Читать книгу: «Oliver Twist», страница 7

Шрифт:

12 – Oliver findet eine bessere Pflege als je zuvor, und unsere Geschichte kehrt wieder zu dem menschenfreundlichen Mr. Fagin und seinen jungen Schützlingen zurück.

Der Wa­gen ras­sel­te da­von, fast auf dem­sel­ben Weg, den Oli­ver durch­wan­dert hat­te, als er in der Ge­sell­schaft des Bal­do­we­rers zum ers­ten Mal Lon­don be­tre­ten, er­reich­te dann den »En­gel« in Is­ling­ton und hielt schließ­lich vor ei­nem hüb­schen sau­bern Haus in ei­ner stil­len schat­ti­gen Stra­ße in der Nähe von Pen­ton­ville. Hier brach­te Mr. Brow­n­low sei­nen jun­gen Schütz­ling so­fort zu Bett und ließ ihm eine Pfle­ge und Be­hand­lung an­ge­dei­hen, – so lieb­voll, wie die­ser sie noch nie im Le­ben ge­habt hat­te.

Eine gan­ze Wo­che ver­ging, und im­mer noch lag Oli­ver fie­bernd und fan­ta­sie­rend auf sei­nem La­ger. Schwach, ab­ge­ma­gert und bleich er­wach­te er end­lich aus ei­nem Schlaf, der ein lan­ger quä­len­der Traum ge­we­sen zu sein schi­en. Matt er­hob er sich in sei­nem Bett und sah sich ängst­lich um.

»Wo bin ich? Wo hat man mich hin­ge­bracht?« frag­te er. »Das ist doch nicht der Ort, wo ich um­ge­fal­len bin.«

Ei­lig wur­de der Vor­hang am Kop­fen­de des Bet­tes zu­rück­ge­zo­gen, und eine müt­ter­lich aus­se­hen­de alte Dame stand auf und beug­te sich über ihn.

»Still, still, Kind«, flüs­ter­te sie. »Du musst dich ru­hig ver­hal­ten, sonst wirst du wie­der krank. Du warst schon nahe am Tode, denk bloß. Leg dich nur wie­der hin – komm, sei ein lie­bes Kind.«

Mit die­sen Wor­ten leg­te die alte Dame Oli­vers Kopf zu­rück, strich ihm das Haar aus der Stirn und sah ihm so men­schen­freund­lich ins Ge­sicht, dass er sei­ne ab­ge­zehr­te Hand in die ihre le­gen und ih­ren Arm um sei­nen Hals schlin­gen muss­te.

»O du lie­ber Him­mel«, rief die alte Dame mit trä­nen­den Au­gen, »was das für ein dank­ba­res klei­nes We­sen ist. Was wür­de wohl sei­ne Mut­ter füh­len, wenn sie so ne­ben ihm säße, wie ich jetzt, und ihn se­hen könn­te.«

»Vi­el­leicht sieht sie mich«, hauch­te Oli­ver die Hän­de fal­tend. »Vi­el­leicht hat sie bei mir ge­ses­sen die gan­ze Zeit über. Ich glau­be wirk­lich, es war so.«

»Du hast ge­fie­bert, Kind«, sag­te die alte Dame mil­de.

»Ich glau­be auch, ich habe ge­fie­bert«, ant­wor­te­te Oli­ver. »Der Him­mel ist doch so weit weg, und sie sind so glück­lich dort, – viel zu glück­lich, um an das Bett ei­nes ar­men Jun­gen zu kom­men. Aber wenn sie ge­wusst hat, dass ich krank war, so muss es ihr sehr nahe ge­gan­gen sein, denn sie war ja auch sehr krank, ehe sie starb. Aber sie kann doch nicht gut et­was von mir wis­sen«, setz­te er nach ei­ner Wei­le hin­zu. »Hät­te sie ge­se­hen, was man mir an­ge­tan hat, so wäre sie be­trübt dar­über ge­we­sen. Und sie hat doch so glück­lich aus­ge­se­hen, so oft ich von ihr träum­te.«

Die alte Dame gab kei­ne Ant­wort, wisch­te sich nur die Au­gen und dann die Bril­le ab, die sie auf die Bett­de­cke ge­legt hat­te – ganz so, als ob die Bril­le und ihre Au­gen un­be­dingt zu­sam­men­ge­hör­ten -, dann brach­te sie Oli­ver ein be­ru­hi­gen­des Ge­tränk, tät­schel­te ihm die Wan­ge und sag­te ihm, er müs­se sehr ru­hig lie­gen, da­mit er nicht wie­der krank wer­de.

Oli­ver ge­horch­te so­fort, teils, weil er um al­les in der Welt die gute alte Dame nicht ge­kränkt hät­te, und dann auch, weil ihn die we­ni­gen Wor­te, die er ge­spro­chen, wirk­lich voll­stän­dig er­schöpft hat­ten. Er ver­fiel bald in eine Art Halb­schlum­mer, aus dem er erst durch den Schein ei­ner Ker­ze ge­weckt wur­de, die ihm, in die Nähe des Bet­tes ge­bracht, einen Herrn zeig­te, der in der einen Hand eine Uhr hielt und mit der an­de­ren sei­nen Puls be­fühl­te und dann be­haup­te­te, dass es ihm schon weit bes­ser gin­ge.

»Es geht dir doch auch bes­ser, nicht wahr, Kind?« frag­te der Herr.

»Ja, ich dan­ke, Sir«, er­wi­der­te Oli­ver.

