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Madonna auf dem Scheiterhaufen

»Like a Prayer« befeuerte die Vorstellungswelt meiner Jugend. In diesem Videoclip schwingt die Madonna der Popmusik die Hüften wie eine Gospelsängerin in einem purpurfarbenen Kleid, das weit genug ausgeschnitten ist, sie ins Verderben zu stürzen. Indem sie den brennenden Kreuzen des Ku Klux Klan trotzt, befreit sie einen zu Unrecht eingesperrten schwarzen Christus aus seinem Gefängnis und küsst ihn ungestüm: ein glühendes, beinahe liturgisches Manifest gegen Rassismus. Der religiösen und suprematistischen Rechten galt sie darum als schwarze Bestie.

Das war im Jahr 1989, dem Jahr etlicher Scheiterhaufen, der Rushdie- und der Scorsese-Affäre.9 Christliche Fundamentalisten verurteilten den Film Die letzte Versuchung Christi wegen Gotteslästerung zur Verbrennung. Ein Kino in Saint-Michel mitten in Paris wurde sogar angezündet. »Like a Prayer« wirkte wie ein Feuerball. Der Papst persönlich rief zum Boykott Madonnas auf, entfesselte Katholiken übten Druck auf die Sponsoren der Sängerin aus, Pepsi zog sich aus ihrer Tournee zurück. Madonna machte sich darüber lustig. Wie von einem Heiligenschein aus Schwefel umgeben, lag ihr Hit unangefochten an der Spitze der Charts weltweit. In jener Epoche war man vernarrt in Provokationen, die die Verklemmten ärgerten. Nichts rockte mehr, als zum Scheiterhaufen verurteilt zu werden.

Dreißig Jahre später: andere Schallplatte, andere Epoche. Diesmal steht Madonna nicht mehr auf dem Index der Konservativen wegen Gotteslästerung, sondern auf dem der Fortschrittlichen wegen kultureller Aneignung, und zwar wegen einer verunglückten Hommage an Aretha Franklin während der Verleihung der MTV Awards.

Die Königin des Soul war soeben verstorben. Die Königin des Pop aber betrat die Bühne in einer ausgefallenen Berbertunika, mit silbernem Schmuck und farbigen Armreifen behangen, die Stirn mit blonden Zöpfen geschmückt. Man warf ihr zunächst nicht so sehr ihre Kleidung vor als vielmehr die Art, wie sie über Aretha Franklin und sich selbst gesprochen hat. In einem langen, sehr langen Monolog erzählte sie von ihren Jahren voller Plackerei in Detroit, der Stadt, in der sie aufgewachsen war, ebenso wie Aretha Franklin. Ist es angemessen, die Ghettos zu vergleichen, in denen sie beide gelebt haben, wo es jedoch eine junge Schwarze sicherlich schwerer hatte als eine junge Weiße? Für Madonnas handelte es sich lediglich darum, ihre Gemeinsamkeiten in Erinnerung zu rufen. Doch die Anekdote hatte Folgen.

Nur mit Mühe ließ sich eine Verbindung zwischen ihrer Berberkleidung und den schicken, sehr westlichen Kleidern Aretha Franklins herstellen. Es gab nämlich keine. Es handelte sich einfach um den Zierrat von Madonnas letztem Album, die letzte Laune in Sachen Look. Diesen Look aber, mehr noch die angeblich »afrikanischen« Zöpfe, macht man ihr zum Vorwurf. Man mag sie in ihrem purpurfarbenen Negligé mit Recht sehr aufregend finden, muss man sie jedoch wegen kultureller Aneignung gleich lynchen? Wird man ihr von nun an vorwerfen, dass sie sich von anderen Kulturen inspirieren lässt? Welche Musik täte das nicht?

