Читать книгу: «Aliens & Anorexie», страница 2

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Mit 42 hatte sie endlich denselben übersinnlichen Raum bezogen, in dem sie sehnsüchtig einst die inhaftierten Teenager-Mädchen beobachtet hatte.

Einige der Menschen, die an Außerirdische glauben, halten sie für feindliche, sadistische und emotionslose Invasoren, die menschliche Genitalien und Ani mit Hightech-Teleskopspiegeln erforschen. Ein bisschen wie SM, bloß ohne jedes Vergnügen.

Genau wie im Kino und wie bei SM folgt die Entführung durch Außerirdische einer Art narrativer Struktur in fünf Akten. Das Opfer wird aus der Sicherheit ihres Hauses oder ihrer Nachbarschaft entführt. Sie wehrt sich vergeblich, bis sie unter Drogen gesetzt wird, und dann werden unsägliche Experimente an ihrem Körper durchgeführt. Ihre Identität und ihr Wille werden gebrochen. Schließlich, nachdem sie diese Marter überstanden hat, wird sie mit einer Audienz bei dem verantwortlichen Außerirdischen belohnt.

Ausnahmslos ist dieser Außerirdische männlich. Die Entführte bemerkt, dass er all den anderen Außerirdischen übergeordnet ist: seine Körpergröße, seine mentalen Fähigkeiten, sein außerordentliches Ausdrucksvermögen. Sie ist dankbar für die Großzügigkeit, die er ihr zukommen lässt, indem er mit ihr spricht. Angesichts der Anforderungen seiner Zeit und der Allwissenheit seines Willens und seines Einflusses, ist seine Aufmerksamkeit ein kostbares Geschenk.

Der Große Mann, ups, ich meinte natürlich »der verantwortliche Außerirdische«, erfreut und foltert sie sodann mit einer unvollständigen Erklärung. Er erzählt ihr Dinge über außerirdische Technologie und Kultur, die sie niemals wirklich verstehen wird. Er sagt, dass er ihr die Gründe dafür begreiflich machen wolle, warum sie entführt worden sei. Sie sei als Zeugin ausgewählt worden, oder vielleicht deshalb, um mit einem außerirdischen Baby schwanger zu gehen. Er lässt quälend wolkige Andeutungen auf das apokalyptische Schicksal fallen, das die Außerirdischen planen …

In allen Fällen wird dem Opfer erst durch diese Befragung ein »Wissen« vermittelt. Die sexuelle Begegnung wird im Anschluss dann als Preis erachtet für dieses »Wissen« und nicht als dessen Quelle. Menschen, die sich vor Außerirdischen fürchten, sind extrem puritanisch. Ähnlich einer wiederhergestellten Erinnerung sind die Experimente von Außerirdischen eine beschämende und entsetzliche Qual. Noch nie hat jemand gesagt: »Ich wurde von Außerirdischen entführt und hatte den besten Sex aller Zeiten.«

Andere, die an Außerirdische glauben, betrachten sie als Freunde. Ausnahmslos ist dieser Kontakt asexuell. Der Zeitrahmen ihrer Begegnungen mit Außerirdischen ist diffus und vertrackt wie ein experimenteller Film.

Diejenigen, die es nach Begegnungen mit Außerirdischen verlangt, organisieren sich normalerweise in Gruppen, um nach ihnen zu suchen. Einem weitverbreiteten Glauben zufolge fühlen sich Außerirdische von magnetischen Energien angezogen, die größer sind als die Energien einer Einzelperson. Um zu einer Gruppe werden zu können, muss jede Person kleine Stücke ihrer selbst abgeben. In einem Magnetpool vergrößern sich die Stücke. Höhlen im Körper jeder einzelnen dieser Personen, die von den Bruchstücken eines aufgegebenen Egos geschaffen wurden, verwandeln sich in Rezeptoren für die Gruppenenergie, für Außerirdische und für das Dritte Gehirn.

Auf diese Weise wird die Gruppe zu einem sich selbst perpetuierenden Riesendurcheinander, das seinesgleichen verschlingt und ausscheidet.

Ganz grundsätzlich sind solche Arten von Gruppen vertrackt, führungslos und harmlos. Diese Menschen suchen außerhalb ihrer selbst nach Hilfe von Außerirdischen, weil sie so unbedingt »aus der gefangenschaft der totalen entfremdung und selbstentfremdung, aus dem politischen und existenziellen ausnahmezustand« entkommen wollen.

