Schale unter den Strahl, spülten sie aus, wenn sie noch Gewohnheiten ihres früheren Lebens in sich hatten, tranken aus dem staubigen Gefäß, wenn sie schon gar zu lange hier waren, und gingen mit halb gefüllter Schale weiter zum Platz. Von dort kam das Geschrei. Da lief eine Bewegung durch die knochige Reihe vor dem Brunnen, ein Zucken durch die schmerzenden Wirbel dieser alten, ergrauten Schlange, in der Jujas scheckiges Blau der einzige farbige Fleck war. Una – was erwartete sie? – versuchte Dshirah zu verbergen. Das Schreien kam näher, Frauenstimmen schrill: «Nichts! Nichts!», Männerstimmen hohl, dumpf: «Leer! Leer!»

Dshirah drückte sich an Una. Durch die Lücke zwischen zwei schmutzigen Kitteln vor ihr sah sie Shenja. Die trat zum Brunnen und hob ihre Schale – leer, kein Wasser, kein Brei.

«Trinkt!», schrie sie. «Füllt euch mit Wasser. Es gibt sonst nichts. Es ist niemand in der Bude. Sie lassen uns hungern, verhungern, und …», sie schob die beiden schmutzigen Kittel vor Dshirah mit leichtem Druck auseinander, zwei Männer taumelten zu Seite, «… und die da ist schuld.»

Rasch drückte Una Dshirah hinter sich und fragte: «Was habe ich getan?»

Shenja lachte, ein kurzes, bitteres, hungriges Lachen.

«Nicht du. Das Kind. Wir wissen es doch alle. Es ist was mit diesem Kind.»

Sie trat so dicht an Una heran, dass auch Dshirah ihren erhitzten Körper spürte.

«Wir tun dem Kind nichts, wenn du uns sagst, warum es immer mit seinen Kleidern badet.»

«Es hat etwas, das ihr nicht kennt: ein Schamgefühl.»

«Das die Frauen des Kalifen auch nicht kennen», keifte Shenja, «denn zwei baden hier nackt mit dem Zeichen auf der Schulter.»

Es sammelten sich mehr um Shenja, jeden Herzschlag mehr. Auch Männer. Juja fing leise an zu weinen. Wahrscheinlich weinte Dshirah auch, aber sie hatte zu viel Angst, um die Tränen zu fühlen.

«Sie hat recht», sagte ein Mann, «es ist was mit dem Kind.» Er fasste mit einer Hand Unas Arm und zog mit der anderen Dshirah hinter dem schützenden Rücken hervor. Shenja hielt Una ihre Finger unter die Nase.

«Guck!», kreischte sie. «Seit drei Wochen habe ich meine Nägel nicht gebissen, damit ich dem Kind das Gesicht kratzen kann. Dann sagt es uns selber, was sein Geheimnis ist.»

Ein lautes Krachen rettete Dshirah vor Shenjas Krallen. Es kam von der Mauer, und sofort rannte, wer laufen konnte, dahin. Zurück blieben ein paar lahme Alte. Ein Mann, der sich auf einen anderen Alten stützte, streckte den Arm nach Dshirah aus.

«Vielleicht befreist du uns ja», nuschelte er und lächelte. Als er versuchte, auf Dshirah zuzugehen, wäre er gestürzt, hätte Una ihn nicht gehalten.

«Danke», sagte er mit seinem fast zahnlosen Mund und einem sehr freundlichen Blick. «Es gibt gute Menschen, und solange es gute Menschen gibt, ist Hoffnung.»

«Es ist Hoffnung!», jubelte Juja. «Es ist Silbão, der kommt.» Die beiden Alten humpelten zum Brunnen, tranken aus ihren schmutzigen Schalen, der kräftigere, der gehen konnte, füllte sie halb mit Wasser und schleppte den anderen mit sich durch die Gasse zum Platz, wo es bis heute immer den Brei gegeben hatte. Die Schalen balancierten sie mühselig einer in der rechten, der andere in der linken Hand. Da krachte es wieder an der Mauer.

«Wo versteck ich dich?», murmelte Una.