Kenan Malik, ein englischer Schriftsteller indischer Herkunft, war einer der ersten, die in der kulturellen Aneignung »eine säkularisierte Version der Gotteslästerung« erkannten.10 Er plädiert für eine Vermischung in der Manier Elvis Presleys. Es sei noch gar nicht so lange her, erinnert er uns, dass weiße Radiosender sich weigerten, Stücke der Pioniere des Rock'n'Roll wie Chuck Berry zu spielen, da sie als »ethnisch« klassifiziert wurden. Dann kam der King. Der weiße Rockmusiker hat den Rock demokratisiert und aus dem Ghetto herausgeholt. So ungerecht es auch sein mag, erst indem er sich dieser Musik bediente, machte er schließlich die Leistung schwarzer Rockmusiker bekannt. »Stellen wir uns vor, man hätte es Elvis ausgeredet, sich diese sogenannte schwarze Musik anzueignen. Hätte dies den Rassismus oder die Jim-Crow-Ge-setze11 zurückgedrängt? Gewiss nicht«, hält Malik fest.

Die musikalische Rassentrennung hat niemals auch nur das geringste Vorurteil zurückgedrängt. Im Gegenteil ist es die Mischung, ihrerseits ein Quell der Kreativität, die es gestattet, eine gemeinsame Welt zu komponieren. Ebenso warf man den Rolling Stones vor, das Repertoire der dabei im Schatten bleibenden schwarzen Bluesmusiker geraubt zu haben. Muddy Waters, der zu den »Beraubten« gehört, hat darüber den genialen Satz gesagt: »Sie haben mir meine Musik gestohlen, doch mir meinen Namen gegeben.« Ohne die Stones hätte der Blues die Pforten des Ghettos niemals überwunden. In welcher Welt würden wir leben, wenn der Blues als eine »schwarze Musik« betrachtet und nur von »schwarzen« Radiosendern gespielt worden wäre? Wie sähe der Pop aus, wenn Madonna nicht vom Voguing (einer Bewegung aus der Schwulenszene und den Ghettos der Latinos) oder vom Gospel inspiriert worden wäre? Wenn sie auf ihre Kritiker gehört und sich solchermaßen beschränkt hätte?

Ein Glück für uns, dass Madonna sich darüber lustig machte. »Oh, they can kiss my ass«, erklärte sie gegenüber der Huffington Post: »Ich eigne mir überhaupt nichts an. Ich lasse mich inspirieren und beziehe mich auf andere Kulturen. Das ist mein Recht als Künstlerin. Man sagt, Elvis Presley habe die afroamerikanische Kultur gestohlen. Doch das ist unser Job, wir Künstler müssen die Welt durcheinanderbringen und die Leute irritieren, auf dass sie sich verpflichtet fühlen, alles zu überdenken.« Erfolgreich gesendet.

Madonna kann sich das erlauben. Sie hat ein paar Jahre auf dem Buckel, sie hat die Mittel und zudem eine erfüllte Karriere hinter sich. Welche junge Sängerin hätte noch diesen Mut? Im Gegensatz zu den Hexenjagden, die man zu Zeiten von »Like a Prayer« veranstaltete, werden die Steine der kulturellen Aneignung von jungen Liberalen geworfen, die, nicht mehr allzu »rockig«, beim geringsten Verdacht lynchen und boykottieren. Kein junger Künstler und erst recht keine Marke kann es sich mehr erlauben, die zahlreichen Ukasse zu ignorieren. Beim geringsten negativen buzz ist eine Plattenfirma verpflichtet, sich in Entschuldigungen zu ergehen.

Manchmal verfolgen diese Prozesse die Künstler bis ins Grab. Man denke an Johnny Clegg, den afrikanischsten der weißen südafrikanischen Sänger. Der Autor des mythischen »Asimbonanga« – ein Lied gegen Apartheid, bei dem Nelson Mandela zu swingen begann –, bekam bei seiner Beerdigung lauter Blumen. Als der ANC ihm eine ergreifende Hommage darbrachte, fanden sich französische und amerikanische Aktivisten ein, um ihn anzuklagen, er habe von kultureller Aneignung gelebt.