Die Aufzeichnungen, die die Philosophin Simone Weil während des Krieges in ihrem Notizbuch festhielt und die posthum in einem Buch namens Schwerkraft und Gnade erschienen, sind eine Chronik ihrer Bereitschaft, auf Gott zu warten. In dem Film Gravity & Grace, benannt nach Weils Buch, wartet eine Gruppe zu allem entschlossener Wahnsinniger auf Außerirdische, die sie aus einem Kleinstadtgarten in Neuseeland befreien sollen.

Gegen Mitte des Jahrhunderts, gegen Ende des Jahrhunderts. Immer wenn sich eine meiner befreundeten Rivalinnen in New York nach dem Film erkundigte, sagte ich: »Ich arbeite an einem kleinen Film über Gott.« Das brachte sie normalerweise zum Schweigen.

Millenniumscountdown: noch 454 Tage.

Die zweite Vorführung war für 15 Uhr am Donnerstag angesetzt, und jetzt war es Montagnachmittag. Zum Informationspaket gehörte eine Liste aller Einkäufer auf dem Market. Ich fand ein schmuddeliges chinesisches Restaurant am Ku’damm, bei dem ich davon ausging, dass man mich dort den Nachmittag über sitzen lassen würde. Beim Überfliegen der Liste fand ich etwa zwanzig Namen, mit denen ich vage vertraut war. Von diesen hatten zehn mein Werk bereits gesehen, ohne es sonderlich zu mögen.

Wenn ich auch keine Filme machen konnte, so wusste ich doch immerhin, wie man einen Brief schreibt. Ich nahm das Papier mit Briefkopf und Pressebroschüren heraus und schrieb zwanzig persönliche Briefe per Hand, variierte dabei die Tonlage und mein Verkaufsargument je nachdem, was ich über die Vorlieben des jeweiligen Empfängers wusste. Als dann endlich alle Briefumschläge versiegelt waren, wurde es dunkel, und es schneite.

Ich zahlte meine Rechnung und ging mit dem Gedanken zurück zum Market, dass ich meine Pakete in die Briefkästen der Einkäufer werfen würde. Doch anders als die American Independents hatten diese Leute keine eigenen Postfächer. Sie konnten nur erreicht werden, indem man die Pakete persönlich in ihrem Hotel ablieferte. Ich holte den Stadtplan hervor. Die Einkäufer waren in sieben verschiedenen Luxushotels untergebracht, die innerhalb eines Umkreises von knapp fünf Kilometern vom Ku’damm entfernt lagen. Gut und gerne hundert Dollar für ein Taxi aufzuwenden, um diese hoffnungslose Mission zu erfüllen, war undenkbar. Und so ging ich los …

Auf den Bürgersteigen lag der Schnee schon wadentief. Die vollen Straßen jedoch waren frei, und so folgte ich dem matschigen Rinnstein vom Interkontinental zum Regency zum Park Royal und überreichte die Pakete an Conciergen und Portiers. Die Innenstadt wand sich um mich herum wie ein gebördelter Samtschal. Szenen der Macht, des Wohlstandes, der Ambition, aus der Perspektive eines Maulwurfs betrachtet – Flashbacks zu jener Zeit, als ich in meinem ersten Jahr in New York City noch als Kurier arbeitete und mich auf verrückte Weise beschwingt fühlte von dem Wissen, dass das hier etwas ist, was ich nie wieder tun werde.

Gudrun Scheidecker hatte auf mich gewartet, als ich gegen 23 Uhr zum Kleistpark zurückkehrte. Sie war entzückt, mit einer amerikanischen Filmemacherin unter einer Decke zu stecken, die zum Filmfestival eingeladen worden war. Sie hatte es allen ihren Freunden erzählt. Und ob es nicht unglaublich sei, dass Frauen tatsächlich noch zu unseren Lebzeiten dieselben Möglichkeiten erhalten wie Männer, wenn sie einen Film drehen wollen? Ich musste von meinem ersten Tag auf dem Market berichten – ob ich auf irgendwelche Partys gegangen sei? Mit wem habe ich geredet, und wie sei es gewesen?

Tagebucheintrag am 19. Januar gegen Mitternacht unter der Decke: »Noch vier Tage von all dem hier.«

Können Filme mit Bildern beginnen? Wer war es noch mal – war es Flaubert? –, der gesagt hatte, dass er den gesamten Roman Die Erziehung des Herzens geschrieben habe, um die Farbe des blätternden Lacks eines Fensterbretts zu evozieren? Dreißig Jahre lang hatte er rückwärts geschrieben, und ich stelle mir dieses Gelb vor: Senf, der von dem Schimmelgrau des Gebäudes getrübt und vertieft wurde.