«Musst du mich verstecken?», fragte Dshirah.

Una zuckte die Achseln. «Wir schauen das an. Wir müssen das wissen. Man muss wissen.»

Sie gingen auf den Lärm zu. Juja lief voraus, im blauen Kleid auf leichten Füßen. Sie sang. Es war voll am Dorfrand. Sie konnten nichts sehen.

«Ich will nicht nach vorn gehen», sagte Una. «Wir könnten nicht mehr zurück. Jujas blaues Hemd fällt überall auf.»

Da entdeckte Dshirah ihre erste freundliche Helferin in En-Wlowa, die für den geflohenen Brun eine Mutter gewesen war, wie Una für sie.

«Die können wir fragen», flüsterte sie.

Doch Una zögerte. Es war Abwehr, fast Feindseligkeit in dem Blick, mit dem sie Bruns Beschützerin begegnete. Aber sie hatten keine Wahl, und Una sprach die Frau an.

«Sie haben einen Widder aufgebaut», erfuhren sie. «Sie reißen die Mauer ein.»

Widder? Dazu fiel Dshirah nichts anderes ein als die lustigen Schafböcke, die in wildem Spiel die Köpfe gegeneinander stießen. Konnten die ein Grund sein, dass Una so blass wurde?

«Was für Widder?», fragte Dshirah.

Una antwortete nicht. Die andere Frau musste helfen.

«Ein altes Kriegsgerät», erklärte sie. «In dem Gerüst, das sie gebaut haben, hängt an langen Seilen ein schwerer Baumstamm. Der hat vorn einen Eisenkopf. Das ist der Widder. Den schwingen sie jetzt hin und her und rammen ihn gegen die Mauer. Da stehen schon alle und wollen rausrennen.»

«Komm!» Una wollte Dshirah wegziehen. Ein lauterer Krach hielt sie fest, ein Poltern, ein Steineschlagen, eine Felslawine und viele Stimmen, gebündelt zu einem einzigen tosenden Schrei. Die graue Masse vor ihnen brach auseinander, warf sich nach vorn, zersplitterte in Rennende und Stürzende. Lücken entstanden und gaben den Blick frei. Zwischen Mauerbrocken taumelten die Gefangenen, grau in grau. Was war Mensch? Was war Stein? Zu Boden gingen sie alle.

Soldaten in dunkelblauen Uniformen strömten durch das Loch. Sie räumten den Weg und warfen Menschen und Steine beiseite. Die Menschen waren leichter, flogen weiter, krachten nicht auf den Boden, machten andere Laute: Schreie.

Una hob Dshirah hoch.

«Wo kann ich dich verstecken?», flüsterte sie ihr ins Ohr.

«Warum muss ich weg?», fragte Dshirah. «Was wollen die? Was denkst du?»

«Was der Kalif denkt», murmelte Una. «Wenn hier jemand weiß, wie der Kalif denkt, bin ich das.»

Sie schaute sich um, sah Juja nah der Mauer.

«Wir lassen sie dort», sagte sie. «Das gilt nicht ihr.»

Sie stellte Dshirah wieder auf die Füße.

Durch das Mauerloch kamen Reiter in roten Jacken auf schnellen Pferden, die sicher durch das Geröll sprangen. Hinter ihren Sätteln hingen große Mengen dünner Lederbänder.

«Fessler!», hauchte Una. «Weg! Komm!»

Aber Dshirah starrte gebannt auf die Reiter. Die roten Fesselreiter! Wie oft hatte sie die schon gesehen! Hatte in der großen Arena zwischen Mutter und Vater gestanden und geschrien und gejubelt, wenn die Reiter ihre Beute jagten. Zuerst wurde immer die Herde hereingetrieben, Ziegen zum Beispiel, viele muntere hüpfende Ziegen, wie Silbão sie hütete. Dann folgten die roten Fessler, hetzten die Ziegen, sprangen von ihren kleinen, flinken Pferden, warfen ihre Opfer zu Boden und banden ihnen mit zwei Handgriffen die Beine zusammen. Dabei hatte jeder Bänder in seiner Farbe. Am Schluss wurde gezählt, wer die meisten Tiere gefesselt hatte. Das machten sie mit Ziegen, Schafen, Kälbern und den Dunkelleuten aus Afrika. Mit Fohlen nicht.

