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Die oben berichteten und erläuterten komorbiden Störungen treten zumeist gleichzeitig mit der ADHS erstmals auf. Man kann also nicht davon ausgehen, dass die ADHS-Symptome bewirken, dass sich diese weiteren Störungen entwickeln. Daneben kann es jedoch auch dazu kommen, dass zunächst eine ADHS und im späteren Verlauf weitere Störungen auftreten. Dies spielt besonders bei der ADHS des Erwachsenenalters eine Rolle (→ Kapitel 10).

Erfolgt die ADHS-Diagnose beispielsweise nicht frühzeitig und wird die ADHS nicht behandelt, können Anpassungs- und Kompensationsprozesse an die ADHS zu einer Ausprägung weiterer Störungen führen.

Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung: Sind die weiteren Symptome im Sinne einer komorbiden Störung zu verstehen, dann ist eine separate Diagnostik und Behandlung dieser komorbiden Störung wichtig. Gehen die komorbiden Symptome jedoch mit der ADHS einher, so ist eine primäre Behandlung der ADHS wichtig und sollte im Fokus stehen. Wird hier die (primäre) ADHS behandelt, verschwinden in den meisten Fällen mit der Zeit auch die komorbid auftretenden Symptome.

3.5 Komorbide Störungen im Erwachsenenalter

Folgende komorbide Störungen können bei Erwachsenen mit ADHS auftreten:

Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit,

Persönlichkeitsstörungen (z. B. dissoziale, impulsive oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen),

Affektive Störungen (z. B. bipolare Störung),

Angststörungen,

Tic-Störungen,

Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie, Dyskalkulie),

Schlafstörungen.

Tatsächlich ist bei Erwachsenen mit ADHS die Prävalenzrate für Alkohol- und Drogenmissbrauch drei- bis vierfach höher als im Vergleich zu Erwachsenen ohne ADHS. Auch dissoziale Persönlichkeitsstörungen treten vermehrt auf. Patienten mit komorbiden Störungen des Sozialverhaltens bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörungen haben ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Suchterkrankungen. Studien zur Prävalenz affektiver Störungen ergeben heterogene Ergebnisse (Krause / Krause 2005; Konrad / Günther 2007; Milberger et al. 1995). In Bezug auf das Auftreten von Angsterkrankungen scheint eine erhöhte Prävalenz zu bestehen. Weiterhin ist die subjektive Schlafqualität häufig vermindert (s. Exkurs zum Schlafverhalten bei Erwachsenen und bei Kindern mit ADHS → im Kapitel 10).


Exekutive Funktionen bei Erwachsenen mit ADHS und mit oder ohne komorbiden Störungen (Rohlf et al. 2012)

In einer eigenen Studie haben wir untersucht, ob exekutive Funktionsdefizite (→ Kapitel 8) von erwachsenen Patienten mit ADHS auf die ADHS oder auf komorbide Störungen zurückzuführen sind. Dazu haben wir folgende Gruppen verglichen: 18 Erwachsene mit ADHS-Mischtypus und weiteren komorbiden Störungen (ADHS+), 19 Erwachsene mit ADHS-Mischtypus ohne weitere komorbide Störungen (ADHS-) und 32 Erwachsene ohne ADHS. Die Ergebnisse zeigen signifikante Unterschiede zwischen Erwachsenen mit und ohne ADHS in den exekutiven Funktionen Shifting (d. h. Wechsel zwischen Aufgaben) und Arbeitsgedächtnis. Dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen ADHS+ und ADHS- gab, spricht dafür, dass die ADHS und nicht die jeweilige komorbide Störung für die Defizite in den exekutiven Funktionsaufgaben verantwortlich ist. Zudem entspricht die Verteilung der komorbiden Störungen in der Gruppe ADHS+ den zu erwartenden Komorbiditäten im Erwachsenenalter: Sechs Patienten litten unter Depressionen, vier Patienten unter Angststörungen, sieben Patienten zeigten Substanzmissbrauch (z. B. Alkoholabhängigkeit oder Cannabisabhängigkeit) und zehn Patienten hatten die Zusatzdiagnose Persönlichkeitsstörung (z. B. antisoziale, schizoide Persönlichkeitsstörung).


Die ADHS ist ein Störungsbild, welches häufig durch das Auftreten weiterer Störungen gekennzeichnet ist. Aktuelle Studien zeigen, dass bestimmte Profile exekutiver Funktionen typisch bzw. charakteristisch für die ADHS sind.


Freitag / Retz (2007): ADHS und komorbide Erkrankungen: Neurobiologische Grundlagen und diagnostisch-therapeutische Praxis bei Kindern und Erwachsenen.


Vertiefungsfragen

7. Warum sind komorbide Störungen bei der ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter problematisch?

8. Kann pauschal festgestellt werden, dass Kinder mit ADHS häufig komorbid an spezifischen Störungstypen leiden?

9. Welche verschiedenen Charakteristika komorbider Störungen sind bei Kindern einer klinischen Stichprobe oder einer Feldstichprobe zu erwarten?

4 Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen und von einer alterstypischen Entwicklung

Neben komorbiden Störungen, also Störungen, die tatsächlich zusätzlich zu einer ADHS vorliegen, muss die ADHS von anderen Störungen abgegrenzt werden, zu denen sie eine große Ähnlichkeit hat. Weiterhin muss bei einer Diagnose vor allem bei jüngeren Kindern immer bedacht werden, dass es sich statt um eine ADHS auch um eine alterstypische Entwicklung handeln kann. Zudem muss Aufmerksamkeit als eine Fähigkeit angesehen werden, die bei jedem Menschen hin und wieder eingeschränkt sein kann. Nur wenn diese Einschränkungen chronisch, über längere Zeiträume hinweg, konsistent in verschiedenen Lebensbereichen auftreten und dabei psychisches Leiden verursachen (→ Kapitel 2), ist eine ADHS-Diagnose gerechtfertigt.

4.1 Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen

4.1.1 Differentialdiagnosen im Kindesalter

Im Kindesalter muss die ADHS abgegrenzt werden von:

tiefgreifenden Entwicklungsstörungen,

Störungen des Sozialverhaltens, die sich in lang anhaltenden und ausgeprägten Formen der Dissozialität zeigen,

Anfallskrankheiten, also Epilepsien,

Anpassungsreaktionen auf außerordentlich belastende familiäre Verhältnisse oder schulische Überforderung,

emotionalen Störungen wie die agitierte Depression, bei welcher die Kinder depressive Verstimmungen durch aggressives und hyperaktives Ausagieren ausdrücken,

emotionalen Störungen wie Depressionen und Angststörungen.

Mit der Einführung des DSM-5 sind Autismus-Spektrum-Störungen kein Ausschlusskriterium mehr für eine ADHS Diagnose.

4.1.2 Differentialdiagnosen im Erwachsenenalter

Die ADHS im Erwachsenenalter muss vor allen Dingen von den folgenden Störungen und Erkrankungen differentialdiagnostisch abgegrenzt werden:

internistische und neurologische Grunderkrankungen (z. B. Schilddrüsenerkrankungen),

Medikamentöse Behandlungen, die als Ursache der Beschwerden angesehen werden können (z. B. mit Antihistaminika, Theophyllin),

Gebrauch psychotroper Substanzen.

Im Erwachsenenalter ist es ganz und gar nicht untypisch, dass Patienten aufgrund einer anderen Störung als der ADHS behandelt werden – obwohl sie in Wirklichkeit ADHS haben. Folgende Störungen müssen somit in Betracht gezogen werden. Diese können ebenfalls von differentialdiagnostischer Bedeutung sein (oder als zusätzliche komorbide Störungen vorkommen):

Substanzmissbrauch, -abhängigkeit,

Persönlichkeitsstörungen (z. B. dissoziale, impulsive bzw. emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen),

Affektive Störungen (z. B. bipolare Störung),

Angststörungen,

Tic-Störungen,

Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie, Dyskalkulie),

Schlafstörungen.

Was ist eigentlich Aufmerksamkeit und was sind Aufmerksamkeitsdefizite?

Die ADHS ist unter anderem eine Störung der Aufmerksamkeit – doch was ist Aufmerksamkeit eigentlich und haben nicht alle Menschen hin und wieder Schwierigkeiten ihre Konzentration und Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum hinweg (und sei es nur über die Dauer einer Vorlesung oder eines Vortrages) aufrecht zu erhalten?

“Everyone knows what attention is”, stellte William James (1890, 403) fest. In der weiterführenden Definition legte James Aspekte der Aufmerksamkeit dar, die noch heute in gängigen psychologischen Definitionen dieses Konstrukts eine große Rolle spielen: Aufmerksamkeit dient der Auswahl bzw. Selektion bestimmter Informationen mit dem Ziel, uns diese Informationen zugänglich zu machen. Dabei werden andere, interferierende Informationen ignoriert – die ausgewählten Informationen dienen uns als Grundlage für weitere Handlungen. Als Beispiel zur Erläuterung dieser Selektion und Handlungsrelevanz als Hauptfunktionen der Aufmerksamkeit wird häufig das Cocktailparty-Phänomen herangezogen: Stellen Sie sich vor, Sie besuchen eine Cocktailparty. Wie bei solchen Partys üblich, sammeln sich Grüppchen von Besuchern an Tischen, im Raum, an der Bar und in jeder dieser Grüppchen findet eine Unterhaltung statt. Vermutlich läuft auch noch Musik, d. h. die Geräuschkulisse ist äußerst komplex. Mit großer Sicherheit werden Sie sich hauptsächlich auf die Gespräche in Ihrer Gruppe konzentrieren, um dem Gesprächsfaden folgen zu können. Erwähnt nun aber jemand in einer der anderen Grüppchen Ihren Namen, werden Sie (vorausgesetzt Sie können dies akustisch wahrnehmen) Ihre Aufmerksamkeit in den nächsten Minuten wahrscheinlich komplett zu dieser Gruppe richten, um zu erfahren, was dort über Sie gesprochen wird. Das nennt man das Cocktailparty-Phänomen, welches eindrücklich beschreibt, wie selektive Aufmerksamkeit funktioniert.

Aufmerksamkeit hat also die Funktion, Informationen auszuwählen, die dann handlungsrelevant werden – Sie hören Ihren Namen (wählen also diese Information aus) und entscheiden sich im Anschluss, nicht mehr dem Gespräch in Ihrer Gruppe, sondern dem Gespräch im Nachbargrüppchen zu folgen.

Dieser Prozess kann bewusst oder unbewusst ablaufen und hat bei allen Menschen begrenzte Kapazitäten. Vermutlich ist diese Schwelle, bis zu welcher aus Informationen die richtigen selektiert werden, die zum Handeln führen, bei Patienten mit ADHS geringer. Dies spiegelt sich auch in den Erkenntnissen zu exekutiven Funktionen und der ADHS wider (→ Kapitel 8). ADHS-Betroffene zeigen zum Beispiel große Defizite in Aufgaben der Erfassung von Reaktionshemmung. Sie haben also Schwierigkeiten damit, auf bestimmte Reize zu reagieren, aber die Reaktion auf andere Reize willentlich zu unterdrücken. Diese Aufgaben dienen zur Erfassung der Aufmerksamkeit, da auch hier die Anforderung besteht, relevante Informationen von nicht relevanten Informationen zu unterscheiden und die relevanten Informationen für die folgende Handlung zu nutzen. Auch Menschen ohne ADHS können Schwierigkeiten mit solchen Aufgaben haben, zum Beispiel dann, wenn sie unausgeschlafen und müde sind, gerade eine starke kognitive Belastung hinter sich haben (z. B. gerade eine anstrengende Klausur geschrieben haben) oder kein Interesse mehr an der Aufgabe haben, weil diese zu lange dauert.


Aufmerksamkeit ist generell eine begrenzte Ressource – Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS können schlechter als andere Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf diese Ressource zurückgreifen.