Irgendwann in den späten Achtzigern kam ich auf Besuch zurück nach Neuseeland. Alles hatte sich verändert. Innerhalb von zwei Jahren hatte das Land fünfzig Jahre übersprungen und war von einem verschlafenen Kaff aus den Vierzigern zu einem Außenposten der Neuen Weltordnung katapultiert worden.

Wie in einem Dritte-Welt-Land war das globale Kapital in Windeseile zugeströmt und hatte diese Transformation quasi über Nacht erwirkt. Was einst die sozialdemokratische Nation einer xenophoben Mittelklasse gewesen war, war nun polarisiert und entweder sehr reich oder sehr arm. Lange Benz- oder BMW-Prozessionen krochen durch die Geschäftsmetropolen. Andere gingen zu Fuß. Nachdem man die Kupferminen in Twizel stillgelegt hatte, wurden die Arbeiterhütten umgebaut und als Wochenend-Ski-Eigentumswohnungen verkauft. Alle Regierungssubventionen für Butter, Milch und Schaffleisch – Nahrungsmittel, die einst als elementare Menschenrechte gegolten hatten – waren aufgehoben worden. Der Markt und die dazugehörige New-Age-Ideologie der Selbst-Aktualisierung hatten die Herrschaft übernommen.

Meine engste Freundin, die Arbeiterführerin Eunice Butler, war von ihrer Position als Leiterin der neuseeländischen Unfallentschädigungsgesellschaft beseitigt worden. Der gesamte Fonds war aufgelöst worden. Eunice, eine brillante, charismatische, disziplinierte Politikerin, verbrachte nun ihre Tage damit, Arbeitslosengeld zu erhalten, Workshops zu besuchen, auf denen man lernt, wie man ein astrales Medium wird und sich selbst hinterfragt. Was hatte sie falsch gemacht? War es Selbstsabotage? Wie auch der Krebs kann das Scheitern doch nur eine Manifestation der geheimen Wünsche einer Person sein. Die meisten Markenzeichen neuseeländischer Populärkultur waren verschwunden. In den Teesalons der Bahnhöfe gab es nun keine Porzellantassen mehr und kein steinhartes Gebäck. Sie waren allesamt geschlossen oder durch Fast-Food-Ketten ersetzt worden.

Unterwegs auf dem Highway 2 von Wellington Richtung Norden nach Masterton hörte ich eine Diskussionssendung auf einem christlichen Radiosender. Eine dreifache Mutter berichtete dem selbstgefälligen und sorgenfreien Moderator davon, wie Gott ihr geraten hatte, ihrem kleinen Sohn den Hintern zu versohlen. Genau wie in Rumänien und Guatemala hatte sich auch in Neuseeland der Evangelismus amerikanischen Stils rasend schnell verbreitet. Die Frau hatte jenen vertrauten, quengeligen neuseeländischen Akzent, ihre Stimme erhob sich am Ende eines jeden Satzes zu einer Frage, und ich dachte über diese merkwürdige Amnesie nach: Wie man man selbst bleiben könne und dennoch einen solch außerirdischen Glauben verfechten.

Ich fuhr in Silverstream ab, um etwas zu essen, bevor der Rimutaka-Gebirgszug begann. Die Stadtgrenzen von Wellington hatten sich verschoben. Einst hatte die Stadt bei Lower Hutt aufgehört, und Silverstream war ein Nest auf dem Land gewesen. Doch jetzt wirkte alles hier sehr unfertig, weil sich zwei Zeitschaften dabei beobachten ließen, wie sie sich verschoben und zusammenbrachen. Es gab noch immer eine Wurstfabrik und Lagerhäuser, einen Metzger und ein Ratenkaufgeschäft.