Una riss an Dshirahs Arm. Es schmerzte im Schultergelenk. Einige Fesselreiter sprangen von ihren Pferden und dann gar nicht wieder hinauf. Zu dicht gedrängt und zu langsam waren die grauen Gestalten. Die Fessler mussten nur greifen, werfen, fesseln und wieder greifen, werfen, fesseln … Schon lagen sie in den Gassen, nebeneinander, übereinander, Männer und Frauen, an Händen und Füßen zu einem Bündel geschnürt.

Es gelang Una, sich mit Dshirah durch zwei eng stehende Häuser zu drücken. Bevor sie die nächste Gasse erreichten, noch frei von Fesslern, hörten sie den Schrei eines Reiters: «Da! Da ist ein Kind!»

Sie pressten sich an die Holzwand. Dshirah konnte noch sehen, wie zwei, vielleicht mehr der Fessler in dieselbe Richtung rannten.

Sie jagen die Kinder, dachte sie und verstand: Sie jagen mich.

War es ein Glück, dass es Una gelang, Dshirah zu ihrem Verschlag zu führen? Es war ein nutzloses Glück. Was sollten sie da? So dumm war Shenja nicht, dass sie dort nicht suchen würde. Sie kam mit ihrer Truppe durch die Mittelgasse gerannt.

«Ich hatte recht!», schrie sie. «Sie suchen das Kind!»

«Hast du gesehen?», rief eine aus ihrem Gefolge. «Sie ziehen den Kindern die Schuhe aus!»

Dshirah floh in die Hütte und dort in Unas Arme.

«Wir schaffen das nicht», schluchzte sie. «Ich will nicht mehr wegrennen. Lass mich zu ihnen gehen.»

Aber Una presste sie fest an sich.

«Du weißt, was geschieht! Du hast dann sieben Tage im Kalifenpalast. Sieben Tage Angst in Pracht und Protz. Du weißt, was sie mit euch tun!»

«Sie ist da!»

Una sprang zur Tür und versperrte den Frauen den Eingang. Warum? Wozu? Dshirah war gefangen, mitten im Gefängnis gefangen. Hatte Una keine Kraft mehr, weil das alles so sinnlos war? Sie ließ sich beiseite schieben, und sofort war die dunkle Kammer voller Frauen. Eine warf sich vor Dshirah auf den Boden, griff einen ihrer Füße und versuchte, durch das weiche Leder ihre Zehen zu fühlen. Aber Dshirah zappelte und zog ihr die Füße weg. Da packten sie alle zu, rissen und zerrten an ihr herum.

«Wenn sie sechs Zehen hat», keuchte Shenja, «bringen wir sie ihnen. Dann lassen sie uns frei.»

An Dshirahs Hemd platzte die Schulternaht. In den Bändern ihres rechten Fußes verhakten sich Finger. Aber die Schnüre waren fest, bestes Leder, von ihrer Mutter ausgesucht, von Januão gebunden.

Sie sind schon einmal gerissen, dachte Dshirah, schon einmal zu viel.

Die Frauen fetzten ihr den Kittel vom Körper. Wieder stand sie nackt vor ihnen, nicht lange, Una ließ ihr das nächste Hemd, das sie greifen konnte, über den Kopf gleiten. Es war Jujas, das rote. Es war lang und fiel bis zum Boden. Unter dem roten Saum riss das Band ihres linken Schuhs. Zwei Frauen packten ihre Schultern, zwei verdrehten ihr die Arme hinter ihrem Rücken, eine krallte ihr linkes Bein, eine – war es Shenja? das konnte sie nicht sehen, sie hatte zu viele Tränen in den Augen – eine zog ihr den Schuh aus.

Und da war es plötzlich still. Die Griffe an Schultern, Händen, Bein lockerten sich zugleich, in einem Herzschlag, als wäre es nur eine einzige Person gewesen, die sie gehalten hatte. Und eine leise Frauenstimme sagte: «Das Dshinnu!»

