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Von anderen Siedlungen weit im Osten hatten sie diese Dinge gehört. Und solch eine Zukunft fürchteten sie nun. Lieber wollten sie einen Neuanfang in Deutschland wagen, um freie Bauern und freie Menschen bleiben zu können. Deutsche im deutschen Vaterland!

Alle Bewohner des Dorfes meldeten sich also zur sogenannten freiwilligen Umsiedlung an. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Es wurde ihnen versprochen, dass sie nach einer kurzen Zwischenzeit einen Bauernhof im Warthegau oder Pommern-Westpreußen zugeteilt bekommen würden. Genauso, wie es bereits mit den Balten-Deutschen und den Wollhynien-Deutschen erfolgreich durchgeführt worden sei. Das Deutsche Reich braucht tüchtige Bauern, hieß es immer wieder. Dass sie dort gebraucht würden, war ihnen ein Trost.

Alle würden mitgehen, keiner wollte zurückbleiben – die Eltern, Geschwister und die vielen Verwandten.

Die meisten waren reiche Bauern, die an Haus, Hof und Feld hingen. Annas Eltern gehörten zu den wohlhabendsten Bauern im Ort. Sie war mit neun Geschwistern aufgewachsen. So viele Kinder waren keine Seltenheit in Bessarabien, denn man hatte genug, sodass alle gut versorgt werden konnten.

Zwei Brüder lebten mit ihren Familien in Annowka, einem Dorf, circa 50 Kilometer von Gnadental entfernt. Dort hatte ihr Vater schon vor längerer Zeit 50 Hektar Land gekauft und es den beiden Söhnen überschreiben lassen. Zwei Brüder waren Lehrer geworden, die ältere Schwester Lydia hatte in Stuttgart eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert. Emma hatte wie sie selbst einen Bauern geheiratet. Traugott war auch Bauer, zwei Schwestern waren noch nicht verheiratet.

In der Bauernschule im Nachbarort Arzis wurden seit einigen Jahren Lehrgänge im Weben, Nähen und Zuschneiden angeboten. Diese Veranstaltungen waren sehr gut besucht. Auch Anna und ihre Schwester Emma lernte dort, wie man Kleider näht. Zuerst wurden Trachten genäht und später gab es Zuschneidelehrgänge. Rosa, ebenfalls eine ältere Schwester, hatte sich fürs Weben entschieden. Alle drei waren sehr geschickt und stolz auf ihre selbst gefertigte Kleidung. Anna trug sich mit dem Gedanken, in dem vorderen Zimmer eine Nähstube zu eröffnen. Die Nähmaschine stand ja schon dort vor dem Fenster.

Sicher hätte sie ihre Fertigkeit im Nähen noch ausbauen können. Das waren jetzt alles Träume und Wünsche, die sie, wie so vieles, auch in Gnadental zurücklassen musste. ›Kleider werden immer gebraucht, bestimmt auch in Deutschland‹, tröstete sie sich.

Dann hörte Anna draußen Stimmen. Ihr Schwiegervater Friedrich war in den Hof gekommen, um Robert zu holen. Er brauchte dringend Hilfe für die Erntearbeiten. Bis vor Kurzem war er noch Dorfschulz. Dann wurde er abgesetzt und unterstand jetzt dem eingesetzten Dorfsowjet. Im Kirchengemeinderat war er seit langer Zeit tätig. Er war groß und kräftig, aber nicht dick, war eine Respektsperson, auf die man hörte.

Als sein Vater starb, war Großvater Friedrich 13 und sein jüngster Bruder erst 11 Jahre alt. Er hatte insgesamt fünf Schwestern und drei Brüder. Seine Mutter musste sich mit neun Kindern alleine durchschlagen. Die Landwirtschaft, die er zurückließ, reichte nicht für alle. So mussten die Jungen einen Beruf erlernen.

Großvater Friedrich ging bei einem Schuster in die Lehre und verdiente sich so einen bescheidenen Lebensunterhalt. Als er zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen war, verliebte er sich in ein reiches Bauernmädchen. Aus ihnen wurde allerdings nichts, weil er zu arm war. Auch in Bessarabien galt die Parole: ›Liebe vergeht, Hektar besteht!‹

Im Jahr 1908 entschloss sich sein zwei Jahre jüngerer Bruder, nach Amerika auszuwandern. Diese Möglichkeit sah Friedrich auch für sich als einen Ausweg aus der Armut an. Seinem besten Freund Albrecht machte er den Vorschlag, gemeinsam auszuwandern. Albrecht hatte sich auch schon Gedanken über solch einen Schritt gemacht. Viele junge Männer gingen damals über den ›großen Teich‹, um dem gefürchteten russischen Militärdienst zu entkommen – damals gehörte Bessarabien schließlich noch zu Russland. Doch Albrecht bekam Angst vor seiner eigenen Courage und so blieben sie.

Drei Jahre später heiratete Friedrich Christine Dorsch, die Tochter des begüterten Georg Dorsch. Zur Hochzeit erhielten sie eine stattliche Hofstelle, und Friedrich betrieb neben der Landwirtschaft noch eine Schusterwerkstatt, in der er dann auch Lehrlinge ausbildete.

Robert war das erste Kind, das Christine ihm schenkte. Sie gebar noch drei Kinder, doch zwei starben schon recht früh. Aber ihr letztes Kind, Traugott, überlebte.

Christine war erst 45 Jahre alt, als sie starb. Am Morgen war ihr schwindelig. Trotzdem bereitete sie noch das Essen für die Ausfahrt auf die einige Kilometer entfernten Felder zu. Dann legte sie sich ins Bett und verlor das Bewusstsein. Friedrich ließ einen Arzt aus dem sieben Kilometer entfernten Sarata kommen. Doch der konnte ihr nicht helfen. In seiner Not wandte er sich an den Arzt aus dem Nachbarort Lichtental, aber auch der wusste keinen Rat. Sie ist dann abends ruhig eingeschlafen, noch bevor ihr siebzehnjähriger Sohn wieder von den Ländereien der weiter entfernten Steppe heimgekehrt war. Schwer hatte es auch der dreijährige Traugott. Keiner in der Familie hatte mit so einem schnellen und frühen Tod gerechnet.

Täglich bekamen die deutschen Bauern mit, was ihnen bevorstand, wenn sie bleiben würden. Es gab ständig neue Verordnungen und Vorschriften des Dorfsowjets, wann, was, und wie viel jede Wirtschaft abzuliefern habe und wie dies genau getan werden müsse. Viele der russischen Besatzer hatten kein Verständnis für den notwenigen Ablauf der Erntearbeiten. Sie waren misstrauisch und schikanierten häufig. Sie achteten streng da­rauf, dass alle Abgaben pünktlich geliefert wurden und drohten mit Abschiebung nach Sibirien, wenn es nicht so ablief, wie sie es wollten.

Anna hatte von Robert gehört, dass die Deutsche Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft eine Vermögensentschädigung versprochen hatte. Umsiedlungs-Treuhandgesell­schaft, Vermögensentschädigung – was für Worte! Das bedeutete, dass jede Familie ihr Vermögen auflisten musste. Es war eine schwierige und ungewohnte, aber notwendige Arbeit, Haus, Nebengebäude, Stallungen, Hausrat, Geräte und Tiere zu bewerten.

Robert hatte von seinem Vater erfahren, dass zu diesem Zweck örtliche Ausschüsse gebildet wurden, in denen auch Russen vertreten waren. Deren Aufgabe bestand darin, diese Aktion zu überwachen.

Sie waren ja die Herren des Landes und glaubten immer noch, es würde ein gewisser Prozentsatz der Deutschen zurückbleiben, die sie dann zur Ansiedlung nach Sibirien schicken konnten. Russland schätzte die Kolonis­ten sehr wegen ihres Fleißes und der Vorbildfunktion für andere Nationen. Die Deutschen lebten in der Mehrzahl in den von ihnen gegründeten Dörfern und Städten. Andere Nationen wie z.B. die Rumänen, Ukrainer, Bulgaren oder Moldowaner hatten auch ihre eigenen Dörfer. Es herrschte ein gutes Miteinander und jeder akzeptierte die Eigenheiten der anderen. Viele der nichtdeutschen Einwohner fanden Brot und Arbeit in den deutschen Dörfern. Als nun die Russen feststellten, dass sich alle in die Umsiedlerlisten aufnehmen ließen, konnten sie ihren Ärger nur schwer verbergen und erschwerten auf vielerlei Art die Arbeit der Kommission. Vor allem gab es heftige Auseinandersetzungen wegen der Höhe des Wertes der deutschen Höfe, weil die russischen Vertreter den Wert als sehr gering einstuften. Dieser ermittelte Wert war dann die Grundlage für die von der UdSSR zu zahlende Entschädigung an das Deutsche Reich. Das zu jedem Hof gehörende Land war nun russisches Eigentum und spielte bei der Aufstellung keine Rolle.

Diese Auseinandersetzungen waren äußerst ärgerlich und sprachen sich in Windeseile im Ort herum. Manche verkauften Sachen aus Haus und Hof. Käufer aus den umliegenden Russen- und Bulgarendörfern waren genug da. Auch wurde vor der Abreise noch viel an Bekannte aus anderen Dörfern verschenkt. Erwischen lassen durften sie sich allerdings nicht, denn dann hätte es empfindliche Strafen gegeben.

Die besten Pferde, das beste Geschirr, stabile Wagen, Laternen und Reserveräder, verstärkte Zugleinen und Werkzeuge wurden für die Reise bestimmt. Als Schutz vor Kälte und Regen wurde in hohem Bogen ein breitgewölbtes Dach aus bunten, selbstgewebten Planen oder fest gebundenem Stroh hergestellt.

Welche Dinge, die sie daheim so selbstverständlich zum Leben und Arbeiten besaßen, würden sie in ihrer neuen Heimat brauchen? Sie wussten ja nicht, wohin sie kommen und was sie vorfinden würden. Sie vermuteten, dass es ein vom Krieg verwüstetes Stück Land sein würde. Genaueres wusste man aber nicht. Nur bei einem waren sie sich sicher; dass die sowjetischen Bevollmächtigten sie bei der Ausreise scharf kontrollieren würden. Es durften keine Bücher oder Gegenstände aus Edelmetall und nur geringe Geldbeträge mitgenommen werden.

Anna und die anderen Frauen nähten nun ihre Eheringe und sonstigen Goldschmuck in Mantelsäume oder Rockaufschläge ein – das Gold sollte ihr und auch Robert später auf ihrem beschwerlichen Weg noch das Leben retten.

Lydia war gekommen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sie war erst seit kurzer Zeit wieder in Bessarabien. In Stuttgart hatte sie eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester beendet. Als der Krieg ausbrach, musste sie Deutschland verlassen. Deswegen war sie wieder nach Gnadental zurückgekehrt. Sie beruhigte und tröstete ihre jüngere Schwester und meinte, dass der Geburtstermin Anfang Oktober sei. Sie erzählte Anna, dass sie vom Umsiedlungsstab für die Kranken- und Geburtsstation im Umsiedlungslager Böhmisch-Leipa eingesetzt worden war. Das sei die Zwischenstation im Sudetenland, wohin alle Gnadentaler gebracht werden sollten, berichtete sie. Von dort aus sollten sie im Warthegau angesiedelt werden.

Das beruhigte Anna und sie war froh, die Schwester an ihrer Seite zu wissen.

»Sind wir Anfang Oktober schon in Deutschland?«, fragte sie noch.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Lydia. Sie half ihr bei der Auswahl der Babysachen, die sie mitnehmen sollte und gab ihr noch manchen guten Ratschlag.

Die sechsjährige Wally, Roberts kleine Halbschwester, wohnte im Nachbarhaus und hielt sich oft bei Anna auf. Sie war ein sehr aufgewecktes Kind. Mit Wally kam sie gut zurecht, aber das Verhältnis zu Roberts Stiefmutter Pauline war weniger gut. Roberts Vater hatte sie schon ein halbes Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau geheiratet. Traugott war damals erst drei Jahre alt; da ging es nicht ohne Frau im Haus. Drei Jahre später kam Wally dazu. Von Anfang an besetzte Pauline, die neue Frau im Haus, ihren Platz recht energisch. Auf Kompromisse ließ sie sich nicht ein.

Anna und Robert wohnten nach ihrer Hochzeit ein Jahr mit ihr unter dem gleichen Dach. Pauline erwartete von Anna, dass sie eine untergebene und folgsame Magd sei und ohne Nachzufragen alles so erledigen würde, wie sie es vorgab. Aber das klappte nicht und es gab Differenzen.

Seit einem Jahr hatte Anna nun ihren eigenen Hausstand und war froh, nicht mehr unter der Fuchtel der Schwiegermutter leben zu müssen.

Roberts jüngerer Bruder Traugott war dreizehn, als sie Gnadental verlassen mussten. Technik interessierte ihn, einen Beruf wollte er erlernen. Am liebsten Uhrmacher, etwas mit Feinmotorik. Bauer wollte er auf keinen Fall werden. Wenn er auf dem Acker pflügen musste, hatte er oft eine alte Taschenuhr dabei, die er im Laufen aus­einandernahm und wieder zusammensetzte.

Ob die Ackerfurche gerade oder krumm war, war ihm nicht wichtig.

In Gnadental trafen sich seit einiger Zeit die Jugendlichen ab 14 Jahren regelmäßig zu Spiel, Sport und Schulung. ›Neue Bewegung‹ hieß die Zusammenkunft und der Anstoß war von Deutschland ausgegangen. In Deutschland nannten sie sich ›Hitlerjugend‹. Die jungen Menschen waren begeistert, endlich wurde etwas für sie gemacht. Es wurde Theater gespielt, Gedichte von Goethe und Schiller wurden vorgelesen und Volkslieder gesungen. Es fanden Sportfeste statt, die nicht nur die Leis­tungen einzelner Kameraden, sondern auch die kämpferische Haltung der jungen Mannschaft zeigten. ›Ein Volk, eine Jugend‹, war der Grundsatz. Deutscher Fleiß, Ehre und Gerechtigkeit wurden gepriesen. Dinge, die den gläubigen Pietisten wohl in den Ohren geklungen haben.

Traugott war erst 13 Jahre alt. Er war noch nicht konfirmiert und durfte nicht zu den Versammlungen gehen. Aber von seinen älteren Freunden hörte er, wie alle mit unglaublicher Begeisterung dabei waren. Er hätte auch zu gerne mitgemacht. Bei der jüngeren Generation fand die Erneuerungsbewegung durch die vielseitigen Aktionen eine große Anhängerschaft. Ihnen wurde ein idealisiertes Deutschlandbild vermittelt und gleichzeitig die Angst vor dem Kommunismus geschürt.

Durch Berichte über Gräueltaten der Sowjets auf der anderen Seite des Grenzflusses Dnjester und die Angst vor Deportation nach Sibirien waren viele Ängste vorhanden. Und mit ihnen auch eine große Ablehnung der restriktiven Minderheitspolitik der rumänischen Regierung, die ein Klima der Verunsicherung, wachsende Unzufriedenheit und Proteste erzeugte.

Das Aufkommen der Erneuerungsbewegung wurde durch die jungen Intellektuellen ins Land getragen. Diese hatten überwiegend in Deutschland studiert, und viele kehrten nach Abschluss ihres Studiums als überzeugte Nazis heim. Sie lehnten das alte System und vor allem die verschärfte Rumänisierungspolitik ab und erhofften sich Rückenwind aus NS-Deutschland für eine wirksamere Vertretung ihrer deutschen Minderheitsinteressen.

Die Volksräte in Bessarabien konnten mit der Zeit diese Stimmungslage sowie den Ansehens- und Bedeutungsverlust nicht mehr auffangen und den Zulauf zur Erneuerungsbewegung, die sich an den Nationalsozialis­ten in Deutschland orientierte, aufhalten. Diese Strömung schwappte auch aus dem größeren Siebenbürgen herüber. Schon 1934 gelang es den Anhängern der Erneuerungsbewegung, die Führung bei den Volksratswahlen zu übernehmen und sie bis zur Umsiedlung im Jahr 1940 zu halten. Trotz ihrer Ausbreitung stieß auch vielerorts, vor allem bei der pietistisch geprägten Bauerngesellschaft Bessarabiens, die antireligiöse und rassis­tische Propaganda der Nationalsozialisten auf Unverständnis und Ablehnung.