Um 18 Uhr war die Stadt geschlossen. Ich fuhr herum und fand eine Take-out-Burgerbar in einer Seitenstraße den Hügel hoch. Drinnen hatten sie eine einzelne Weihnachtslichterkette längs des Fensters aus Spiegelglas genagelt. Und alles, was ich bislang gesehen hatte, gerann in der Traurigkeit dieser Lichter –

In dem Film Gravity & Grace gerät Ceal Davis, eine neuseeländische Kleinbürgerin in ihren Vierzigern, aus der Spur ihres Lebens und in die Verzweiflung. Sie trifft einen Mann namens Thomas Armstrong, der an fliegende Untertassen glaubt. »Den ganzen Frühling über«, sagt sie zu ihm, »bin ich mir vorgekommen, als stünde ich auf dem Rand von etwas, so als ob sich etwas in meinem Rachen verfangen habe. Ich spüre da eine unglaubliche Traurigkeit, eine gute Traurigkeit jedoch. Ich will nicht, dass sie endet.«

Für Thomas ist ihre Traurigkeit eine Quelle. Gegen Ende der Landkriege im Jahr 1862 hatte der Māori-Prophet Te Ua am Vorabend des europäischen Sieges eine Vision, dass die Welt mit einer Flut enden würde. Daheim in ihrem Tudor-Haus in Remuera nehmen Außerirdische zu Ceal Kontakt auf, die ihr mitteilen, dass die Welt mit einer Flut enden wird. Ceal weiß nicht recht, ob sie das glauben soll, doch sie tut es.

Mithilfe einer numerologischen Lesung des Buches Daniel sagte der Bauer William Miller aus Massachusetts im Jahr 1818 voraus, dass die Welt in ungefähr 25 Jahren enden werde. Es gelang ihm, diese Botschaft weiter zu verbreiten, als er 1839 den wohlhabenden Geschäftsmann Joshua Humes bekehrte.

1840 warteten dann bereits Tausende von Menschen aus dem Mittleren Westen bis New Hampshire auf den Mitternachtsschrei. Zeitungen, Zeitschriften, Traktate und Pamphlete, die die kommende Herrlichkeit verkündeten, wurden überall wie Herbstlaub verstreut und in die Welt hinausgeschickt. Man legte das Datum auf den 23. April 1843 fest. In jenem Jahr waren die Erweckungstreffen so derart überlaufen, dass es unmöglich geworden war, die Massenhysterie noch in Grenzen zu halten. Man hörte davon, dass Einzelne wahnsinnig wurden. Als der 23. April kam und ging, revidierte Miller seine Prophezeiung gemäß jüdischem Kalender. Ein zweites Datum wurde festgelegt: diesmal der 22. Oktober 1844. Merkwürdigerweise schien dieser erste Widerrufden allgemeinen Glauben nur noch zu verstärken.

Joshua Humes berichtete: »Ich habe noch nie einen stärkeren oder aktiveren Glauben erlebt.« In jenem Sommer weigerten sich die Bauern in New Hampshire, ihre Felder zu eggen, weil der Herr ganz sicher noch vor dem Winter kommen werde. Andere, als sie in die Felder gingen, um ihr Gras zu schneiden, stellten fest, dass sie nicht dazu in der Lage waren, weiterzuarbeiten, und so ließen sie ihre Ernte auf dem Feld stehen, um auf diese Weise ihren Glauben zu demonstrieren. Städtische Jünger verkauften ihr Hab und Gut, um die Welt als ehrbare Menschen und bar jeder Schuld zu verlassen.

Doch am Morgen des 23. Oktobers, nachdem man die ganze Nacht über gewartet hatte, berichtete ein Jünger der Bostoner Tagespresse: »Unsere edelsten Hoffnungen und Erwartungen wurden vernichtet, und es überkam uns ein solches Weinen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Diese Enttäuschung erschien uns viel schlimmer als der Verlust all unserer irdischen Freunde. Wir weinten und weinten, bis der Tag anbrach.«

Als ich mir den Film Gravity & Grace zum zweiten Mal ansah, lebte ich in East Hampton mit meinem Mann. Nach einer Reihe leerer Erledigungen, die in der letzten Zeit immer mehr meiner Tage anfüllten, befand ich mich auf dem Heimweg. Ich war nicht mehr arm. Arm zu sein jedoch hatte immerhin eine Art von Struktur bedeutet, und jetzt war ich ein Niemand.

Alles schien hoffnungslos. Es war ein verregneter Nachmittag, Anfang November. Bachs Partita für Violine in h-Moll, in der Cello-Version von Ute Uge, lief im Radio. Ich hielt auf dem Seitenstreifen der Springs Fireplace Road an und weinte. Meine Haut wurde so porös, dass das Vibrato des Cellos in meinen Körper kroch wie ein Außerirdischer.