Sie wichen zurück. Dshirah erkannte ihre letzte Möglichkeit zu fliehen. Sie raffte das lange Hemd, schoss zwischen zwei Hüften hindurch zur Tür und hinaus ins Freie.

Freie? War sie frei? Es waren keine Fessler in der Gasse. Sollte sie wieder mit einem Schuh fliehen, diesmal dem rechten? Wohin flieht man in einem Gefängnis? Das Loch in der Mauer war zugeschüttet. Es gab ein neues Loch, eine Bresche. Aber da stand alles voller Soldaten. Niemand kam hier herein oder hinaus.

Doch! Was einem alles einfällt in allerhöchster Not!

Das Wasser!

Es floss unter der Erde herein. Konnte sie nicht unter der Erde hinaus? Es musste zu der Höhle am Fuß des Hügels führen, wo sie damals – wie lange war das her? – mit Silbão die beiden Pferde gebunden hatte. Gab es unter der Erde einen Weg hinaus? Hätten das, wenn es denn ginge, nicht schon viele versucht?

Es gibt keine Luft da unten, dachte sie, während sie Richtung Bach lief, und niemand hielt sie auf.

Oder es ist zu eng, dachte sie, zu eng für die Großen, aber vielleicht kann ein Kind …

Dshirah sprang in den Bach und tauchte in die Höhle, aus der er kam. Es war keine Höhle, es war ein Kanal, aber nicht zu eng. Das Wasser füllte ihn ganz aus, sie musste kriechen, aber sie kämpfte sich gegen die Strömung. Und dann weitete sich die schmale Röhre. Sie spürte keine Strömung mehr und konnte sich aufrichten. Ihr Kopf stieß gegen Fels. Luft! Ihr Mund blieb unter Wasser, doch durch die Nase bekam sie Luft. Sehen konnte sie nichts. Es war vollkommen dunkel.

Kann ich hier bleiben, bis sie weg sind?, dachte sie. Aber niemals mehr holt Silbão mich hier raus. Nie niemals nimmermehr. Ich muss immer hier bleiben, und ohne meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder will ich nicht leben.

Sie versuchte weiterzugehen. Ihr Kopf schrammte an der Felsdecke entlang. Es tat weh. Sie stieß mit der Stirn gegen eine scharfe Kante. Was ihr da von oben warm in die Augen lief, musste Blut sein. Sie breitete die Arme aus, fühlte keine Seitenwände. Langsam ging sie vorwärts. Der Wasserspiegel sank unter ihre Oberlippe, Unterlippe. Sie konnte durch den Mund atmen.

Aber die Angst in der Enge und Finsternis, die Angst in der Finsternis und Enge.

Weg!, dachte sie. Weg!

Sie ging weiter, prüfte nach jedem Schritt, wo das Wasser stand. Näherte es sich dem Kinn? Es schwappte ihr in den Mund. Und da fühlte sie die Strömung wieder, das Wasser floss ihr kräftiger entgegen, ihr rechter ausgestreckter Arm stieß gegen eine Wand.

Zurück, dachte sie. Ich will leben. Was geschieht mir, wenn sie mich finden? Sie bringen mich in den Kalifenpalast. Da steht meine goldene Wiege, in der ich nie lag. Vielleicht tun sie mir nichts. Vielleicht lassen sie mich leben. Vielleicht töten sie nur die Mutter, den Vater, Januão … aber Zaiira töten sie nicht.

Wie lange hatte sie nicht mehr an Zaiira gedacht?

Sie drehte sich um. Da rutschte sie aus. Sie strampelte unter Wasser. Wo war oben? Wo war unten? Ihre Füße fanden den Boden, sie richtete sich auf, hatte wieder die Nase, nur die Nase frei – und wusste nicht mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war.

Die Strömung! Ich muss die Strömung finden.

Sie ging vorsichtig, sie wusste nun, wie leicht sie ausgleiten konnte. Sie streckte die Arme zur Seite, nach vorn. Den Kopf an der Felsdecke und die Nase, nur die Nase über Wasser stieß sie gegen eine Wand. Und keine Strömung. Oder doch? Sie hielt den Atem an. Sie fühlte nichts.