»Na­tür­lich, ich weiß doch, dass es dir bes­ser geht«, sag­te der Dok­tor. »Du bist auch selbst­ver­ständ­lich hung­rig.«

»Nein, Sir«, ant­wor­te­te Oli­ver.

»Hm«, flüs­ter­te der Arzt. »Nein? Na­tür­lich ja; ich weiß doch, dass du gar nicht hung­rig bist. Er ist nicht hung­rig, Mrs. Bed­win«, sag­te er dann und leg­te sei­ne Stirn in tie­fe Weis­heits­fal­ten.

Die alte Dame mach­te eine ach­tungs­vol­le Ver­beu­gung, die be­sa­gen soll­te, dass sie den Dok­tor für einen un­ge­mein ge­schei­ten Herrn hal­te. Der Dok­tor schi­en von sich selbst­ver­ständ­lich die glei­che An­sicht zu ha­ben.

»Du bist also schläf­rig, nicht wahr, Kind?« frag­te er wei­ter.

»Nein«, ant­wor­te­te Oli­ver.

»Nein«, sag­te der Dok­tor mit pfif­fi­ger Mie­ne, »du bist nicht schläf­rig. Auch nicht durs­tig na­tür­lich, wie?«

»Doch, Sir, ziem­lich durs­tig«, ant­wor­te­te Oli­ver.

»Ganz wie ich er­war­te­te, Mrs. Bed­win«, sag­te der Arzt, »selbst­ver­ständ­lich muss er durs­tig sein. Sie kön­nen ihm ein we­nig Tee ge­ben, lie­be Mrs. Bed­win, und et­was trock­nes Brot, aber ja kei­ne But­ter. Hal­ten Sie ihn nicht zu warm, Mrs. Bed­win, ge­ben Sie aber auch acht, dass er nicht friert. Wer­den Sie sich das al­les mer­ken?«

Die Dame knix­te. Der Arzt kos­te­te das küh­len­de Ge­tränk, sprach sei­ne Bil­li­gung dar­über aus und schritt von dan­nen. Sei­ne Stie­fel knarr­ten, wie er die Trep­pe hin­un­ter­stieg, sehr laut und ver­rie­ten, was für eine hoch­wich­ti­ge Per­son in ih­nen stack.

Oli­ver schlum­mer­te wie­der ein, und als er er­wach­te, war es bei­na­he zwölf Uhr. Zärt­lich sag­te ihm die alte Dame Gute Nacht und übergab ihn der Ob­hut ei­ner di­cken al­ten Frau, die eben ein­ge­tre­ten war mit ei­nem klei­nen Bün­del und dar­in ei­nem dün­nen Ge­bet­buch und ei­ner bau­schi­gen Nacht­müt­ze. Als sie letz­te­re auf den Kopf ge­setzt und ers­te­res ne­ben sich auf den Tisch ge­legt, er­zähl­te sie Oli­ver, sie sei her­ge­kom­men, um bei ihm zu wa­chen. Dann zog sie ih­ren Stuhl an den Ka­min und schlief ein. Wach­te auch nicht mehr auf, höchs­tens für eine Se­kun­de, wenn sie vor Schnar­chen bei­na­he er­stick­te. Aber je­des Mal rieb sie sich dann tüch­tig die Nase und schi­en wei­ter kei­nen Scha­den ge­nom­men zu ha­ben.

So ver­ging lang­sam die Nacht. Eine Zeit lag Oli­ver wach, dann fing er an, die klei­nen Licht­krei­se zu zäh­len die der Lam­pen­schirm auf die De­cke warf, oder ver­folg­te mit mü­dem Blick das ver­wor­re­ne Ta­pe­ten­mus­ter. Bei dem Düs­ter und der fei­er­li­chen Stil­le, die in der Stu­be herrsch­ten, dräng­ten sich ihm die Ge­dan­ken auf, wie viel Tage und Näch­te der Tod hier ge­spuckt ha­ben moch­te, und dass er viel­leicht jetzt noch das Zim­mer mit der gan­zen Schwer­mut sei­ner furcht­ba­ren Ge­gen­wart er­fül­le. Und er drück­te sein Ge­sicht in die Kis­sen und be­te­te in­brüns­tig zu Gott.

All­mäh­lich ver­fiel er in einen tie­fen ru­hi­gen Schlum­mer, den nur das Ge­fühl, schwe­res Leid hin­ter sich zu ha­ben, ver­leiht; – jene fried­li­che Ruhe, aus der zu er­wa­chen Schmerz be­deu­tet. Wäre sie der Tod, wer wür­de gern dar­aus wie­der­er­wa­chen zu all den Kämp­fen und Müh­sa­len des Le­bens und zu der Ban­gig­keit vor der Zu­kunft, zu all den trü­ben Erin­ne­run­gen, die aus der Ver­gan­gen­heit wie­der auf­er­ste­hen!

Es war schon lan­ge hel­ler Tag, als Oli­ver die Au­gen auf­schlug, und er fühl­te sich froh und zu­frie­den, war doch die Kri­sis glück­lich über­stan­den, und er ge­hör­te wie­der der Welt an.

Nach drei Ta­gen war er wie­der fä­hig, in ei­nem Lehn­stuhl zu sit­zen, den man ihm gut mit Kis­sen aus­ge­stopft hat­te und den Mrs. Bed­win selbst die Trep­pen hin­un­ter­schlepp­te in das klei­ne Haus­häl­te­rin­nen­stüb­chen, das sie be­wohn­te. Dort saß nun Oli­ver ne­ben dem Ofen, und die gute alte Dame setz­te sich zu ihm und fing vor Freu­de, ihn wie­der so wohl zu se­hen, laut an zu wei­nen.