Wahrhaftig, es ist nicht gut, eine andere Kultur zu lieben, wenn ihr weiß seid. So schreibt die Essayistin Fatiha Boudjahlat: »Wenn ihr nicht liebt, seid ihr rassistisch. Wenn ihr liebt, seid ihr rassistisch.« Sie kommt zu dem Schluss, dass wir uns in einer ausweglosen Sackgasse befinden, in einer völlig durcheinander geratenen Welt. »Heutzutage würde man Mandela für einen Hausneger halten.«

Verfluchte Zöpfe

Man kann die Leute nicht mehr zählen, die gezwungen sind, Entschuldigungen vorzubringen, weil sie es gewagt haben, eine Afrofrisur, Dreadlocks oder bloß angeblich »afrikanische« Zöpfe zu tragen. Obgleich sie es gewohnt ist zu provozieren, erstarrte Kim Kardashian unter einer Tracht Prügel, die sie für ein Photo hatte einstecken müssen, das sie mit blonden Zöpfen zeigt und mit »Bo West« unterschrieben ist. Eine Anspielung auf die Schauspielerin Bo Derek, die das Glück hatte, aus der Mode zu kommen, ehe die Epoche der Unterstellung kultureller Aneignung anbrach. Pharrell Williams war nicht mehr so »happy«, nachdem er sich unmöglich gemacht hatte, weil er auf dem Titelbild der Zeitschrift Elle mit einer indianischen Frisur aufgetreten war. Ein afroamerikanischer Sänger darf sich nicht mit einem Indianer verwechseln… Lana Del Rey entging nur knapp einer Steinigung, weil sie in ihrem Kurzfilm Tropico die Codes der Chola-Ästhetik aus dem Universum der Latino-Ghettos aufgegriffen hatte. Sie alle haben ihr Bedauern ausgedrückt.

Der Preis für die pathetischste Entschuldigung gebührt der Sängerin Katy Perry; auch sie hat auf einem Photo auf Instagram mit blonden Zöpfen posiert. Ihr Look erinnert jedoch vielmehr an eine ukrainische Frisur, oder allenfalls an die strenge Khaleesi, die Drachenmutter aus Game of Thrones. Doch da die Ukrainer zu sehr mit den Russen beschäftigt und die Dothrakis im wirklichen Leben nicht vertreten sind, verlangten die Profis in Sachen kulturelle An­eignung vielmehr, sie solle sich bei den Afroamerikanern entschuldigen.

Die unerfreulichen Kommentare im Internet häuften sich. Das Umfeld der Sängerin hatte ein reumütiges Interview mit einem Aktivisten der Bewegung »Black Lives Matter« gewünscht, in dem die Sängerin sich selbst live nahezu geißelte dafür, dass sie es gewagt hatte, trotz ihrer »Privilegien einer weißen Frau« solche Zöpfe zu tragen. »Das war nicht gut«, sagte sie bußfertig mit Tränen in den Augen. Ihr sei nicht bewusst gewesen, erzählte sie, wie schwer ihre Geste wiegt. Bis sie eine schwarze Freundin auf den rechten Weg zurückgeleitet habe: »Meine Freundin hat mir erklärt, was für eine Kraft in der afrikanischen Haarmode liegt, wie schön sie ist und wie viel Energie sie erfordert.« Schließlich erging man sich in der Verherrlichung der schwarzen Schönheit und verständigte sich darauf, dass weiße Frauen nicht die erforderliche Energie hätten… um ukrainische Zöpfe zu tragen?