Hier spricht Ulrike Meinhof zu den Erdenbewohnern. Ihr müsst euren Tod öffentlich machen. Als sich der Strick um meinen Hals zusammenzog, machte ein Außerirdischer Liebe mit mir … Wie gelingt es eigentlich irgendwem, sein Leben in den Griff zu bekommen? Es gibt ein Gemälde von Franz von Assisi in der Sammlung Frick, auf dem er sich auf dem Boden windet, nachdem ihm Gott erschienen ist. Nicht länger ist er der sanfte Heilige der Vögel und Tiere. Er ist nun vollkommen geistesgestört.

Begegnungen mit Außerirdischen sind Markierungsphänomene – Nadeln auf der Karte einer emotionalen Landschaft, durch die man sich bewegt hat, ohne eine Form bemerkt zu haben. Verzweiflung ist die rührselige Ekstase des barocken Romantizismus. Man wartet auf Zeichen.

Am nächsten Tag, Dienstag, dem 20. Januar, schien es mir sinnlos, zum Market zu gehen, doch es war zu kalt in Gudrun Scheideckers Wohnung, um daheim zu bleiben.

Ich nahm die U-Bahn zum Ku’damm, und während ich hinaufging, um nach meinen Nachrichten zu sehen, dachte ich darüber nach, dass es zwar nett wäre, aber nicht sehr viel wahrscheinlicher als das Leben nach dem Tod, wenn auch nur einer der zwanzig auf meinen Brief geantwortet hätte.

Mein Postfach war leer. Gordon Laird war in eine Unterhaltung vertieft mit den Co-Produzenten eines Trailers für einen Film über irgendwelche College-Mädchen und -Typen, der für reichlich Wirbel sorgte. Ich versuchte Blickkontakt zu ihm herzustellen, und weil mir das nicht gelang, begann ich langsam über das Messeareal zu laufen, den Lammfellmantel in der Hand haltend und lächelnd. Die Rolltreppen hoch und runter, Stock eins bis vier. So ging das ungefähr zwei Stunden lang. Irgendwann bettelte ich dann die Person, die an der Tür zu Todd Verows Frisk stand, so lange an, bis sie mir schließlich erlaubte, mich hinzusetzen und mir den Film anzusehen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich ganz ungemein beeindruckt war.

Eine Umfrage der Weekly World News verkündet, dass Frauen nur vor einer Sache mehr Angst haben als vor Schlangen und Nagetieren: und zwar davor, alleine auf eine Party gehen zu müssen, wo sie niemanden kennen.

An jenem Abend auf der Party der American Independents kreiste ich langsam im Raum umher wie eine Beduinin und hielt mich an einem Glas Rotwein fest. Alle um mich herum waren ober flächlich in Gesprächen verankert, verzweifelt nach jenem Moment suchend, in dem einem endlich der Gesprächsstoff ausgeht. Ich verbrachte zehn Minuten damit, mich mit dem Direktor des Mill Valley Film Festivals zu unterhalten, der drei Monate später dann meinen Film ablehnen sollte.

Der European Film Market verwandelte sich allmählich in Zimmer 101 aus Orwells 1984, einer Schreckenskavalkade, die einen mit den eigenen tiefsten Ängsten konfrontiert. Und alles war so barock, dass ich so gerade eben darüber schwebte und dachte: »Das alles hier kann mir jetzt nichts mehr anhaben …«

Es war unvorstellbar, noch einen einzigen weiteren Tag damit zu verbringen, auf dem Market zu versuchen, irgendwie geschäftig zu wirken. Am Mittwochmorgen schmiedete ich einen Plan: Ich würde wie immer gegen halb neun aufbrechen und dann zurück in die Wohnung schleichen, nachdem sich Gudrun zur Schule aufgemacht hatte. Am Mittwoch jedoch meldete sich Gudrun krank. Zittrig berichtete sie mir von all den Zeichen einer frühen Menopause. Hitzewallungen, lähmende Krämpfe, der schluchzende Wahnsinn, auf etwas zu warten, das niemals kommt –

Sie schloss ihre Schlafzimmertür, um zu schlafen. Ich packte meine Koffer und schrieb einen Zettel und schob den Schlüssel unter der Wohnungstür hindurch.

Draußen hielt ich ein Taxi zum Crystal Hotel an. Der Name kam mir irgendwie New Age vor, irgendwie Nazi. Es handelte sich um eine Ein-Stern-Unterkunft ganz unten auf der »Empfehlungsliste« des Market. Zwei Dokumentarfilmemacher checkten gerade aus, und glücklicherweise bekam ich ihr Zimmer.