»Ach­te nicht auf mich, lie­bes Kind«, sag­te sie, »ich wei­ne mich nur gern von Zeit zu Zeit ein biss­chen aus; jetzt ist es schon vor­über, und ich bin wie­der ganz froh und ver­gnügt.«

»Sie sind so freund­lich ge­gen mich«, sag­te Oli­ver.

»Den­ke nicht dar­über nach, mein Kind«, wehr­te ihm die alte Dame. »Den­ke lie­ber an dei­ne Sup­pe, denn es ist höchs­te Zeit, dass du wie­der ein­mal et­was isst. Der Herr Dok­tor hat ge­sagt, Mr. Brow­n­low kön­ne heu­te früh vor­spre­chen und dich be­su­chen, und da musst du ihm ein glück­li­ches und zu­frie­de­nes Ge­sicht zei­gen, da­mit er sich dar­über freut.« Dann wärm­te die alte Dame in ei­nem Kes­sel ein we­nig Fleisch­brü­he, die nach Oli­vers An­sich­ten an Kraft für min­des­tens drei­hun­dert­fünf­zig Ar­men­häus­ler – ge­ring ge­schätzt – aus­ge­reicht hät­te.

»Siehst du ger­ne Bil­der, mein Kind?« frag­te die alte Dame, als sie sah, wie Oli­ver ge­spannt auf ein Por­trät blick­te, das ihm ge­gen­über an der Wand hing.

»Ich weiß es nicht, Mrs. Bed­win«, sag­te Oli­ver, ohne die Au­gen von dem Bild weg­zu­wen­den. »Ich habe so we­nig ge­se­hen, dass ich es kaum zu sa­gen weiß. Was für ein schö­nes freund­li­ches Ge­sicht die Dame dort hat.«

»Ach«, seufz­te die alte Frau, »die Ma­ler ma­chen doch die Da­men im­mer viel hüb­scher, als sie wirk­lich sind. Na ja, sonst wür­de sich auch nie­mand ma­len las­sen, mein Kind. Der Mann, der den Ap­pa­rat er­fun­den hat, mit dem man jede Ähn­lich­keit her­vor­bringt, hät­te wis­sen müs­sen, dass er da­mit kein Ge­schäft ma­chen kann. Es ist ein viel zu ehr­li­ches Hand­werk. Viel zu ehr­lich«, wie­der­hol­te die alte Dame und lach­te herz­lich über ih­ren Scharf­sinn.

»Ist das – das Bild ähn­lich, Mrs. Bed­win?« frag­te Oli­ver.

»Ja«, sag­te die alte Dame und blick­te einen Au­gen­blick von der Sup­pe auf. »Es ist doch ein Por­trät.«

»Von wem?«

»Das kann ich dir wirk­lich nicht sa­gen, Kind«, ant­wor­te­te die alte Dame gut ge­launt. »Es hat wohl mit nie­mand Ähn­lich­keit, den ich oder du ken­nen. Es scheint dich zu in­ter­es­sie­ren, Klei­ner?«

»Es ist so wun­der­schön.«

»Du fürch­test dich doch nicht am Ende da­vor?« frag­te die alte Dame, als sie be­merk­te, dass et­was wie Leid oder Schmerz im Blick Oli­vers lag.

»O, nein, nein«, be­teu­er­te Oli­ver rasch. »Aber ihre Au­gen se­hen so be­trübt drein, und wo im­mer ich hin­schaue, im­mer schei­nen sie auf mich ge­rich­tet zu sein. Das Herz schlägt mir da­bei«, setz­te er mit lei­ser Stim­me hin­zu. »Gera­de, als ob die Dame noch am Le­ben wäre und mit mir spre­chen woll­te, aber nicht könn­te.«

»Gott im Him­mel«, rief die alte Dame er­staunt, »was sprichst du denn da, Kind? Du bist noch sehr an­ge­grif­fen von dei­ner Krank­heit. Ich will dir den Stuhl auf die an­de­re Sei­te rol­len, dann siehst du es nicht im­mer. – So«, sag­te sie und ließ ih­ren Wor­ten die Tat fol­gen, »jetzt kannst dus nicht mehr se­hen.«

Aber im­mer noch sah Oli­ver im Geis­te das Bild vor sich, schwieg je­doch dar­über, um der al­ten Dame kei­nen Kum­mer zu be­rei­ten, son­dern mach­te ein freund­li­ches glück­li­ches Ge­sicht. Mrs. Bed­win, die sich dar­über sehr freu­te, schüt­te­te in die Sup­pe Salz, brock­te ge­rös­te­te Sem­mel­schnit­ten hin­ein und reich­te sie dann Oli­ver, der sie heiß­hung­rig ver­schlang. Er hat­te kaum den letz­ten Löf­fel ge­schlürft, als es lei­se an die Türe klopf­te und Mr. Brow­n­low ein­trat.