Was dem Interview folgte, war noch erbärmlicher. Mit zitternder Stimme erklärte Katy Perry so ernst es irgend geht, dass die Farbe ihrer Epidermis sie daran hindere, sich mit einer schwarzen Frau zu identifizieren, die Zöpfe trägt: »Ich würde niemals verstehen können, was das bedeutet, aufgrund dessen, was ich bin. Aber ich kann versuchen, mich zu erziehen.« Eine Forderung nach Umerziehung, die der Aktivist von »Black Lives Matter«, dem sie das gestand, guthieß. Sie berührte ihn übrigens fortwährend wie ein Totem, um seine Zustimmung zu erlangen. Dazu muss man erwähnen, dass Katy Perry dieses Interview mit quasi abrasierten blonden Haaren gegeben hat, blond mit einem Stich ins Blaue. Die Schlümpfe aber erhoben keine Klage wegen kultureller Aneignung. Dasselbe Problem wie bei den Dothrakis: Sie sind im wirklichen Leben nicht vertreten.

Das Video dauert zwei unendliche Minuten, in denen man sich schrecklich unwohl fühlt. Die ganze Inszenierung ist niederschmetternd. So, würde man sagen, reden Angehörige einer Sekte. Eine Art umgekehrter Ku Klux Klan, wo die Zeremonienmeister junge weiße Mädchen lehren, sich niemals mit Schwarzen und deren heiligen Zöpfen zu identifizieren.

Die Hetzjagd macht bei den Frisuren nicht halt. Durstig nach Reinheit, verfolgen die Inquisitoren auch »Influencerinnen«, die so dreist sind, sich zu sehr zu bräunen oder ihren Hintern zu dick werden zu lassen, um eher »black« auszusehen. Diese Neigung wird als »nigger fishing« angeprangert. Diejenigen die posieren, indem sie über ihre wahre Herkunft täuschen, werden beleidigt und aufgefordert, ihre DNA offenzulegen.

Einst vermieden es die Weißen, sich zu bräunen, um bloß nicht wie Mestizen auszusehen. Man pflegte einen porzellanfarbenen Teint als ein Zeichen der Zugehörigkeit zur feinen Gesellschaft. Sollte man sich nicht freuen zu sehen, dass nun ein gemischter Teint in Mode kommt? Beweist das nicht, dass »Black is beautiful« triumphiert hat? Warum sich darüber beklagen? Bekämpfen sollte man besser Produkte, die die Haut weißen, sowie eine Mode, die darin besteht, die Haare in Unordnung zu bringen auf die Gefahr hin, sie zu ruinieren. Der Kampf gegen den Selbsthass ist sicherlich dringender als der gegen die Liebe zu den anderen.

Man würde darüber lachen, wenn diese Hetze im Internet nicht so viele Zeichen und so viele Tränen vergeudet hätte. »Dein Lieblingsstar ist problematisch«, eine Web-site, die sich Angriffen auf Lieblingsstars widmet, häufig wegen kultureller Aneignung, endete damit, dass sie ihre eigenen Leser nicht mehr unterstützte. Nachdem sie mehr als siebenundsiebzig Stars mit Steinen beworfen hatte, wurde sie eingestellt und hinterließ ihren Fans die Worte: »Get a life«.

Beruhigend, dass Leute im Internet schreiben, wie lächerlich ihnen diese Auseinandersetzungen erscheinen. In Frankreich sind es vielmehr diese Auseinandersetzungen selbst, die überhaupt erst zu Auseinandersetzungen führen. So zum Beispiel, als die Inquisitoren 2.0 die alberne Idee hatten, sich Camélia Jordana wegen ihrer Dreadlocks bei der César-Verleihung12 vorzunehmen. An jenem Abend betrat die Komödiantin algerischer Herkunft, die auch Sängerin ist, die Bühne, um den César für die beste Nachwuchsdarstellerin entgegenzunehmen. Die Trophäe widmete sie ihrer Mutter, die die Schule zu früh hatte verlassen müssen, sowie all denen, die Hindernisse, zumal rassistische, zu überwinden haben. Diese Botschaft konnte die Polizisten des Look offenbar nicht bewegen. Im Gegensatz zu amerikanischen Stars aber hat Camélia Jordana sich nicht entschuldigt.