4.2 Abgrenzung der ADHS von einer alterstypischen Entwicklung

Bei der Diagnosestellung der ADHS wird gefordert, dass die Störung „in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenem Ausmaß“ vorhanden ist. Dies macht die Beurteilung durch einen Diagnostiker natürlich schwierig, weil einerseits nicht nur das Verhalten des Kindes an sich, sondern auch der Kontext dieser Verhaltensweisen erfasst und beobachtet werden muss. Dies bedeutet somit auch, dass in der Diagnostik ganz genau untersucht werden sollte, ob die störenden Verhaltensweisen, die das Kind zeigt, tatsächlich abweichend von einer alterstypischen Entwicklung sind.

Vor dem Eintritt in die Grundschule ist es aus diesem Grund besonders schwierig, eine ADHS-Diagnose zu stellen: Mit einer recht großen Wahrscheinlichkeit können die störenden Verhaltensweisen mit dem Eintritt in die Grundschule, welcher in den meisten Ländern mit einem Alter von fünf bis sechs Jahren passiert, verschwinden. Jedoch sollten Kinder, die im Vorschulalter bereits sehr große ADHS-typische Schwierigkeiten zeigen, so früh wie möglich therapeutisch unterstützt werden. Dieses Dilemma – auf der einen Seite kann die ADHS im Vorschulalter eine alterstypische Reifung darstellen, die einfaches Abwarten erfordert und auf der anderen Seite sollten Kinder mit ADHS möglichst früh behandelt werden – kann nur durch eine umfangreiche und ausführliche Diagnostik aufgelöst werden (→ Kapitel 11). Im Rahmen dieser Diagnostik sollte das Verhalten des betroffenen Kindes mit dem Verhalten anderer Kinder in seiner Kindergartengruppe verglichen werden.

4.2.1 Der Einfluss des relativen Lebensalters

Aktuelle Analysen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine ADHS-Diagnose zu erhalten, vom relativen Lebensalter der Kinder abhängt. In umfassenden Analysen von Daten zur Einschulung, zum Alter und zu einer möglichen ADHS-Diagnose von Kindern wurde festgestellt, dass die Kinder, die in ihrer jeweiligen Klasse die jüngeren Kinder sind, eine größere Wahrscheinlichkeit haben, ADHS diagnostiziert zu bekommen. Dies bedeutet also, dass Kinder, deren Lebensalter jünger ist als das ihrer Klassenkameraden, in diesem Gefüge stärker dahingehend mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität auffallen, dass sie letztlich eine diagnostische Untersuchung erhalten, welche die Diagnose ADHS bestätigt. Eine Analyse gibt Hinweise darauf, dass dies auf Initiative der jeweiligen Lehrer und nicht der Eltern geschieht. Wichtig ist jedoch, dass dieses Phänomen in den ersten drei Grundschuljahren am stärksten zu beobachten ist. Danach verschwindet der Einfluss des relativen Lebensalters auf die ADHS-Diagnose, was bedeutet, dass es nach dieser Zeit eher irrelevant ist, ob ein Schüler im Vergleich zu den anderen in der Schulklasse relativ jünger ist.


Studien zur Bedeutung des relativen Lebensalters auf ADHS- Diagnose

In den letzten Jahren haben sich vor allem Wirtschaftswissenschaftler mit der Frage des Einflusses des relativen Lebensalters von Kindern auf das Erstellen einer ADHS-Diagnose beschäftigt. Zwei beispielhafte Studien sollen hier berichtet werden. Die Studie von Elder (2010) bedient sich den Daten einer großen Paneluntersuchung. In der Early Childhood Longitudinal Study-Kindergarten Cohort (ECLS-K) des National Center for Education Statistics der USA wurden Eltern- und Lehrerratings zu ADHS-Symptomen, ADHS-Diagnosen und ADHS-Therapien mit MPH erhoben. In die Befragung wurden zu Beginn 18.644 Kindergartenkinder aus über 1.000 Kindergärten im letzten Jahr vor der Einschulung einbezogen. Die erste Befragung fand im Herbst des letzten Kindergartenjahres 1998–1999 statt; im Frühjahr 1999, im Herbst und Frühjahr des Schuljahres 1999–2000 (die meisten Kinder waren in der 1. Klasse), im Frühjahr 2002 (3. Klasse), 2004 (5. Klasse) und 2007 (8. Klasse) fanden weitere Befragungen statt. Zu jedem Zeitpunkt wurden Daten von den Kindern, Eltern und Lehrern erfasst. In dieser Studie wurde festgestellt, dass das relative Lebensalter von Kindern einen starken Einfluss darauf hat, ob Lehrer bei diesen Kindern ADHS-Symptome wahrnehmen oder nicht. Konkret bedeutet dies: Bei Kindern, die im Vergleich zu ihren Klassenkameraden jünger sind (also in einem jüngeren Alter eingeschult worden sind als die anderen Kinder in der Schulklasse) wird von den Lehrern häufiger als bei anderen Kindern ADHS-Verhalten festgestellt. Diesen Effekt gibt es nicht bezüglich der Elternratings: Die Einschätzung des ADHS-Verhaltens durch die Eltern ist also nicht vom relativen Lebensalter abhängig. In dieser Studie hat das relative Lebensalter einen langfristigen Effekt: Die jüngsten Kinder in den Klassen 5 und 8 nehmen doppelt so häufig wie ihre Klassenkameraden MPH zur Behandlung von ADHS ein. Die Ergebnisse dieser Analyse sind unabhängig vom sozioökonomischen und Migrationshintergrund der Kinder.

Evans, Morrill und Parente (2010) führten eine weitere Analyse durch, in die sie Daten verschiedener großer, amerikaweiter Untersuchungen einbezogen (National Health Interview Survey, Medical Expenditure Panel Survey, Daten einer privaten Krankenversicherung). In allen drei Stichproben stellten die Autoren fest, dass Kinder, deren 5. Geburtstag nach dem cut-off Termin für den Schuleingang ist (und die aus diesem Grund bei der Einschulung etwas älter sind als ihre Klassenkameraden) signifikant seltener mit ADHS diagnostiziert werden und auch seltener aufgrund einer ADHS behandelt werden. Der Einfluss des relativen Lebensalters auf eine ADHS-Diagnose konnte also nochmals bestätigt werden.

Die Studien zum Zusammenhang des relativen Lebensalters und der ADHS-Diagnose können jedoch keine Aussagen darüber machen, ob ein Kind, welches erst ein Jahr später eingeschult (also die Einschulung „zurückgestellt“) wird, eine geringere Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Diagnose hat, als wenn es früher eingeschult wird. Eine bedeutende Schlussfolgerung lässt sich jedoch vor allem aus der Studie von Elder (2010) ziehen: Da anscheinend vor allem Lehrer geneigt sind, bei Kindern, die im Vergleich zu ihren Schulkameraden jünger sind, eine ADHS zu vermuten, sollte die ADHS-Diagnostik so differenziert wie möglich sein. Nicht nur eine Einschätzung der Lehrer, sondern auch der Eltern und „objektiver“ Beobachter ist notwendig (→ Kapitel 11).


Vertiefungsfragen

10. Was kennzeichnet typische und beeinträchtigte Aufmerksamkeitsprozesse?

11. Wie sollte ein Diagnostiker mit dem Dilemma umgehen, dass ADHS möglichst früh festgestellt und behandelt werden sollte – aber gleichzeitig auch Ausdruck einer alterstypischen Entwicklung sein könnte?

12. Welchen Einfluss hat das relative Lebensalter auf eine ADHS-Diagnose?

5 Häufigkeit der ADHS

Wie oft tritt ADHS auf? Gibt es Unterschiede der Auftretenswahrscheinlichkeit in verschiedenen Ländern, d. h. gibt es ADHS zum Beispiel in Deutschland häufiger als in den USA? Diese und weitere Fragen sollen in diesem Kapitel behandelt werden (Tab. 5.1).


Ergebnisse zur ADHS aus den KiGGS-Studien

Die KiGGS-Studien sind große, umfassende Studien des Robert-Koch-Instituts, die Fragen zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland erforschen. An einer ersten Studie aus den Jahren 2003–2006 nahmen 17.641 Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 17 Jahren zusammen mit ihren Eltern teil. Somit konnten erstmals deutschlandweit aktuelle und aussagekräftige Daten zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen gesammelt werden. Neben Daten zum physischen Gesundheitszustand (z. B. körperliche Verfassung der Kinder und Jugendlichen) wurden umfangreiche Daten zur psychischen Gesundheit erhoben und ausgewertet.

Tab. 5.1: Weltweite Prävalenzraten der ADHS


QuellePrävalenzLandAnmerkungen
5,29 %weltweitsystematisches Review, gepoolte Prävalenz
1,51 %USAältere Jugendliche, DSM-III-R
4,19 % (Jungen), 1,77 % (Mädchen)USAim Rahmen des National Health Interview Survey
8,7 %USAim Rahmen des National Health and Nutrition Examination Surveys
8,0 %Puerto Rico
2,23 %UKim Rahmen des British Child and Adolescent Mental Health Survey
1,3 %; 1,4 %Russland; UKnach ICD-10
4,8 %Deutschlandim Rahmen der KiGGS
7,5 %Australienrepräsentative Stichprobe
5,8 %BrasilienSchulstichprobe
8,5 %FinnlandGeburtenkohorte, jugendlich
4,4 %USAErwachsene, National Comorbidity Survey Replication
4,1 %1,9 %7,3 %3,1 %2,8 %1,8 %1,9 %5,0 %1,2 %5,2 %BelgienKolumbienFrankreichDeutschlandItalienLibanonMexikoNiederlandeSpanienUSAErwachsene, im Rahmen der World Health Organization World Mental Health Survey Initiative
2,5 %Erwachsene, Meta-Analyse, gepoolte Prävalenz

5.1 Aktuelle deutsche Daten zur Häufigkeit von ADHS

4,8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben laut der KiGGS-Studie eine von einem Psychologen diagnostizierte ADHS (Huss et al. 2008; Schlack et al. 2007). Die Prävalenz beträgt 1,5 % im Vorschulalter, 5,3 % im Grundschulalter, 7,1 % bei den 11–13-Jährigen und 5,6 % bei den 14–17-Jährigen. Somit belegen die Daten einen starken Ansprung der diagnostizieren Fälle vom Vor- zum Grundschulalter. Mit dem Eintritt in die Grundschule wird die ADHS häufiger diagnostiziert. Aus diesem Grund ist also die ADHS eine Störung, welche Lehrern bekannt sein sollte: Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass sie im Laufe ihres Schulalltags auf Kinder mit ADHS treffen.

Sozioökonomischer Status

ADHS wird weiterhin laut der KiGGS-Studie häufiger bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status im Vergleich zu Familien mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status diagnostiziert. Es ist nicht geklärt, ob ADHS tatsächlich in Familien mit niedrigem soziökonomischen Status häufiger vorkommt oder nicht. Einerseits ist es bei einer stark erblichen Störung wie der ADHS wahrscheinlich, dass Väter und Mütter, die selbst unter ADHS-Symptomen leiden, Probleme in Schule, Ausbildung, Beruf und somit geringere Aufstiegschancen im Job hatten, als Väter und Mütter, die keine ADHS hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder ebenfalls ADHS haben, steigt und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der soziökonomische Status dieser Familien niedriger ist. Andererseits gibt es keine empirischen Studien, die belegen, dass ADHS mit einem bestimmten sozioökonomischen Status gekoppelt ist. Andererseits könnte man vermuten, dass positive Merkmale der ADHS (wie z. B. Kreativität), sofern diese zum Erscheinen gebracht werden, zu Erfolg führen könnten.

Migrationshintergrund

Die KiGGS-Studie zeigt auch, dass Familien mit Migrationshintergrund seltener über eine ADHS-Diagnose als Familien ohne Migrationshintergrund berichten. Jedoch gibt es mehr ADHS-Verdachtsfälle bei Familien mit als ohne Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund häufiger bezüglich der ADHS-Symptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) auffällig werden (z. B. im Kindergarten und / oder der Schule), aber seltener Beratung, Diagnostik oder Interventionen in Anspruch nehmen. Lehrer sollten also Familien mit Migrationshintergrund genauer im Blick haben, um diese ggf. auf entsprechende Einrichtungen (z. B. Beratungsstellen, Beratungsstellen speziell für Familien mit bestimmten kulturellen Hintergründen) hinzuweisen.

Wohnort

Die KiGGS-Studie fand keine weiteren Unterschiede der Häufigkeit der ADHS-Diagnose zwischen den Wohnorten. Es werden also nicht häufiger ADHS-Diagnosen in Ost- oder in Westdeutschland ausgesprochen; ebensowenig macht es einen Unterschied für das Auftreten der ADHS, ob Kinder in kleinen oder großen Städten aufwachsen.

5.2 Vergleich der Prävalenz der ADHS in Deutschland und in anderen Ländern

„The worldwide prevalence of ADHD: Is it an American condition?“ – „Die weltweite Prävalenz von ADHS: Ist es eine amerikanische Störung?“ betiteln Faraone und Kollegen einen Artikel aus dem Jahr 2003. Für ihre Meta-Analyse haben sie in einer medizinisch-wissenschaftlichen Datenbank 50 Artikel identifiziert, die zwischen den Jahren 1982 und 2001 die Begriffe „ ADHD“, „ADD“, „HKD“, oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung und „Prävalenz“ gekoppelt verwenden. 20 dieser Studien stammten aus den USA, 30 wurden außerhalb der USA durchgeführt. Eine genauere Durchsicht dieser Artikel ergab, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von ADHS bei amerikanischen und nicht-amerikanischen Kindern gleich hoch ist. ADHS ist also keine typisch amerikanische Störung.

Zudem zeigte die Auswertung, dass die Auftretensraten der ADHS am höchsten sind, wenn zur Diagnose DSM-IV- im Vergleich zu ICD-10-Kriterien angelegt werden. Dieser Unterschied rührt daher, dass die ICD strenge Vorgaben darüber macht, ob ein Kind Symptome in allen drei Dimensionen (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität), davon einige zu Hause als auch in der Schule zeigen muss. Die ICD schließt zudem Kinder mit komorbiden Störungen aus. Das DSM hingegen ist offener: Es ist möglich, Kinder mit ADHS zu diagnostizieren, die nur Auffälligkeiten in einem Bereich zeigen (z. B. nur Unaufmerksamkeit) und an weiteren Störungen leiden.

Auch in anderen, aktuellen Untersuchungen konnte bestätigt werden, dass ADHS kein Nebenprodukt der amerikanischen Kultur ist. In einer weiteren Metaanalyse, die durch Polanczyk und Rohde (2007) durchgeführt wurde, zeigte sich das folgende Bild: Die Auftretenswahrscheinlichkeit der ADHS in Nordamerika übersteigt mit 6,2 % nur knapp die Rate, die in europäischen Ländern gefunden wurde (4,6 %). Die höchsten Raten finden diese Autoren übrigens in Afrika (8,5 %) und Südamerika (11,8 %). Zusammenfassende Analysen einer ADHS-Skala, die in 21 Ländern verwendet wurde, zeigten, dass japanische und finnische Kinder die niedrigsten Werte, jamaikanische und thailändische Kinder die höchsten Werte erzielen und amerikanische Kinder im Mittelfeld liegen.

Methodische Unterschiede

Auch diese Analyse unterstreicht, dass die Auftretensunterschiede für ADHS in Nordamerika vs. Europa auf methodische Unterschiede zurückzuführen sind: Alle amerikanischen Forscher legten in ihren Studien die offeneren DSM-Kriterien an; die meisten europäischen Wissenschaftler jedoch die strengeren ICD-Kriterien. Die Autoren dieser Analyse führen die Abweichungen der ADHS-Prävalenz in verschiedenen Ländern zum Großteil auf diese methodischen Unterschiede zurück.

Letztlich werden jedoch Studien benötigt, welche die Prävalenz der ADHS direkt in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Nur wenige Studien tun dies; diese wenigen Ergebnisse sind zudem äußerst heterogen. Es gibt vielfältige Gründe für die Probleme bei der kulturvergleichenden Erfassung des Auftretens der ADHS:

1. Konfundierung: Häufig sind die Ergebnisse mit spezifischen Aspekten der jeweiligen Kultur, in welcher Untersuchungen durchgeführt wurden, konfundiert, d. h. vermischt. Z. B. wurde in einer Studie die Prävalenz der ADHS bei Kindern, die während der Atomkatastrophe in einem 30 km-Radius um Tschernobyl lebten, im Anschluss nach Kiew evakuiert wurden und nach 10 Jahren immer noch in Kiew lebten, mit der Prävalenz amerikanischer, gleichaltriger Kinder verglichen (Gadow et al. 2000). Diese Studie zeigte eine höhere Auftretensrate der ADHS bei den ukrainischen (19,8 %) im Vergleich zu den amerikanischen Kindern (9,7 %) – jedoch kann nicht geklärt werden, ob diese erhöhte Auftretensrate von Umwelteinflüssen, die nach der Atomkatastrophe eingetreten sind, oder durch die Tatsache, dass alle Kinder der ukrainischen Stichprobe nach Kiew umziehen mussten, verursacht worden ist. Das Ergebnis, dass ukrainische Kinder häufiger an ADHS leiden, ist also konfundiert bzw. vermischt mit den Faktoren, die in den Umwelt- und Lebensbedingungen der ukrainischen Kinder liegen und bei der amerikanischen Vergleichsgruppe nicht aufgetreten sind.

2. Methodenvielfalt: Immer häufiger wurde also in den letzten Jahren versucht, über Meta-Analysen die Prävalenz der ADHS im Ländervergleich zu charakterisieren. Problematisch ist jedoch, dass in den meisten Fällen in den unterschiedlichen Ländern auch unterschiedliche Diagnosemethoden eingesetzt werden. Somit haben wir wiederum mit dem Problem der Kultur-Konfundierung zu kämpfen, gleichzeitig offenbart sich hier noch eine weitere Schwierigkeit: Können wir tatsächlich über dasselbe Störungsbild sprechen, wenn wir verschiedene Methoden zur Erfassung und verschiedene Diagnosesysteme verwenden? Anders gefragt: Ist die in verschiedenen Ländern diagnostizierte ADHS tatsächlich auf dasselbe Störungsbild zurückzuführen? Weitere empirische Forschung der nächsten Jahre wird sicher einen genaueren Einblick in diese Problematik bringen.

5.3 Warum ist die Frage nach der weltweiten Prävalenz der ADHS wichtig?

Aus verschiedenen Gründen erscheint die Erforschung der weltweiten Prävalenz von ADHS wesentlich:

Umweltunabhängigkeit

Dass ADHS anscheinend laut aktueller Forschungsergebnisse weltweit auftritt, spricht dafür, dass es eine Störung ist, die nicht allein durch die Umwelt ausgelöst wird. Eine Veränderung unserer Gesellschaft wird also nicht bewirken können, dass es dann keine ADHS-Kinder mehr gibt. ADHS tritt unabhängig davon auf, ob ein Kind in der westlich-amerikanischen oder europäischen Kultur aufwächst.

Umweltabhängigkeit

Dass es jedoch geringfügige Unterschiede zwischen der Diagnosehäufigkeit der ADHS in verschiedenen Ländern und Kulturen gibt, scheint dafür zu sprechen, dass vor allem für Kinder, die Symptome am Schwellenbereich für eine klinische oder subklinische Störung aufweisen, die ADHS-Diagnose in Abhängigkeit des Landes, in dem sie aufgewachsen sind, gestellt wird.


ADHS ist keine typische amerikanische Störung. ADHS tritt in allen Kulturen auf. Geringere Unterschiede der Prävalenzen in verschiedenen Ländern sind vermutlich auf methodische Unterschiede zurückzuführen – genauere, weitere Studien sind jedoch unabdingbar.


Weitere Informationen zu den KiGGS-Studien: https://www.kiggs-studie.de


Vertiefungsfragen

13. Ist ADHS eine typisch amerikanische Störung?

14. Warum ist die Frage nach der weltweiten Auftretenswahrscheinlichkeit von ADHS von Bedeutung?

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