Wie ge­wöhn­lich hat­te der alte Herr die Bril­le auf die Stirn ge­scho­ben und die Hän­de in den Schö­ßen sei­nes Schlafrockes ver­bor­gen. Er warf jetzt einen be­däch­ti­gen lan­gen Blick auf Oli­ver und mach­te so­fort ein höchst be­stürz­tes Ge­sicht, denn Oli­ver sah eher aus wie ein Schat­ten, als wie ein le­ben­der Jun­ge, und bei sei­nem Ver­such, sei­nen Wohl­tä­ter zu be­grü­ßen, sank er vor Schwä­che wie­der in sei­nen Stuhl zu­rück. Mr. Brow­n­low, des­sen Herz so weit war, dass es für min­des­tens sechs alte phil­an­thro­pisch ge­sinn­te Her­ren aus­ge­reicht hät­te, tra­ten so­fort die Trä­nen in die Au­gen.

»Ar­mer Jun­ge, ar­mer Jun­ge«, mur­mel­te er und räus­per­te sich, um sei­ne Rüh­rung zu ver­ber­gen. »Ich bin wie­der schreck­lich hei­ser heu­te Mor­gen, Mrs. Bed­win. Ich fürch­te, ich habe mich er­käl­tet.«

»Ich will doch nicht hof­fen, Sir«, sag­te Mrs. Bed­win. »Ich habe mich selbst über­zeugt, dass Ihre Klei­der, be­vor Sie sie an­zo­gen, ganz tro­cken wa­ren.«

»Ich weiß, ich weiß, Mrs. Bed­win«, be­schwich­tig­te Mr. Brow­n­low. »Aber ich fürch­te, die Ser­vi­et­te ges­tern Mit­tag muss ein we­nig feucht ge­we­sen. Doch las­sen wir das. Wie geht es dir, Klei­ner?«

»O, ich bin so glück­lich, Sir«, ant­wor­te­te Oli­ver, »und bin Ih­nen so von Her­zen dank­bar für all das Gute, das Sie mir er­wie­sen ha­ben, Sir.«

»Bra­ver Jun­ge«, sag­te Mr. Brow­n­low stolz und wür­dig. »Ha­ben Sie ihm denn auch et­was Gu­tes zu es­sen ge­ge­ben, Mrs. Bed­win? Doch nicht etwa Was­ser­sup­pe?«

»So­eben einen Tel­ler schö­ne kräf­ti­ge Fleisch­brü­he, Sir«, ant­wor­te­te Mrs. Bed­win ein we­nig ge­kränkt, dass man ihr zu­mu­te­te, sie wer­de dem Pa­ti­en­ten Was­ser­sup­pe rei­chen.

»Brrrr«, sag­te Mr. Brow­n­low mit ei­nem leich­ten Schau­der, »ein paar Glä­ser Port­wein wä­ren noch viel bes­ser ge­we­sen, was meinst du, Tom Whi­te?«

»Ich hei­ße Oli­ver, Sir«, ant­wor­te­te der klei­ne Pa­ti­ent und sah Mr. Brow­n­low er­staunt an.

»Oli­ver?« wie­der­hol­te Mr. Brow­n­low. »Oli­ver? Oli­ver Whi­te also.«

»Nein, Sir. Twist, Oli­ver Twist.«

»Ku­rio­ser Name«, rief der alte Herr. »Wes­halb hast du denn dem Kom­mis­sär ge­sagt, du hießest Whi­te?«

»Das habe ich ihm nicht ge­sagt, Sir«, ant­wor­te­te Oli­ver er­staunt.

Das klang so of­fen­kun­dig wie eine Lüge, dass der alte Herr Oli­ver er­staunt an­blick­te, aber das Ge­sicht des klei­nen Pa­ti­en­ten trug so of­fen den Stem­pel der Wahr­heit, dass Mr. Brow­n­low so­fort je­den Zwei­fel fal­len ließ.

»Also ein Irr­tum«, brumm­te er. Dann plötz­lich sah er den Klei­nen wie­der starr an, der Ge­dan­ke an eine Ähn­lich­keit mit ei­nem Ge­sicht, das er ir­gend­wo ge­se­hen, dräng­te sich ihm über­mäch­tig auf.

»Sie sind doch nicht böse auf mich, Sir?« frag­te Oli­ver schüch­tern?

»Nein, nein«, rief der alte Herr schnell. »Gott, was sehe ich«, setz­te er schnell hin­zu. »Bed­win, schau­en Sie doch nur!«

Da­bei deu­te­te er has­tig auf das Por­trät, das über Oli­vers Kopf hing, dann auf des­sen Ge­sicht. Eins war die Ko­pie des an­de­ren: Au­gen, Kopf, Mund, kurz je­der Zug: der­sel­be. Die Ähn­lich­keit war so frap­pant, dass man wirk­lich ver­dutzt sein muss­te.

Oli­ver konn­te sich den Grund der plötz­li­chen Er­re­gung des al­ten Herrn nicht er­klä­ren, es braus­te ihm vor den Ohren, al­les dreh­te sich um ihn, und schwach, wie er von der über­stan­de­nen Krank­heit war, sank er plötz­lich in Ohn­macht.

*

Als der Bal­do­we­rer und Mas­ter Char­ley Ba­tes sich un­ter dem Ruf »Hal­tet den Dieb« sich der Hetz­jagd an­ge­schlos­sen, bo­gen sie plötz­lich in ein Ge­wirr von en­gen Gas­sen und Hö­fen ab und blie­ben schließ­lich atem­los in ei­ner nied­ri­gen fins­te­ren Tor­flur ste­hen. Dann platz­te Char­ley Ba­tes mit ei­nem brül­len­den Ge­läch­ter her­aus, ließ sich auf eine Tür­stu­fe fal­len und wälz­te sich au­ßer sich vor Ver­gnü­gen hin und her.