Ich bin zur Seite gegangen, dachte sie, nicht vor, nicht zurück, zur Seite.

Sie tastete sich an der Wand entlang. Aber wo war das Loch, der enge Kanal, durch den sie gekommen war? Wasser lief ihr in die Nase. Das war gut. Sie musste dahin, wo sie keine Luft bekam, nur da ging es hinaus. Sie legte den Kopf zurück. Die Felsdecke schrammte jetzt ihre Stirn. Und das Wasser stieg. Noch einmal Luft holen, tief, dann musste sie tauchen, wohin?

An der Wand bleiben, weiter tasten, Augen öffnen …

Wozu? Kam Licht durch den Kanal? Sie wusste es nicht mehr. Hatte sie vorhin die Augen offen gehabt? Sie sah nichts. Und ihre Lunge schrie nach Luft! Sie konnte nicht länger tauchen. Ihre Brust fühlte sich an, als wollte sie platzen. Nie, nie würde sie den Weg durch den Kanal zurück schaffen.

Ich will leben, dachte sie, als sie stürzte und die Strömung fühlte, die sie weiterriss.

Ich werde sterben, dachte sie.

Dann dachte sie nichts mehr. Ihr Kopf prallte gegen den Fels.

Sie spuckte Wasser, immer mehr Wasser. Daran merkte sie, dass sie lebte. Una hielt sie in nassen Armen, drückte ihr die Brust zusammen, und Dshirah spuckte und spuckte. Und alles war rot. So viel Blut?

Sie saßen im Bach, da, wo das Wasser aus dem Kanal kam. Am Rand, auf der Gasse lagen gefesselte Menschen, einige ringelten sich, aber fortbewegen konnten sie sich nicht. Dshirah hörte auf zu würgen, sie schloss die Augen, blieb in Unas Armen liegen.

«Wie bin ich hierher gekommen?», flüsterte sie.

«Ich hab dich da rausgeholt», sagte Una.

Dshirah schaute sie verwundert an. Una lächelte.

«Ich sah, dass es rot aus dem Kanal strömte. Da wusste ich, wo du bist. Das war mutig, Dshirah, aber dumm.»

Dshirah schaute ihren Körper an, tastete ihren Kopf ab, fand keine großen Wunden.

«So viel Blut?», fragte sie.

Una schüttelte den Kopf.

«Das ist kein Blut. Es ist die Farbe aus Jujas Hemd. Zieh es aus.»

Dshirah gehorchte und schaute zu, wie Una das Hemd spülte, bis es nicht mehr so viel Farbe hatte. Dann zog sie es Dshirah wieder an.

«Besser geht es nicht», murmelte sie, «immer noch zu rot. Aber ich denke, jetzt kannst du dich damit verstecken.»

«Aber es gibt keinen Ort, wo ich mich verstecken kann», sagte Dshirah.

«Doch. Ich bringe dich zum Platz. Da liegen sie alle gestapelt übereinander. Du quetschst dich dazwischen. Niemand darf sehen, dass da noch ein Kind ist. Suchen werden sie da nicht. Dann lasse ich mich fangen.»

«Warum haben sie dich noch nicht erwischt?»

«Weil ich nicht vor ihnen davonlaufe. Ich gehe hinter ihnen her. Dass ich hier zum Bach kam und die Farbe von Jujas Hemd sah, war nur Glück.»

So viel Glück an diesem einen schrecklich fürchterlichen Tag!

Sie schlichen im Schutz der leeren Hütten und lauschten auf Hufschlag. Die Fessler saßen jetzt wieder auf ihren Pferden und sammelten letzte Flüchtlinge ein. Als Nächstes würden sie die Häuser durchsuchen, bald. Überall lagen Gefesselte, und einmal, als sie über eine Gasse in den Schatten eines Hauses huschten, schrie einer: «Ein Kind! Hier ist noch ein Kind!»

Da rannten sie schneller und erreichten – ein Glück! Welch ein Glück – den Platz, auf dem bis zu diesem Tag jeden Morgen der Brei verteilt worden war. Dshirah sah vor der Breihütte, getrennt von den anderen, die Kinder liegen.