Der Modedesigner Marc Jacobs musste sich beugen, weil er seine Models mit Dreadlocks in allen Farben frisiert, verwuschelt und neu interpretiert hatte: »Ich entschuldige mich für den Mangel an Gespür, den ich, ohne es zu wissen, an den Tag gelegt habe.« Er fügte hinzu, er glaube an schöpferische Freiheit. Doch warum sich dann entschuldigen, da keine Absicht bestand, jemanden zu verhöhnen?

Wenn man der Mode etwas zum Vorwurf machen müss-te, so wäre es der Mangel an Models in ihren Reihen, die gemischt, schwarz oder auch nur einigermaßen wohlauf sind, nicht das Kräuseln der Haare weißer Models. Die Afro-Mode auf den Laufstegen kann Generationen von Frauen ermutigen, damit aufzuhören, die Haare zu glätten oder kaputt zu machen! Das wäre eher ein Fortschritt. Doch der Fortschritt ist nicht das Ziel der für kulturelle Aneignung zuständigen Inquisitoren. Ihr Zweck ist, zu existieren, und das bedeutet heutzutage, sich für »beleidigt« zu erklären.

In einer solchen Haltung, einem Gewerbe nahezu, glänzt ganz besonders Rokhaya Diallo, die große Importeurin der Auseinandersetzungen um kulturelle Aneignung. Als politische Aktivistin, die gelegentlich auch für Schmuck Modell steht, versäumt sie keine Gelegenheit, sich »als schwarze Frau« zu empören, um sich sodann zu beklagen, auf ihre Hautfarbe reduziert zu werden. Entsetzt, Weiße mit Afro-Haarschnitt herumspazieren zu sehen, nimmt sie das Copyright für sich in Anspruch. Ihr Traum? Dass die afrikanischen Stylistinnen, ja sogar die afrikanischen Friseurinnen des Viertels Château d'Eau für ihre Haarschnitte entlohnt werden.13 Man wüsste gern, wie genau der Prozentsatz aufzuschlüsseln sei. Sollte man nur die schwarzen Friseurinnen, alle schwarzen Frauen, die einen Afro-Haarschnitt tragen, oder nur die improvisierte Sprecherin entlohnen?

Etliche Kulturen erfreuen sich zierlicher Zöpfe, die sehr wahrscheinlich indischen oder ägyptischen Ursprungs waren, ehe sie afrikanisch oder jamaikanisch wurden. Warum und in wessen Namen sollten schwarze Frauen in den USA oder in Europa die einzigen sein, die ein solches Copyright beanspruchen können? Weil sie in den reichsten und mächtigsten Ländern wohnen? Ist das nicht eine Form des Kulturimperialismus? Tania de Montaigne, Autorin von Die Zuweisung, Untertitel: Die Schwarzen existieren nicht,14 bekämpft dieses uniforme und exotische Bild von Identität unermüdlich. Sie begreift nicht, dass man im Namen aller schwarzen Frauen so sprechen kann: »Zwischen Michelle Obama und einer eritreischen Migrantin weiß ich nicht, was eine schwarze Frau ist!«15

Eine solche Spitzfindigkeit ist den Inquisitoren der neuen Generation entgangen, jedenfalls einer von Studentinnen des Pariser Instituts für politische Wissenschaften (Sciences Po) gegründeten Gruppe: den »SciencesCurls«. Diese Aktivistinnen schlagen sich nicht, um den Planeten und gefährdete Arten zu schützen oder Ungleichheiten zu mindern. Nein, sie setzen andere Prioritäten, nämlich »die bei Sciences Po marginalisierten und diskriminierten Schönheiten zu fördern, quer durch das Spektrum des gestalteten Haars.« Die extreme Rechte ist überall in Europa auf dem Vormarsch, fast jeden Monat werden Attentate von weißen Suprematisten oder Islamisten verübt, das Klima verändert sich, doch die existenzielle Angst, die es in ihren Augen verdient, eine Gruppe zu bilden, gilt ihren zurechtgemachten Haaren. Und dem an weiße Frauen gerichteten Verbot, sich wie sie zu frisieren.

Die Gründerin der Gruppe findet es total »beleidigend«, dass eine Weiße sich das Haar kräuseln oder Zöpfe flechten lassen darf: »Es ist beleidigend, weil die kulturellen Realitäten völlig verwischt und zu einem Vergnügen gemacht werden. Meine Kultur wird sozusagen zu einer Verkleidung. Das bedeutet, dass jemand in sie hineingehen und wieder herauskommen kann, das ist extrem verletzend.« Nachdem man diesen Satz gelesen hat, überlegt man, welcher Superlativ an die Apartheid oder die Rassentrennung heranreichen könnte. Auf der Richterskala der zarten Haut scheinen alle Dramen gleichermaßen schwerwiegend, mag es sich um einen Genozid oder um einen Haarschnitt handeln. Am fürchterlichsten bleibt die Angst vor kultureller Vermischung. Als »extrem verletzend« wird die Möglichkeit erachtet, dass jemand in eine Kultur »hineingeht« und wieder »herauskommt«. Als handle es sich um eine Vergewaltigung und nicht um eine Vermischung.

Traumatisiert von der Vorstellung, dass Weiße sich einen Afro-Haarschnitt zulegen, finden es dieselben Leute aber normal, dass weiße Studentinnen zum »Hijab Day« einen islamischen Schleier anprobieren. Diese von fundamentalistischen Kreisen ausgehende Initiative haben Studentinnen der Sciences Po aufgegriffen und ihren Genossinnen vorgeschlagen, sich einen Tag lang in »Sittsamkeit« zu üben.16 Komischerweise wollte darin keiner der üblichen Inquisitoren die geringste kulturelle Aneignung erkennen.

Die Zensur antirassistischer Werke

Die Inquisitoren der kulturellen Aneignung geben sich nicht damit zufrieden, Stars, Marken und Modenschauen zu verfolgen. Es kommt vor, dass sie sogar die Zensur antirassistischer Werke verlangen.

Dies passierte der Künstlerin Dana Schutz und ihrem Bild Open Casket. Es ist angelehnt an ein berühmtes Foto, das 1955 aufgenommen wurde, um die brutale Ermordung eines jungen Schwarzen anzuprangern. Der vierzehnjährige Emmett Till war soeben zu Tode geprügelt worden. Seine Mutter verlangte, man solle seinen Sarg offenlassen: »Die Leute sollen sehen, was sie meinem Jungen angetan haben.« Der Anblick seines verunstalteten Gesichts war erschütternd. Dass eine Künstlerin, zumal eine weiße, diesen Eindruck sechzig Jahre später wiederaufnehmen möchte, beweist, dass die Mutter recht hatte, das verunstaltete Gesicht ihres Sohnes zu zeigen. Solcherart politische Intelligenz ist inzwischen abhandengekommen.

Sobald es bei der Biennale im Whitney Museum in New York ausgestellt wurde, löste das Bild Open Casket einen Skandal aus. »Dieses Gemälde muss weg!« forderten nachdrücklich mehrere afroamerikanische Schriftsteller in einem in der Presse erschienenen Brief. Unter ihnen auch Hannah Black, die geradeheraus verlangte, das Werk zu »vernichten«: »Das Gemälde sollte von niemandem akzeptiert werden, der sich um Schwarze sorgt oder das zumindest behauptet, denn es ist nicht akzeptabel, dass ein Weißer das Leid der Schwarzen in Profit und Vergnügen verwandelt.«17 Welches Vergnügen?

Diesem inquisitorischen Brief zufolge wendet sich der offene Sarg nur an Schwarze: »Till wurde den schwarzen Menschen als Inspiration und Warnung vor Augen geführt. Nicht-schwarze Menschen müssen akzeptieren, dass sie diese Geste niemals darstellen und niemals verstehen können.« Dieser Satz ist eiskalt. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe erlaubt sich diese Autorin, anstelle einer Mutter zu sprechen, die einen Sohn verloren hat, und den Sarg wieder zu schließen, den diese aus politischen Gründen geöffnet hatte. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe wird eine weiße Künstlerin und Malerin für unfähig befunden, den Schmerz der Mutter nachzuempfinden. Ihre Empfindlichkeit gegen Rassismus wird ihr abgesprochen, ja sogar vorgeworfen! Obendrein will man ihr Bild vernichten.

In den folgenden Tagen drohten Demonstranten, die

Biennale zu boykottieren. Aus Furcht vor Auseinandersetzungen und Vergeltungen lehnte man es ab, das Bild ordnungsgemäß auszustellen. Der Kunstwelt wurde beschieden: Prangert nicht mehr das Leid von Minderheiten an, sonst endet ihr auf der Anklagebank! Ein solches Schicksal erlitt der kalifornische Bildhauer Sam Durant, dessen Installation Scaffold die Hinrichtung von 38 Dakota-Indianern im Jahr 1862 anprangert. Das Werk war im Walker Art Center in Minneapolis ausgestellt worden. Doch einige Indianer mochten es nicht, dass ein Weißer erzählte, was sie für ihre Geschichte hielten. Nach Monaten der Proteste und Vorwürfe brach der Bildhauer ein und baute sein Werk wieder ab.

Die Inquisitoren der kulturellen Aneignung gehen wie Fundamentalisten vor. Ihr Ziel ist es, ein Monopol über die Darstellung des Glaubens zu wahren, indem sie anderen verbieten, ihre Religion zu malen oder zu zeichnen. Dadurch zeichnen sie selbst sich maßgeblich aus. Im Falle der kulturellen Aneignung treiben Schriftsteller, manchmal auch Künstler oder Aktivisten ihr Spiel mit ihrem Minderheitenstatus, um ihre Vorstellungen und ihre Deutungshoheit umso besser durchsetzen zu können.

Das künstlerische Schaffen der einen behindert nicht das der anderen. Doch die Aktivisten wollen lieber verbieten, als ihrerseits etwas zu schaffen. Dieses Recht, glauben sie, sei ihnen buchstäblich angestammt, und aufgrund des Leids ihrer Vorfahren stehe es über allem sonstigen Recht. Die von anderen erduldeten Leiden erlauben ihnen, wieder andere zu unterdrücken: ein tyrannischer Komfort. Das ist keine »entartete Kunst« im Sinne der Nazis, sondern eine im Namen der Genetik zensierte Kunst: eine rassistische Zensur. Es gibt kein anderes Wort zur Bezeichnung der Absicht, ein Werk aufgrund der Hautfarbe seines Schöpfers zu verbieten.

Glücklicherweise gibt es auch andere Antirassisten, die dem widerstehen. So geschah es, als ein übler Wind sich gegen Exhibit B erhob, eine Installation des weißen süd-afrikanischen Künstlers Brett Bailey, die die Tradition der »Menschenzoos« anprangert. Sie soll uns Unwohlsein bereiten, indem sie uns zwingt, eine Reihe lebender Bilder entlangzugehen. Die Darstellungen schildern den Schrecken des Kolonialismus und der Sklaverei. Eine »schwar-ze Venus« wird als Jahrmarktsattraktion präsentiert, wie eine »Odaliske«, die sich nackt im Bett eines französischen Offiziers in Brazzaville räkelt. Eine andere trägt einen Korb voller Hände, abgehackt von belgischen Kolonisatoren. Dies geschah Sklaven, die die Quote bei der Gewinnung von Latex nicht erfüllten. All das erfährt man in dieser Ausstellung. Mehr noch, man spürt Wut in sich aufsteigen, und Abscheu. Darin besteht die Kraft eines Kunstwerks: dass es einen dazu bringt, aus sich herauszugehen und sich in einen anderen zu hineinzuversetzen. Was aber den buchstabengetreuen Identitätsvögten total abgeht.

Seien Sie beruhigt, diese Leute haben sich die Ausstellung nicht angesehen, ehe sie deren Zensur verlangten. Alles ging bloß von einem Artikel aus. Monatelang war die Ausstellung ohne Probleme gelaufen, von Wien nach Brüssel und zwischendurch auch in Paris. Doch all das änderte sich, nachdem eine im Guardian erschienene Kritik sie als riskant und »umstritten« beurteilt hatte.18

Galerien jenseits des Ärmelkanals sind selten mutig. Gleich nach den Anschlägen von London im Jahr 2005 beeilte sich der Direktor der Tate Gallery, eine vorgesehene satirische Ausstellung über den Talmud, den Koran und die Bibel abzusetzen. In Paris wäre diese Art von Zensur ein Skandal. Was nicht heißt, dass kleine Gruppen, die sich vom angelsächsischen Antirassismus beeindrucken lassen, diesen Kulturterror nicht zu importieren versuchten.

Als sie sah, dass die Installation Exhibit B nach Paris zurückkommen würde, trommelte die Brigade anti-négrophobie Leute zusammen, um vor dem Théâtre Gérard Philipe in Saint-Denis zu demonstrieren, Sicherheitsbarrieren umzustürzen, Zuschauer anzugreifen und die Absage der Ausstellung zu erwirken.

Die Interviewten warfen dem Künstler vor, er sei weiß und zeige Schwarze in der Situation von Opfern. Ist das nicht notwendig, um die »Menschenzoos« anzuprangern? Pascal Blanchard, ein Experte für Kolonialgeschichte, äußerte sich über dieses Vor­kommnis bestürzt: »Man sollte meinen, nur ein Schwarzer könnte Rassismus begreifen.«19

Trotz der Einschüchterungen fand die Vorführung statt, doch nur dank dem Mut des Centre dramatique national de Saint-Denis et du Centquatre – und unter einiger Anspannung.

Der Produzent und Manager des Centquatre hielt stand: »Wir haben jeden Abend gespielt. Mit der Bereitschaftspolizei20 vor dem Theater, um die Zuschauer zu schützen.« Was ihn am meisten betrübt? »Die Unmöglichkeit, eine ordentliche Diskussion mit den Leuten zu führen, die uns angreifen. Wir haben das vorgeschlagen, doch eigentlich hatte niemand Lust, uns anzuhören, weder die Künstler noch ihre Unterstützer.«21

Während sie den Dialog verweigerten, kampierten die Demonstranten weiterhin vor dem Eingang der Ausstellung. Ihretwegen sah der Centquatre aus wie eine von Abtreibungsgegnern umzingelte amerikanische Klinik. Die wenigen Zuschauer mussten die Installation unter Begleitschutz besuchen.

Unter ihnen der berühmte ehemalige Fußballer Lilian Thuram, auch bekannt für sein Engagement gegen Rassismus. Er wollte selbst urteilen. Als er, sichtlich bewegt, wieder herauskam, sagte er dem Künstler und der Installation Exhibit B, die er »sehr gelungen und sehr verstörend« fand, seine volle Unterstützung zu. Auch antirassistische Organisationen, die für ihre Opferallüren durchaus be-kannt sind, wie die Liga für Menschenrechte oder die MRAP22, haben die Ausstellung unterstützt.

Das war eines der ersten Male, dass eine Zensurkampagne aufgrund kultureller Aneignung in Frankreich von sich reden machte. Die identitären Extremisten ausgenommen, hatte sie alle einmütig gegen sich. Doch wie lange noch?

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