»So hör doch schon auf, dum­mes Lu­der«, brumm­te der Bal­do­we­rer und blick­te sich scheu um.

»Ich kann mich nicht hal­ten, ho­ho­ho«, brüll­te Char­ley. »Wie er so da­hin­ges­aust ist und alle Au­gen­bli­cke an­ge­prallt ist ge­gen einen La­ter­nen­pfahl, grad als ob er auch aus Ei­sen wär – ho­ho­ho – und ich mit dem Rie­ger­lap­pen im Sack – ho­ho­ho -« und wie­der wälz­te sich Mas­ter Ba­tes vor La­chen auf der Tür­schwel­le.

»Was meinst du wohl, was wird Fa­gin sa­gen?« frag­te der Bal­do­we­rer.

»Na, was soll er denn sa­gen?«

»Ja eben, das ists doch.«

»Meinst du, er wird was sa­gen?« frag­te Mas­ter Char­ley und hielt in sei­ner Hei­ter­keit plötz­lich inne, denn das Be­neh­men sei­nes Kol­le­gen wirk­te be­ängs­ti­gend auf ihn.

Mr. Dawkins pfiff ein paar Se­kun­den durch die Zäh­ne, dann nahm er den Hut vom Schä­del, kratz­te sich und nick­te be­denk­lich.

»Na, so sag, was du meinst«, dräng­te Mas­ter Char­ley.

»Ach was, kann mir schließ­lich auch wurst sein«, brumm­te der Bal­do­we­rer, und ein flüch­ti­ges Grin­sen über­flog sein lis­ti­ges Ge­sicht. Dann nahm er die Schö­ße sei­nes lan­gen Rocks un­ter dem Arm zu­sam­men, schlug sich ein paar­mal be­deu­tungs­voll auf die Nase, dreh­te sich auf dem Ab­satz um und schlich, von Char­ley Ba­tes ge­folgt, stumm durch den Hof da­von. Nicht lan­ge dar­auf schrit­ten bei­de die knar­ren­den Stu­fen zu dem al­ten Phil­an­thro­pen em­por, der ge­ra­de über sei­nen Herd ge­beugt, ein klei­nes Stück Brot und ein Würst­chen in der Lin­ken und ein Ta­schen­mes­ser in der Rech­ten, vor sich auf ei­nem Sche­mel einen zin­ner­nen Krug da­saß, wäh­rend ein schur­ki­ges Lä­cheln sein fah­les Ge­sicht über­zog. Ge­spannt horch­te er bei dem Geräusch auf und zog sei­ne dich­ten ro­ten Au­gen­brau­en zu­sam­men.

»Hal­lo, was ist das«, mur­mel­te er und wur­de to­ten­blass. »Nur zwei? Was soll das hei­ßen? Soll da was faul sein?«

Die Fuß­trit­te ka­men im­mer nä­her, er­reich­ten die Schwel­le, die Türe ging lei­se auf, und der Bal­do­we­rer und Char­ley Ba­tes tra­ten ein.

13 – Einige neue Personen werden vorgestellt.

»Wo ist Oli­ver?« rief der Jude und stand mit dro­hen­der Mie­ne auf. »Wo ist der Laus­bub?«

Die bei­den jun­gen Ta­schen­die­be blick­ten ih­ren Lehr­meis­ter be­tre­ten an, war­fen sich dann einen un­si­chern Blick zu und schwie­gen.

»Also, was is ge­wor­den aus dem Jün­gel?« frag­te der Jude und pack­te den Bal­do­we­rer wü­tend beim Kra­gen. »Eraus da­mit oder ich er­dros­sel euch.«

Es schi­en ihm mit sei­ner Dro­hung fürch­ter­lich ernst zu sein, und Char­ley Ba­tes re­te­rier­te an die Wand, sank dann in die Knie und er­hob ein lau­tes lan­gan­dau­ern­des Ge­heul.

»Also eraus da­mit«, kreisch­te der Jude und schüt­tel­te den ar­men Bal­do­we­rer der­art, dass er fast aus sei­nem Rock her­aus­ge­schleu­dert wur­de.

»No, zum Teu­fel, er­wi­scht ha­ben sie ihn halt«, sag­te der Bal­do­we­rer mür­risch. »Aber jetzt las­sen Sie mich end­lich los.« Da­bei riss er sich mit ei­nem Ruck aus sei­nem wei­ten Kit­tel, den der Jude in den Hän­den be­hielt, er­fass­te die Röst­ga­bel und mach­te einen hef­ti­gen Aus­fall auf die Wes­te des al­ten Phil­an­thro­pen, der, wenn er nicht glück­li­cher­wei­se da­ne­ben ge­gan­gen wäre, böse Fol­gen hät­te nach sich zie­hen kön­nen.