Inzwischen fühlte sich mein ganzer Körper bereits so an, als sei er aus Glas. Ich ging an Unterkühlung zugrunde, konnte mich nicht dazu bringen, mein leeres Postfach zu checken, lächelte Gordon Laird zu, saß wieder einmal allein in einem Restaurant oder Café herum. Ich kaufte eine Schachtel Cracker und ein Stück Feta-Käse und verbrachte den Tag damit zu lesen. Die Heizung schnurrte. Ein einziger Klecks Sonnenlicht vor dem Mansardenfenster draußen bewegte sich über die Dachgeschosswände.

»Unmöglich«, schreibt Simone Weil in Schwerkraft und Gnade, »jemandem, der uns Böses zugefügt hat, zu verzeihen, wenn dieses Böse uns erniedrigt. Man muß den Gedanken wagen, daß es uns nicht erniedrigt, sondern unseren wahren Rang offenbar gemacht hat.«

Sie schrieb dies 1942 in Marseille in ihr Notizbuch, während sie mit ihren Eltern zwar nicht auf Gott wartete, sondern auf amerikanische Einreisevisa, die ihnen ihr Bruder André Weil, ein Mathematiker, der bereits sicher in New York war, dann schließlich auch besorgen sollte.

Während des gesamten Krieges wurden insgesamt weniger als 3000 französischen Juden die Einreise in die USA gewährt. Weils gebildete Bürgerfamilie war darunter. 75 000 Juden wurden während der deutschen Besatzung in Frankreich zusammengetrieben und deportiert. Von diesen überlebten nur drei Prozent. In Marseille dachte Weil über die Ungewissheiten des Zufalls nach, über all die Systeme der Kausalität, die wir nur deshalb erfinden, um so zu tun, als herrsche der Zufall nicht.

Sie schrieb, dass es »unerträglich ist, sich vorzustellen, das Kostbarste, was die Welt besitzt, sei dem Zufall ausgeliefert. Gerade weil dies unerträglich ist, soll man es betrachten. […] Das einzige Gut, das dem Zufall nicht unterworfen ist, ist jenes, das außer der Welt ist.« Obwohl, wie Weil nur allzu gut wusste, die Reichen schon immer viel mehr »Glück« gehabt haben als die Armen.

Weil fand die Sicherheit in New York unerträglich. Sie träumte davon, zurück nach Frankreich zu fliegen und per Fallschirm mitten zwischen den Nazis abzuspringen. Ihr ganzes Leben lang, seitdem sie zehn war, hatte sie mit den Armen und Entrechteten gefühlt. Ein panischer Altruismus. Sie empfand das Leiden anderer in ihrem eigenen Körper und fand eine Sprache und ein System dafür. Wert, entschied sie, existiert nur in der Verbindung zweier ehedem separater Entitäten. Wert schwindet, sobald diese Union aufgelöst wird. In ihrem Verlangen nach Einheit wand sie sich zu einem panischen Altruismus empor – zu einem Zustand, in dem es keine Grenzen zwischen dem gibt, der man ist, und dem, was man sieht.

»Ein Mensch, dessen sämtliche Angehörigen unter der Folter umgekommen wären«, schrieb sie später in London, »der selbst lange Zeit in einem Konzentrationslager gefoltert worden wäre. Oder ein Indio des sechzehnten Jahrhunderts, der als einziger der völligen Ausrottung seines ganzen Volksstammes entronnen wäre. Wenn solche Menschen an die Barmherzigkeit Gottes geglaubt haben, so glauben sie nun entweder nicht mehr daran oder ihre Vorstellung davon hat sich von Grund auf verwandelt. Ich habe dergleichen nicht durchgemacht. Aber ich weiß, daß es vorkommt: folglich, welcher Unterschied?«

Weil sie selbst brillant war, versuchte sie den Wert der Intelligenz zu diskreditieren. »Der intelligente Mensch, der auf seine Intelligenz stolz ist, ist wie ein gerichteter Mensch, der auf seine große Zelle stolz ist …« (London Notebooks)

Das übergreifende Anliegen von Weils Schreiben, das etwa fünfzehn Bände füllt, die ein halbes Jahrhundert später in den Éditions Gallimard veröffentlicht wurden, bestand darin, die Interaktionspunkte zwischen dem Mahayana-Buddhismus und den frühen Griechen zu finden. Weil sah in der griechischen Kultur die Wurzeln des westlichen Denkens. Dem Antikenforscher Pierre Vidal-Naquet zufolge war ihr gesamtes Verständnis der griechischen Kultur verrückt und ekstatisch, fehlerhaft.