«Da!»

Una stieß sie in eine Hütte. Dshirah stolperte über das zu lange, immer noch zu rote Hemd. Sie fiel in etwas Schmieriges. Es stank in der Hütte. Sie sah, wie Una eine Hand über die Nase legte und vorsichtig aus dem Loch schaute, das hier als Fenster diente.

«Komm!», flüsterte sie.

Dshirah drückte sich neben sie.

«Da rechts», sagte Una, «da – die liegen alle mit dem Gesicht zum Platz. Wir müssen noch zwei Hütten weiter, dann können wir uns dazulegen, und keiner sieht, dass du ein Kind bist. Ich bleibe bei dir und verberge dich. Dann musst du nicht unter Fremden liegen.»

Sie bleibt bei mir, dachte Dshirah, sie bleibt bei mir.

Mitten auf dem Platz, im Schatten des steinernen Armei dan Hasud, sah sie ein blaues Kleid. Da tat ihr das Herz noch einmal so weh.

Hinter den Hütten schlichen sie weiter, lauschten auf Hufschlag, nichts, Una zog Dshirah auf den Boden. Sie robbten bis an einen Haufen gefesselter Menschen und legten sich dazu. Jujas Hemd verbarg Dshirahs Kinderkörper, sie drückte den Rücken gegen Unas Bauch und versteckte ihren Kopf in Unas Armen. Die aber versuchte Arme und Beine so aneinanderzuhalten, als sei sie gefesselt.

«Tu das auch», zischte sie Dshirah zu, «krümm dich zusammen. Pass auf, dass man den Fuß ohne Schuh nicht sieht.»

Dshirah versuchte, ihre Arme und Beine unter fremde Körper zu schieben, die halb betäubt und verdreht im Dreck lagen. Una verdeckte den größten Teil ihres Körpers. Sich windend sah sie Unas Gesicht, sah Schmerz in ihrem Gesicht, als Una versuchte, ihre Hände und Füße in die Fesselhaltung zu bringen. Dshirahs jungem Körper fiel das leichter, aber schon nach wenigen Minuten fühlte auch sie einen Schmerz, und da fiel ihr etwas ein: die Dunkelleute.

Bei den Festen in Al-Cúrbona, wenn die roten Reiter um die Wette fesselten, jagten sie Ziegen, Schafe, Kälber und Dunkelleute aus Afrika. Und Dshirah, die sich jetzt den Rücken verkrümmte, als sei sie gefesselt, dachte: Aber das tut ihnen doch weh!

Sie verdrehte den Kopf, bis sie in Unas Gesicht schauen konnte, in stummem Schmerz. Die Dunkelleute hatten nicht geschrien. Die Ziegen hatten gemeckert, die Schafe hatten geblökt, die Dunkelleute hatten nicht geschrien. Dshirah schob den Mund an Unas Ohr.

«Una», sagte sie, «die Dunkelleute, die die Fessler immer jagen, das tut denen doch weh!»

Da war fast ein Lächeln auf Unas Gesicht.

«Ja», nickte sie, «das hast du verstanden.»

Von der Mauer näherten sich Geräusche, Hufschlag und anderes. Und ein Schrei.

«Brun!»

Und wieder: «Brun! Brun! Brun!»

«Ich wusste es», flüsterte Una, «ich hab’s gewusst.»

«Was?», fragte Dshirah.

«Brun. Der Junge, der geflohen ist, als du kamst. Natürlich haben sie ihn ergriffen. Sie haben ja das ganze Land durchsucht. Nach dir. Und er wusste, dass ein Kind nach En-Wlowa geflohen war. Darum sind sie jetzt hier.»

Und dann hörten sie eine kieksende, sich überschlagende Stimme, die es kaum gewohnt zu sein schien zu befehlen: «Da! Die Frau! Die da! Befreit sie!»