Mit ei­ner Be­hän­dig­keit, die man ihm nicht zu­ge­traut ha­ben wür­de, fuhr der alte Jude zu­rück, pack­te einen Krug und woll­te ihn ge­ra­de dem Bal­do­we­rer an den Kopf wer­fen, als eine tie­fe Stim­me rief:

»Ja, Him­mel Herr­gott Don­ner­wet­ter, was ist denn heut hier los! Wer schmeißt denn da nach mir?« – der Krug hat­te näm­lich einen vier­schrö­ti­gen, un­ge­fähr fünf­und­drei­ßig Jah­re al­ten Mann in ei­nem Sam­t­rock mit wei­ten grau­en Ho­sen, halb­lan­gen Schnürs­tie­feln und grau­en Baum­woll­st­rümp­fen, der eben her­ein­ge­tre­ten war, vor die Brust ge­trof­fen. Der Mann be­saß ein paar wuch­ti­ge Bei­ne, die den un­be­stimm­ten Ein­druck auf den un­be­fan­ge­nen Zuschau­er mach­ten, als fehl­te ir­gend­ein Schmuck dar­an, viel­leicht eine Art Gar­ni­tur von Ge­fäng­nis­ket­ten oder Zucht­haus­fes­seln. Auf dem Kopf trug er einen brau­nen Hut und um den Hals ein schmut­zi­ges bunt­sei­de­nes Tuch, mit des­sen lan­gen aus­ge­fran­s­ten Zip­feln er sich wäh­rend sei­ner Wor­te das Bier, das aus dem Krug ihm ins Ge­sicht ge­spritzt war, ab­wisch­te. Als er da­mit fer­tig war, kam ein brei­tes plum­pes Ge­sicht zum Vor­schein mit ein paar wil­den Au­gen, von de­nen das eine wahr­schein­lich von ei­nem jüngst er­lit­te­nen Schlag gelb und blau war.

»He­rein mit dir, ver­damm­te Bes­tie«, brumm­te die­ser lie­bens­wür­di­ge Gent­le­man über die Schul­ter, und gleich dar­auf schlich sich ein wei­ßer zot­ti­ger Kö­ter mit Biss­nar­ben am gan­zen Kör­per in die Stu­be. »Bi­schen dal­li, ja? ver­damm­tes Vieh; wirst wohl lang­sam zu stolz, um dei­nen Herrn zu re­spek­tie­ren? Kusch dir.«

Der Be­fehl wur­de von ei­nem Fuß­tritt be­glei­tet, der den Hund bis ans an­de­re Stu­ben­eck be­för­der­te, wor­aus sich die­ser aber sich nicht viel zu ma­chen schi­en, denn er zwi­cker­te nur grim­mig mit sei­nen bös drein­bli­cken­den Au­gen und fing an, das Zim­mer zu be­sch­nuf­feln.

»Also, was ist mit dir los? Be­han­delst wohl dei­ne Jun­gens schlecht, al­ter Filz?« brumm­te der Mann und setz­te sich be­dacht­sam nie­der. »Wun­dert mir bloß, dass sie dir nicht längst tot­je­schla­gen ha­ben. Ick an ih­rer Stel­le hätt es längst je­tan. Al­ler­dings, ver­kau­fen hät­te ich dei­ne schä­bi­gen Über­bleib­sel nich kön­nen, höchs­tens dass se dir uf der Ana­to­mie dei­ner Schön­heit we­gen in Spi­ri­tus je­setzt hät­ten.«

»Still, still, Mr. Sikes«, sag­te der Jude zit­ternd, »spre­chen Sie nicht so laut.«

»Ach was ›Mr.‹ – hier wird nicht ge­mis­tert«, knurr­te der Strolch. »Du hast im­mer ne be­son­de­re Je­mein­heit vor, wenn du an­fängst, den Men­schen zu be­mis­tern. Du kennst doch mei­nen Na­men; also kei­ne lan­gen Schmon­zes.«

»Na, also gut: Bill Sikes«, sag­te der Jude de­mü­tig, »Sie schei­nen hei­te nicht gut ge­launt zu sein, Bill.«

»Kommt mir auch so vor«, brumm­te Sikes. »Sie schei­nen üb­ri­gens auch nicht bes­ter Lau­ne zu sein; we­nigs­tens wüss­te ich nicht, wes­halb da sonst hier Bier­krü­ge rum­flie­gen. Sie tun ja rein, als ob schon al­les ans Licht ge­kom­men wäre.«

»Sind Sie toll!« fuhr der Jude auf, pack­te Sikes am Är­mel und deu­te­te auf die bei­den Jun­gen.

Der Strolch be­gnüg­te sich da­mit, sich pan­to­mi­misch einen Strick um den Hals zu le­gen – ein Ge­bär­den­spiel, das der Jude ge­nau zu ver­ste­hen schi­en -, und ver­lang­te dann höchst nach­drück­lich in un­ver­ständ­li­cher Gau­ner­spra­che, man sol­le ihm ein Glas Schnaps kre­den­zen.

»Aber ge­fäl­ligst kein Gift ein­schüt­ten«, setz­te er hin­zu und leg­te sei­nen Hut auf den Tisch.

Er schi­en im Scherz ge­spro­chen zu ha­ben; hät­te er aber den bö­sen Blick ge­se­hen, den der Jude ihm zu­warf, wie er sich an sei­nem Schran­ke um­dreh­te, wür­de er sei­ne War­nung ge­wiss nicht für ganz un­nö­tig ge­hal­ten ha­ben. Nach­dem er so­dann ein paar Glä­ser Schnaps in der Eile hin­ter die Bin­de ge­gos­sen, fing er an, von den bei­den jun­ge Gent­le­men nä­her No­tiz zu neh­men, und ließ sich von ih­nen den Ver­lauf von Oli­vers Ver­haf­tung um­ständ­lich er­klä­ren.