Weil war viel eher Mystikerin als Theologin. Das heißt, all die Dinge, die sie schrieb, waren Feldnotizen für ein Projekt, das sie an sich selbst ausübte. Sie war eine performative Philosophin. Ihr Körper war Material. »Der Körper ist ein Hebel für das Heil«, dachte sie in ihren Notizbüchern. »Aber wie? Wie gebraucht man ihn richtig?«

Eine Mystikerin, und insbesondere eine moderne, hat etwas einfach nur Groteskes an sich. 1942 verließ sie New York in Richtung London, wo sie 15 Monate lang lebte und arbeitete, bevor sie im Alter von 34 Jahren einen tuberkularen Hungertod starb. »Sie spricht davon, entsetzliche Schmerzen für andere zu empfinden, für diejenigen, ›die mir gleichgültig oder nicht vertraut sind‹. […] Es ist fast, als spräche aus ihr eine komische Dickens-Figur«, schrieb Graham Greene. Alain, ihr Lehrer am Lycée Henri-IV, bezeichnete Simone liebevoll als Außerirdische. Ihr Spitzname war »der Marsmensch«.

Bis vor Kurzem behandelten nahezu alle Sekundärtexte zu Simone Weil ihre philosophischen Schriften als eine Art biografischen Schlüssel. Unmöglich, sich ein weibliches Leben vorzustellen, das aus sich heraustreten könnte. Unmöglich, die Selbstzerstörung einer Frau als strategisch zu akzeptieren. Weils Befürwortung der Entschaffung wird als Beweis für ihre Funktionsunfähigkeit gelesen, für ihren Hass auf ihren Körper und so weiter.

Es gibt eine mittelalterliche mystische Tradition, die das Selbst als »übelriechende Geschwulst« definiert, die zersetzt werden muss. Als Frau, die im mittleren 20. Jahrhundert lebt, geht Weil noch einen Schritt weiter: Es ist nicht nur das Selbst in der zweiten Person, das sie zu zerstören sucht. Sie beginnt mit dem, was ihr am vertrautesten ist: ihrem eigenen.

In Schwerkraft und Gnade ist für Weil das Ich das Einzige, was wir wirklich besitzen, und deshalb müssen wir es zerstören. »Benutzt das ›Ich‹«, scheint sie uns zuzurufen, »um das ›Ich‹ aufzuheben.«

Sie will sich verlieren, um größer als sie selbst zu sein. Eine Rhapsodie des Verlangens überkommt sie. Sie will wirklich sehen. Deshalb ist sie Masochistin.

»Es existiert eine Wirklichkeit«, schrieb sie in London, »jenseits der Welt, das heißt, außerhalb von Raum von Zeit, außerhalb einer jeden Sphäre, die dem Menschen mit seinen Fähigkeiten zugänglich ist. Im Innersten des menschlichen Herzen befindet sich eine Sehnsucht nach einem absoluten Guten, die dieser Wirklichkeit entspricht …«

Die Forscherin Nancy Huston kritisiert Weil für ihre Leugnung des Körpers. Sie bemitleidet sie, weil sie nie gefickt hat und deshalb an mangelndem Selbstwertgefühl gelitten haben muss. Es ist, als ob Weil, da sich insgesamt nur wenige Frauen überhaupt zu ihrer Zeit geäußert haben, einzig und allein als eine Art Rollenbild beurteilt werden muss, das »ihrer Rasse alle Ehre macht«.

Weils englischem Herausgeber und Biografen Richard Rees zufolge besteht für sie der Hauptwert der menschlichen Seele im Zustand vollkommener Unpersönlichkeit. Und dennoch, wie ihre Freundin/Feindin Simone de Beauvoir später in Das andere Geschlecht argumentieren wird, lässt sich das weibliche Selbst, weil es vorrangig als Gender definiert wird, niemals unpersönlich wahrnehmen.

In seiner Weil-Biografie aus dem Jahr 1991 schreibt der Forscher Thomas Nevin: »Ihre intellektuelle Strenge, ihre unnachgiebige, niemals Zugeständnisse machende Art und Weise, für Position zu argumentieren, ihr Suchen nach dem Reinen – all dies funktionierte wie ein Mechanismus, um sich selbst von dem zu distanzieren, wie andere sie sehen könnten – als Frau.«

In einer außerordentlich herablassenden Einführung zu Mary McCarthys Übersetzung von Weils Monografie Die Ilias oder das Poem der Gewalt merkt ihr Bruder André an, dass die Welt sie vielleicht ein wenig ernster genommen hätte, hätte sie sich nur mal die Haare gekämmt, Strümpfe getragen und Absatzschuhe.

Ihr Werk sei »abstoßend« schrieb ihr Freund/Feind Georges Bataille sechs Jahre nach ihrem Tod. »Unmoralisch, abgedroschen, irrelevant und paradox.«

Der bibliografische Quellenband zu Weils Werk, 1992 von der University Press Santa Cruz herausgegeben, beschreibt sie als »anorektische Philosophin«, die sich im Alter von 34 Jahren zu Tode gehungert habe. Weil als dieses brillante verrückte Mädchen. Als unbeholfene Vogelscheuche in flachen Schuhen, als selbsthassende und sich selbst zu Tode hungernde Androgyne.

Romantische Menschen tendieren dazu, ihr Leben als Raster und Irrgärten zu betrachten, die sich als Netz aus zwar erratischen, jedoch miteinander verknüpften Linien entfalten. Diese wahllos auftretenden Kausalitätsreihen formen, wie sich im Blick zurück feststellen lässt, ein Muster

Und so, wie die Philosophen Deleuze und Guattari aufgrund ihrer William-Burroughs-Lektüre vermuten, wird die Idee des Zufalls zu einer Art Märchen. Der Zufall als Weg und Mittel, über das Chaos zu triumphieren und eine allumfassende geheime Einheit in der Welt zu entdecken.

Im Brownie-Handbuch für junge Pfadfinderinnen gab es ein Spiel namens »Pfenningspaziergang«, das wir häufig spielten. Man geht nach draußen und wirft an jeder Straßenecke eine Münze. Bei Kopf biegt man links ab, bei Zahl biegt man rechts ab. Wenn die Fügung ein Zauber ist, kann der Zufall dann tödlich sein? Wenn man nicht weiß, was man tun soll, dann sucht man nach Zeichen.

Zeichen sind Wunder, die immer dann erscheinen, wenn wir sie am wenigsten erwarten – in Augenblicken, in denen der bewusste Geist aufgegeben hat, abgeschaltet hat. Zeichen erscheinen in einer Vielzahl von Formen: Fundstücke und verlorenes Eigentum, die Worte eines Fremden.

Im Jahr 1453 veröffentlichte die Londoner Hebammengilde eine Liste von Zeichen, aus denen hervorging, dass die Pest vor der Tür stand. Wenn die Raben sich am Feldrand versammeln und Babys noch vor Dämmerung weinen … Du gehst die Third Avenue in der Nähe der Kreuzung mit der East 53rd Street in Manhattan entlang, nachdem du dich für irgendeinen Job beworben hast. Du kommst an einem randvollen Müllcontainer vorbei und siehst ein Buch. Du öffnest es: Seite 3 – 5 – 3, die Koordinaten, an denen du dich befin dest, und diese Seite verrät dir alles, was du über dein Leben wissen musst. Zeit und Umstände haben dich bis hin zu diesem Punkt der Erschöpfung geführt. Das Tao des Versäumnisses: einen Zustand erlangen zu wollen, in dem du porös sein kannst – mobil, verloren und mittellos und unablässig aufmerksam.

Für André Breton ist seine Suche nach Schönheit das Gleiche wie sein Werben um die verrückte Nadja. Er sitzt an seinem Schreibtisch, sie befindet sich in einer Pflegeanstalt südlich von Paris namens Perray-Vaucluse. Er spricht davon, einen »Schock« zu erleben, das »Königtum der Stille«.

Im 20. Jahrhundert erklärten zahlreiche Gruppen hochgebildeter Männer den Zufall zur Grundlage ihrer künstlerischen Praxis. Man Ray fotografiert Robert Desnos zur »Mittagsschlafszeit« im Hauptquartier der Surrealisten, einer Suite in einem Hotel, das dem Vater eines der Surrealisten gehört. Auf dem Foto sieht Desnos aus wie ein wilder und wahnsinniger Typ, seine Augäpfel rollen und streben durch seinen Schädel hindurch zur Decke. (Obwohl er später auch »Pech« haben wird, als ihn die Deutschen 1942 deportieren …)

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