Dabei kam die Stimme näher, rief weiter: «Da hinten! Die!», kam näher, rief aus der Luft, von oben herab. Dshirah spürte die Anwesenheit von etwas Großem. Nicht weit von Unas Rücken hielt das Bein eines Elefanten. Der Junge, der hinter dessen Kopf saß, war ganz in weiße Seide gekleidet wie die weißen Lakaien, die Lieblingsdiener des Kalifen. Unter dem nach araminischer Art um den Kopf geschlungenen Tuch grinste ein bardisches Gesicht.

«Wir haben kein Kind mit sechs Zehen gefunden!», schrie jemand zu ihm hinauf. «Du hast uns betrogen!»

«Ich habe nichts davon gesagt!», kreischte die Stimme, die das Befehlen offenbar noch nicht lange gewöhnt war. Sie klang jetzt schrill wie die eines Jungen im Stimmbruch. «Ich habe nicht gesagt, dass ein Kind mit sechs Zehen hier ist, ich habe nur gesagt, dass ein Kind hierher gelaufen ist, ich …»

«Komm herunter! Guck dir die Kinder an und sag, ob du es erkennst.»

Unas Kinn drückte sich wie ein zuschnappendes Schloss in Dshirahs Hals. Von der entfernten Seite des Platzes kam ein anderer Ruf.

«Hier sind drei Frauen, die sagen, sie haben es gesehen!»

Und eine dünne Stimme, die nicht weit trug, krächzte Unverständliches über den Platz.

«Was?», rief einer zurück.

«Die Frauen hier. Sie sagen, sie haben es gesehen!»

«Macht sie los!»

Von fern heran, immer lauter, immer deutlicher, schließlich erkennbar, verstehbar, kam Shenjas Stimme: «… und den Schuh ausgezogen. Ihr müsst es finden. Es hat ein rotes Hemd an.»

«Da!»

Das ging schnell.

Es war auch nicht schwer für den Jungen auf dem Elefanten, das rote Hemd zu entdecken. Zu dicht lag es bei dem Tier, von dem er gerade herabgeklettert kam.

Unas Berührung wurde sanfter. Sie entließ Dshirah aus der Klammer und streichelte sie, Stirn über Stirn, und Dshirah spürte, Una gab sie nicht frei, sondern auf. Es war ein zartes, liebevoll trauriges Aufgeben: Wir haben verloren.

Soldatenhände zogen Dshirah aus dem Menschenhaufen, fassten sie vorsichtig an, ohne ihr wehzutun, hoben sie und stellten sie auf die Füße, einen mit und einen ohne Schuh. Der Junge war über den Kopf des Elefanten auf den Rüssel geklettert, saß da wie auf einer Schaukel, sprang herab und war der Erste, der vor Dshirah kniete.

«Sechs!», jubelte er und triumphierte. «Ich habe das Dshinnu gefunden!»

Da wurde es still. Und es blieb still. Die roten Fessler und die Soldaten schauten Dshirah mit stillen Augen an. Einer lächelte sogar. Shenja und die drei Frauen aus ihrer Truppe standen reglos. Eine sah nahezu hübsch aus. Der nächste Befehl kam leise und war dennoch gut zu hören: «Alle losbinden!»

Langsam gingen die Fessler von einem zum anderen. Und langsam erhoben sich die von den Fesseln Befreiten und rieben die Handgelenke. Zugleich schlangen ungeschickte Hände bunte Seidentücher um Dshirahs Kopf, Schultern, Brust und Bauch, und schon während einer ihr den rechten Schuh vom Fuß schnitt, fielen die schlecht gewickelten Tücher wieder von ihrem Körper. Da stand Una neben ihr und kleidete sie von Kopf bis Fuß mit wenigen Griffen und Schlaufen in ein fürstliches Gewand, und einer der Männer sagte «danke» zu ihr. Von Süden kamen Pferde, die zogen einen großen Wagen, und damit begann der Jubel, Freudengeschrei: «Brot! Brot! Sie verteilen Brot!»

«Ihr müsst nicht drängeln!», rief ein Soldat. «Zehn Tage lang bekommt ihr Brot. Für jeden mehr als genug.»

Una beugte sich zu Dshirah hinab, küsste sie auf die Stirn, flüsterte: «Für Hisham», und verschwand auf den Platz, nicht dahin, von wo der Wagen kam.

Hisham? Nicht Abdalameh? Dshirah kannte auch keinen Hisham, außer dem Kalifen natürlich, denn auch das war ein Kalifenname. Sie schaute dem Wagen entgegen und streckte die Hände aus. Plötzlich merkte sie, wie hungrig sie war. Aber kräftige Männerarme hoben sie am grauen Leib des Elefanten empor. Brun, der wieder oben saß, zog sie hinauf. Sie setzte sich auf die bestickte Decke hinter dem Kopf des großen Tieres, Brun kniete hinter ihr, ein weißer Lakai. So ritten sie durch die Gassen, durch jubelnde Menschen, die winkten mit Händen voll Brot und taumelten, während sie gingen.

«Du hast Hunger, ja?», flüsterte Brun ihr von hinten zu. «Oh, ich weiß noch, wie das ist. Und sie haben dir kein Brot gegeben. Sie denken an nichts. Hier!»

Er schob ihr seine Hand hin. Neben den Säulenbeinen des Elefanten lief ein blaues Hemd. Dshirah beugte sich hinab. Juja lief auf den Zehen, streckte ihr die Hände entgegen, beide Hände voller Brot, aber sie konnte Dshirah nicht erreichen.

«Hilf mir», sagte sie zu Brun, «halt mich.»

Und sie ließ sich nach unten hängen. Das war nicht schwer für sie. Der Elefant schwankte viel weniger als ihre halbwilden Pferde. Sie streckte beide Hände nach unten, Brun hielt sie an dem von Una sicher geschlungenen Tuch. Juja strahlte. Sie hüpfte. Dshirah konnte die Brote fassen, und in dem Jubel von allen Seiten hörte sie Juja sagen:

«Für Abdalameh. Für Abdalameh.»

Und dann saß Dshirah wieder auf dem Elefanten, hatte die Hände voller Brot, aber sie durfte es nicht essen.

«Wirf das weg», sagte Brun, «hier, nimm das!»

Und wieder schob er ihr die Hand hin.

Aber sie hatte beide Hände voll. Sie konnte nach dem bunten Ding in seinen Fingern, das aussah wie ein geschliffener Edelstein, nicht greifen. Und sie würde das Brot nicht wegwerfen.

«Bist du dumm», sagte Brun. «Dann mach den Mund auf.»

Das tat sie und schnappte nach dem schillernden Diamanten. Der war süß. Und war doch kein Honig, nicht nur. Er schmeckte nach anderem, das sie nicht kannte. Sie drehte ihn im Mund, und er schmeckte wieder nach anderem, das sie auch nicht kannte. Sie schob ihn in den Gaumen, sie schmatzte und lutschte, auf ihrer Zunge schmolzen 1000 unbekannte Welten, und jede schmeckte besser als alles, was sie jemals im Mund gehabt hatte.

«Na?», Bruns Kopf grinste neben ihr. «Lohnt es sich dafür, den Brei und die Hütten von En-Wlowa zu verlassen? Und in einer goldenen Wiege zu schlafen? Du passt nicht mehr rein, sicher nicht.»

Sie näherten sich dem Ausgang. Schon sah Dshirah das Loch, das man in die Mauer gebrochen hatte.

«Weißt du, wo meine Eltern sind?», fragte sie. «Hast du meinen Bruder gesehen?»

«Nein. Vielleicht sind sie im Palast. Der ist groß. Wenn du die Siebte Sage erzählst, werdet ihr da wohnen.»

Dshirah lutschte an dem süßen Edelstein.

Die Siebte Sage, dachte sie, erzählt die Geschichte von den süßen Diamanten. Was sonst. Es kann gar nicht anders sein.

Sie freute sich. Auf ihre Mutter, ihren Vater, ihren Bruder. Auf Zaiira, auf die Hunde, auf die Pferde. Die Freude saß tief drin in ihrem Bauch, genau da, wohin der immer wieder anders schmeckende Diamantensaft floss.

Was für ein Glückstag!

Das letzte Stück ihres Elefantenritts durch En-Wlowa winkte sie. Mit beiden Händen. Mit beiden Händen voller Brot.

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