»Ich fürch­te«, jam­mer­te der Jude, »er wird da Sa­chen eraus­plau­schen, die uns in das größ­te Schlam­mas­sel brin­gen kön­nen.«

»Sie schei­nen ja eine Mordsangst zu ha­ben«, höhn­te Sikes mit bos­haf­tem Grin­sen. »Sie sind ja schon halb tot vor Angst, Fa­gin.«

»Se­hen Sie, ich wie­der nicht«, er­wi­der­te der Jude, »ich fürcht bloß, dass noch ganz an­de­re Lein­te als ich in den Saft er­ein­kom­men, lie­ber Freind.«

Der Strolch stutz­te und fuhr auf. Der alte Herr hat­te je­doch sei­ne Schul­tern bis zu den Ohren her­auf­ge­scho­ben, spiel­te sich auf den Zer­streu­ten und blick­te nur starr an die Wand.

Es trat eine lan­ge Pau­se ein. Je­der ein­zel­ne saß tief in Be­trach­tun­gen ver­sun­ken – so­gar der Hund, der sich bos­haft, sei­ne Schnauz­haa­re le­ckend, nach­zu­grü­beln schi­en, wem er wohl zu­erst an die Bei­ne fah­ren dürf­te. »Wir müs­sen er­aus­bal­do­wern, was bei der Po­li­zei vor­ge­gan­gen ist«, sag­te Mr. Sikes viel lei­ser, als er bis­her ge­spro­chen.

Der Jude nick­te bei­stim­mend. »Wenn er nicht ge­schwätzt hat und ein­ge­sperrt ist, ists wei­ter nicht ge­fähr­lich, bis er wie­der drau­ßen ist«, sag­te Mr. Sikes, »aber dann müs­sen wir ihn so­fort zu pa­cken krie­gen. So oder so.«

Der Jude nick­te.

Der Rat war of­fen­bar gut, nur die Aus­füh­rung schi­en schwie­rig, da sie alle vier eine un­über­wind­li­che Ab­nei­gung an den Tag leg­ten, sich in die Nähe der Po­li­zei­wach­stu­be zu be­ge­ben. Ver­le­gen blick­ten sie ein­an­der an, da tra­ten die bei­den jun­gen Da­men ein, de­ren Be­kannt­schaft Oli­ver vor ei­ni­gen Ta­gen ge­macht hat­te. »Nu also da ha­mersch ja«, sag­te der Jude. »Betsey wird hin­gehn. Was mei­nen Sie dazu, Betsey?«

»Wo denn hin?« frag­te die jun­ge Dame.

»Ih­nen ge­sagt, bloß ä bis­sel auf der Po­li­zei«, schmei­chel­te der Jude.

Die jun­ge Dame war zu fein­füh­lend, um die Bit­te di­rekt ab­zu­schla­gen, son­dern brumm­te nur, sie wol­le lie­ber ver­dammt sein, als so einen Blöd­sinn zu be­ge­hen.

Der Jude ließ den Kopf hän­gen, dann wen­de­te er sich zu der an­de­ren jun­gen Dame, die sehr flott, um nicht zu sa­gen auf­fäl­lig an­ge­zo­gen war und einen ro­ten Rock und grü­ne Stie­fel, so­wie gel­be falsche Lo­cken trug.

»Nan­cy­le­ben«, sag­te er ein­dring­lich, »nu was is, was mei­nen Sie dazu?«

»Es jeht ein­fach nich, es ist dum­mes Zeug; wozu lan­ge rum­quat­schen, Fa­gin«, ant­wor­tet Nan­cy.

»Was soll das hei­ßen«, frag­te Mr. Sikes und blick­te mür­risch auf.

»Genau was ich sage, Bill«, er­wi­der­te die jun­ge Dame ge­fasst.

»Gera­de du könn­test so was am bes­ten ma­chen«, hielt ihr Mr. Sikes vor, »ge­ra­de hier im Distrikt kennt dich kein Mensch.«

»Gera­de des­we­gen, weil mir nie­mand kennt, hab ik kee­ne Lust, mir durch­sich­tig zu ma­chen«, ant­wor­te­te Nan­cy cha­rak­ter­stark. »Wenn ik mal sage: ›ne‹, kannst de dir drauf ver­las­sen, dass ik bei die­ser Mei­nung blei­be, Bill.«

»Sie wird ge­hen, Fa­gin«, sag­te Mr. Sikes kühn.

»Ne – wird se nich, Fa­gin«, sag­te Nan­cy.

»Ja­wohl, sie wird ge­hen, Fa­gin«, be­harr­te Sikes auf sei­ner An­sicht.

Und Mr. Sikes be­hielt recht. Durch Dro­hun­gen, al­ler­lei Ver­spre­chun­gen und Geld wur­de schließ­lich die jun­ge Dame über­re­det, den Auf­trag zu über­neh­men; al­ler­dings lief sie we­ni­ger Ge­fahr als ihre lieb­rei­zen­de Kol­le­gin, denn sie war erst vor kur­z­em nach der ein we­nig ab­ge­leg­nen, aber nichts­de­sto­we­ni­ger vor­neh­men Vor­stadt Rat­clif­fe in der Nähe von Field Lane über­sie­delt und brauch­te da­her nicht zu be­fürch­ten, ir­gend­ei­nem un­lieb­sa­men Be­kann­ten zu be­geg­nen.

Nach­dem sie sich eine wei­ße Schür­ze über ihr Kleid ge­bun­den und die falschen Lo­cken un­ter ei­nem Stroh­hut glück­lich ver­staut hat­te – zwei Gar­de­ro­be­stücke, mit de­nen sie sich aus der un­er­schöpf­li­chen Schatz­kam­mer des Ju­den ver­sorg­te -, traf sie An­stal­ten, den über­nom­me­nen Auf­trag aus­zu­füh­ren.