Die letzten Tage in Gnadental waren voller Hektik. Unvergesslich für alle Dorfbewohner war der letzte Gottesdienst am 22. September 1940. Die Glocken riefen, fast alle Dorfbewohner folgten. Bei der ergreifenden Predigt des Pastors über Psalm 121 wurde mancher Seufzer laut. In Begleitung der Orgel sang die Gemeinde: ›Befiel du deine Wege‹, dann stehend: ›Eine feste Burg ist unser Gott‹. Mit dem Lied ›So nimm denn meine Hände‹ verabschiedete sich die Gemeinde von ihrer Kirche. Am Nachmittag nahmen die Familien auf dem Friedhof von ihren lieben Toten Abschied. Sie schmückten ein letztes Mal die Gräber der Verstorbenen. Der frühe neblige Spätherbstabend umhüllte die Gräber und die stolze, weiße Kirche.

Plötzlich durchflutete ein Orgelspiel den großen, weiten Raum der Kirche. Ein Lehrer hatte sich an das Ins­trument gesetzt und spielte ›Eine feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffe ...‹. Die Melodie brauste auf – schwoll an und brandete an die dicke Kirchenmauer, stieg den Turm hinauf bis zur Spitze in die herbstlichen Nebelschwaden.

Dann erfüllten nur noch die Dämmerung und eine tiefe Stille den Raum.


Gnadentaler Kirche.





GNADENTAL – LEB WOHL ...

Am 23. September 1940, einem Montag, erfolgte der erste Transport von Gnadental zum Donauhafen Kilia. Dort war die Einschiffung in Donaudampfer vorgesehen, der die Menschen in ein Lager in der Nähe von Belgrad bringen sollte. Frauen, Kinder und ältere Leute mussten als Erste ihr Dorf verlassen. Anna sowie Emma und Gotthilf vom Altenteil gehörten auch zu dieser Gruppe. Jetzt erst merkten sie, wie schwer das Verlassen der Heimat war. Ein letzter Gang durchs Haus – von jedem Zimmer wurde tränenreich Abschied genommen.

Dann verließen die Frauen ihr Reich. Gefasst traten sie auf die Straße. Robert hatte die Pferde eingespannt und brachte sie mit dem Gepäck zum Omnibus.

Die zurückbleibenden Männer wären am liebsten ihren Angehörigen nachgefahren. Sie mussten aber wegen der Abschätzung und Übergabe des Vermögens in ihren Häusern bleiben. Das war noch eine sehr unangenehme Prozedur.

Später zahlten die Russen an Deutschland für das zurückgelassene Eigentum in Form von Getreide, Speise- und Mineralöl. Der Gewinn floss in die deutsche Reichskasse. Hitler hatte all das mühevoll erarbeitete Vermögen der deutschen Kolonisten an die Russen verkauft und den Erlös einbehalten!

Früh, noch im Dunkeln, fuhren von vielen Seiten zweispännige Fuhren die breite Dorfstraße entlang zu einem Sammelpunkt. Sie brachten Handgepäck der Umsiedler zu dem Platz, auf dem die Omnibusse und Lastkraftwagen warteten. Schnell war das Gepäck auf den Wagen verstaut, einige Lastkraftwagen hatten sogar Anhänger, was auf den unbefestigten Wegen eine außerordentliche Belastung bedeutete.

Es fing an zu regnen und viele der Gnadentaler dachten sicher, jetzt weint der Himmel zum Abschied. Es gab aber auch welche, die fröhlich waren und sich über die Ausreise freuten. In den letzten Jahren mussten die Kolonisten sehr viele Repressalien der rumänischen Besatzung hinnehmen. In den Schulen durfte nur auf Rumänisch unterrichtet werden, selbst auf den Schulhöfen war die deutsche Sprache verboten. Prügelstrafen für kleine Vergehen waren auch ohne Verhandlung oder Urteil üblich. Hohe Steuern drückten, deftige Strafen drohten denen, die die Steuererklärung nicht in rumänischer Sprache abgegeben hatten. Nicht zuletzt deshalb übte der vollmundige Ausruf Hitlers »Deutsche heim ins Reich« eine große Wirkung auf viele aus. Sie wollten endlich nicht mehr unter fremdländischer Regierung leben, sie wollten unter ihresgleichen sein.

Es wurde Abschied genommen, ein letztes Winken. Viele Fremdstämmige, hauptsächlich aus dem Russendorf Pawlowka hatten sich zum Abschied eingefunden. Viele von ihnen arbeiteten schon jahrelang für die Deutschen und erst jetzt konnten sie das Unfassbare glauben, dass diese nun tatsächlich wegziehen würden.

850 Dorfbewohner warteten auf die Abfahrt. Nach einem Hornsignal setzte sich der Zug in Bewegung. Als dann die Glocken anfingen zu läuten, flossen viele Tränen.

Die 11-jährige Alma O. konnte gar nicht verstehen, weshalb die Erwachsenen weinen. Sie durften jetzt mit dem Omnibus fahren! Das war doch etwas Besonderes! Außerdem freute sie sich darüber, dass sie nicht den schrecklichen Staubmantel anziehen musste, der sonst üblich war, wenn sie mit dem Pferdefuhrwerk über Land fuhren.

Er war ein Schutz gegen die große, aufgewirbelte Staubwolke, in die sie meistens eingehüllt waren. Nur von diesen Fahrten waren sie immer wieder heimgekehrt. Alma verstand nicht, warum es diesmal nicht so sein sollte. Nicht mehr zurückzukommen, überstieg ihre Vorstellungskraft.

Bauern aus dem Dorf kamen mit Fuhren voll Stroh, welches sie auf den Straßen ausstreuten, damit die schweren Wagen nicht ins Gleiten kamen. Das war auch notwendig, denn der Regen machte die nicht ausgebauten Straßen in kurzer Zeit unbefahrbar. Schlimm waren die vielen Löcher und die Querrinnen, schlimm vor allem, weil kein fester Untergrund vorhanden war. Es ging langsam vorwärts, aber es ging, und der Regen hörte zum Glück bald auf. Mittags wurde eine Rast eingelegt.

Eigentlich sollte die Kolonne schon gegen 14.00 Uhr in Kilia sein. Aber die Straßenverhältnisse und das Wetter hielten so lange auf, dass es Abend wurde. Der Transportbegleiter der Kolonne war mit seinem Personenwagen mal am Anfang, mal am Ende des Zuges. Er half, wo er konnte.

Vor der Hafenstadt Kilia waren die Schwierigkeiten fast unüberwindlich geworden. Tiefer Morast und Löcher in der großen Lößgrube mussten durchfahren werden. Gegen 19 Uhr fuhren die Aussiedler geschlossen in den Hafen von Kilia, bestaunt von den Bewohnern der Stadt und von den sowjetischen Soldaten.

Das Schiff war schon mittags angekommen. Schwes­tern des Roten Kreuzes und der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) warteten auf die Reisenden. Für die kleinen Kinder wurde Milch für die Flaschen verteilt. Die Großen bekamen Tee und verpflegten sich von ihren mitgebrachten Vorräten.

Anna wurde nach dieser anstrengenden und holprigen Fahrt ganz besonders umsichtig betreut, weil sie hochschwanger war. Auch die Mutter von Alma O. betreuten die Schwestern sehr fürsorglich. Dass auch sie schwanger war, wusste sie damals noch nicht, aber ihr war die Sonderbehandlung aufgefallen.

Ansonsten mussten alle in den Bussen warten und dann wagenweise aussteigen, um mit ihrem Gepäck durch die sowjetische Zollkontrolle zu gehen. Das nahm viel Zeit in Anspruch. Die Busse warteten lange in der dunklen Nacht. Diejenigen, die abgefertigt waren, bestiegen die Schiffe, wo ein Imbiss auf sie wartete. Die Kinder und die älteren Leute konnten sich gleich schlafen legen, denn der aufreibendste Teil ihrer Reise lag hinter ihnen. Viele auf den Schiffen blieben wach und schauten zu dem Land hinüber, das bislang ihre Heimat gewesen war.

Die Männer sollten 14 Tage später mit dem Fuhrwerk nach Galatz an der Donau folgen. Dort mussten sie Pferd und Wagen abliefern. Ihr Gepäck wurde mit der Bahn weitertransportiert und sie selbst sollten mit einem bereitgestellten Schiff fahren, das sie ebenfalls ins Zwischenlager nach Prachowo brachte.



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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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9783956831683
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