»War­ten Se noch e bis­sel«, sag­te der Jude und brach­te einen klei­nen De­ckel­korb her­bei­ge­schleppt, »tra­gen se das da in der Hand, es sieht an­stän­di­ger aus, mein Kind.«

»Ei­nen Haus­schlüs­sel könn­ten Sie ihr auch noch ge­ben, – den kann sie in der an­de­ren Hand hal­ten«, riet Sikes, »so was macht sich un­ge­mein so­lid.«

»Ich soll so le­ben«, rief der Jude ent­zückt und hing der jun­gen Dame rasch einen Haus­schlüs­sel an den Zei­ge­fin­ger. »Gott, wie Ih­nen das fein steht, mein Kind«, ju­bel­te er und rieb sich be­geis­tert die Hän­de.

»O Gott, o Gott, mein ar­mer sü­ßer klei­ner Bru­der«, rief Nan­cy, brach so­fort in Trä­nen aus und um­krampf­te den klei­nen De­ckel­korb und den Haus­schlüs­sel mit den Hän­den. »Wo ist er nur hin­ge­kom­men, wo ha­ben Sie ihn hin­ge­bracht, ach, ha­ben Sie doch Mit­leid und sa­gen Sie mir, Euer Gna­den, was Sie mit dem ar­men Jun­gen ge­macht ha­ben, bit­te, bit­te.«

Nach­dem Nan­cy zum größ­ten Ent­zücken den An­we­sen­den die­se Rol­le tiefs­ten in­ne­ren Wehs vor­ge­mimt, nick­te sie den Her­ren lä­chelnd zu und lief hin­aus.

»Hi­hi­hi«, lach­te der Jude, »is das e ge­schei­te Schick­se.« Dann wen­de­te er sich sei­nen jun­gen Freun­den zu, schüt­tel­te ge­wich­tig das Haupt und er­mahn­te sie stumm, die­ses leuch­ten­den Bei­spiels ein­ge­denk zu sein.

»Sie ist eine Ehre ih­res Ge­schlech­tes«, sag­te Mr. Sikes, füll­te sein Glas und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Auf ihr Wohl. Ich woll­te, sie wä­ren alle so wie die.«

In­zwi­schen hat­te die jun­ge Dame be­reits ein hüb­sches Stück Wegs zum Po­li­zei­amt zu­rück­ge­legt und lang­te bald dar­auf, al­ler­dings mit ei­ner ge­wis­sen na­tür­li­chen Be­fan­gen­heit, die sich aus dem Um­stan­de er­klär­te, dass sie al­lein und schutz­los durch die Stra­ßen ge­gan­gen, an ih­rem Zie­le an. Durch das Hin­ter­tor ein­tre­tend, klopf­te sie lei­se mit ih­rem Haus­schlüs­sel an eine Zel­len­tür und horch­te. Als sich nichts hö­ren ließ, hüs­tel­te sie und lausch­te dann wie­der. Da im­mer noch kei­ne Ant­wort er­folg­te, rief sie end­lich:

»Nol­ly, lie­ber Kle­ner, Nol­ly, hörst de nich?«

Es war aber nie­mand drin als ein ar­mer Strolch ohne Schu­he, den man ver­haf­tet hat­te, weil er öf­fent­lich die Flö­te ge­bla­sen und jetzt von Mr. Fang we­gen die­ses Ver­sto­ßes ge­gen die öf­fent­li­che Ord­nung zu ei­nem vier­wö­chent­li­chen Auf­ent­halt in der Bes­se­rungs­an­stalt ge­won­nen wor­den war. Der Treff­li­che hat­te bei Fäl­lung des Ur­teilss­pru­ches den be­leh­ren­den Auss­pruch ge­tan, der Kerl kön­ne, wenn er so viel Atem habe, sei­ne Kräf­te am bes­ten in der Tret­müh­le ver­wen­den. Der Strolch war jetzt in­ner­lich da­mit be­schäf­tigt, den Ver­lust sei­ner Flö­te zu be­kla­gen, die man zu­guns­ten des Kri­mi­nal­mu­se­ums mit Be­schlag be­legt hat­te. Nan­cy ging zur nächs­ten Zel­le und klopf­te dort.

»Ja? Was ist?« rief eine schwa­che Stim­me.

»Is ’n kle­ner Jun­ge drin?« frag­te Nan­cy mit ei­nem ein­lei­ten­den Seuf­zer.

»I wo«, ant­wor­te­te die Stim­me, »Jott be­wah­re.«

Sie ge­hör­te ei­nem Land­strei­cher von un­ge­fähr fünf­und­vier­zig Jah­ren an, den man ins Ge­fäng­nis ge­steckt hat­te, wahr­schein­lich, weil er nicht die Flö­te ge­bla­sen und über­haupt al­les ver­säumt hat­te, was zur Er­wer­bung sei­nes Le­bens­un­ter­halts von Vor­teil ge­we­sen wäre. In der Zel­le ne­ben­an saß wie­der ein Mensch, der eben­falls ein­ge­sperrt wer­den soll­te, weil er ohne Hau­sier­schein mit Blech­pfan­nen hau­siert hat­te, also doch et­was zur Er­wer­bung sei­nes Le­bens­un­ter­hal­tes ge­tan hat­te, al­ler­dings ohne die Steu­er­be­hör­de da­bei ge­nü­gend zu be­rück­sich­ti­gen.

Бесплатный фрагмент закончился.

95,30 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
536 стр. 27 иллюстраций
ISBN:
9783943466706
Переводчик:
Художник:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают