Читать книгу: «Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?»

Шрифт:

Table of Contents

  1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Danksagung Weitere Phönixbücher

Wo gehen die Sterne hin, wenn es

hell wird?

Carmen Gerstenberger


Copyright @ 2020 Doderer Verlag

Lektorat: Sarah Kneiber

Korrektorat: Sarah Kneiber

Umschlaggestaltung: Kristina Licht

Satz und Layout: Lina Jacobs

Titelabbildung: Shutterstock

ISBN: 978-3-9822651-1-7

Für Maris & Dana

– weil ihr mein Wunder seid.

1

Elena

Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, der letzte gewöhnliche Tag. Gut gelaunt saß Elena im Wagen ihres Vaters und lachte fröhlich über die Scherze ihrer Eltern.

»Ich kann nicht fassen, dass sie dich jetzt wahrhaftig auf all die unschuldigen Verkehrsteilnehmer loslassen.«

»Sehr witzig, Paps.«

»Ernsthaft, was hast du dem Prüfer bezahlt, damit er dir den Führerschein ausgestellt hat?«

»Paps!«

»Gott stehe uns bei, unsere Tochter darf ab heute ganz legal Auto fahren.«

»Ich hab dich auch lieb.« Schmunzelnd lehnte sie sich in das weiche Leder der Rückbank zurück und blickte glücklich nach vorn zur Windschutzscheibe hinaus. Achtzehn. Heute war tatsächlich ihr achtzehnter Geburtstag, der Tag, den sie so lange herbeigesehnt hatte. Endlich war sie erwachsen, gut, per Definition wenigstens, durfte tun und lassen, was sie wollte. Keine Vorschriften mehr, keine Einschränkungen, die ganze Welt stand ihr nun offen und Elena hatte vor, jeden Winkel davon zu erkunden. Zwölf Monate lang würde sie mit ihrer besten Freundin sechs der sieben Kontinente unsicher machen, die Antarktis selbstredend ausgeschlossen. Nächste Woche, in genau vier Tagen also, sollte es losgehen. Elena war schon seit Monaten aufgeregt, denn das würde das Abenteuer ihrer gesamten Existenz werden, bevor die Freiheit der Jugend vorüber und der Ernst des Lebens da war. Sie war sich sicher, dass sie auch mit achtzig noch von den einzigartigen Erinnerungen ihrer Reise zehren würde, die Vorfreude auf ihren Trip war daher unbeschreiblich.

Am Abend würde auch eine kleine Party steigen, doch ihre Eltern hatten natürlich darauf bestanden, dass sie den Vormittag ihres Ehrentages bei einem gemeinsamen Brunch verbrachten, ein letztes feierliches Beisammensein, bevor sie in die Weite der Welt aufbrechen würde. Langsam aber sicher knurrte ihr Magen und die letzte Dosis Koffein war schon viel zu lange her. »Sind wir bald da? Ich bin mir sicher, dass wir längst am Tisch sitzen würden, wenn ich am Steuer sein dürfte«, zog sie ihren Vater auf.

»O nein, ich sagte doch, dass du nur über meine Leiche mein Auto fortbewegen darfst.«

»Aber ich kann fahren!«

»Das sagst du!«

»Jetzt hör schon auf, sie zu ärgern«, verteidigte ihre Mutter sie lachend. »Nun sag es ihr endlich.«

Übertrieben theatralisch seufzte ihr Vater und holte tief Luft. »Also gut, deine Mutter hat mich überredet, dich vom Restaurant zurückfahren zu lassen. Happy Birthday, mein Schatz.«

»Echt jetzt?« Elena konnte ihr Glück kaum fassen, beugte sich zum Fahrersitz vor, soweit der Gurt das zuließ, und schlang die Arme von hinten um ihren Vater. »Ihr seid die besten Eltern der Welt, ich danke dir von Herzen.« Es bedeutete ihr unglaublich viel, dass ihr Paps so großes Vertrauen in sie hatte, um sie an sein Heiligtum zu lassen.

»Aber wehe, du fügst meinem Baby einen Kratzer oder eine hässliche Wunde zu!«

»He, ich dachte, ich bin dein Baby?« Sie atmete gespielt entrüstet auf, während sie ihre Mutter angrinste. Elena würde die beiden so furchtbar vermissen auf ihrer Reise, allein der Gedanke, sie ein ganzes Jahr nicht zu sehen, tat bereits weh.

»Du bist jetzt erwachsen, ich muss dich ziehen lassen, aber er hier, er bleibt mir für immer treu.« Schmunzelnd streichelte ihr Vater über das Lenkrad und summte dabei hingebungsvoll.

»Bitte sag, dass ich adoptiert bin, Mama.«

»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen.«

»Einen Versuch war es wert.« Lachend schüttelte Elena den Kopf. »Vielleicht finde ich ja eines Tages – o Gott, Paps, pass auf!« Blankes Entsetzen übermannte sie, als sie den bulligen Jeep auf ihrer Fahrspur direkt auf ihr Auto zurasen sah. Schlingernd bahnte er sich seinen unausweichlichen Weg, mitten in sie hinein. Ihr Herzschlag schien auszusetzen, obwohl der Adrenalinschub ihren Puls anpeitschte und dann schrie sie. Elena schrie, als bloße Angst sich ihrer bemächtigte, sie packte und mit ihren unheilbringenden Klauen fest im Klammergriff gefangen hielt. Nur vage registrierte sie die verzweifelten Rufe ihrer Mutter und die aussichtslosen Versuche ihres Vaters, ihrem unvermeidbaren Schicksal auszuweichen.

Sie wusste jäh, dass es nur wenige Sekunden waren, die zwischen ihr und der Fügung standen, die das Leben für sie auserwählt hatte und dass danach nichts mehr so sein würde, wie es bisher war. Das quälend langsame Verrinnen der Zeit erschien ihr wie eine Ewigkeit, der sie nicht entkommen konnte und dann ging alles doch zu schnell. Die Wucht des Aufpralls überraschte Elena. Während ihr Körper, lediglich von einem schmalen Gurt gehalten, den physikalischen Fliehkräften nichts entgegensetzen konnte, suchten ihre Finger vergeblich nach Halt. Sie wusste nicht mehr, wo sie war, alles hatte sich verschoben. Oder war es lediglich ihre Wahrnehmung?

Das Geräusch, als die Scheiben barsten, wobei sich unzählige Splitter tief in ihre Haut gruben, ging beinahe in den Rufen ihrer Eltern unter. Immer wieder hörte Elena ihren Namen, aber sie war nicht fähig, zu antworten. Als säße sie in einer Achterbahn, kämpfte ihr Magen verbissen gegen die aufsteigende Übelkeit an, während ihr Gehirn in den Überlebensmodus geschaltet zu haben schien. Sie empfand keinen Schmerz, sie wusste irgendwie, dass sich ihr Wagen überschlug, doch sie spürte nichts mehr. Etwas lief ihre Stirn hinab und tropfte in die Augen. Vergeblich versuchte sie, die Flüssigkeit wegzublinzeln, als ihre Mutter plötzlich grell aufkreischte. Noch nie hatte Elena einen derart furchterregenden Ton gehört, aber im Angesicht des Todes war es wohl legitim, die Fassung zu verlieren.

Im nächsten Augenblick wurde der holprige, außer Kontrolle geratene Ritt des Fahrzeugs jäh gestoppt, als es seitlich gegen einen Widerstand prallte. Die Gesetze der Physik verloren für einen Wimpernschlag ihre Gültigkeit, als es weder oben noch unten gab und Elena zu schweben schien. Aber sie befand sich nicht in den Weiten des Alls, schon einen Atemzug später riss die erbarmungslose Wirklichkeit an ihr. Blech verbog sich im Moment der Kollision knarzend und dort, wo sie eben noch gesessen hatte, existierte plötzlich kein Raum mehr. Der Gurt zog sich bei dem Rückstoß brutal über ihrem Brustkorb zusammen und raubte ihr jegliche Luft, während ihre Arme und Beine einzig noch nutzlose Körperteile waren, die umhergeschleudert wurden. Alles ging so schnell, dass ihr Verstand es nicht zu fassen vermochte und ihr die merkwürdigsten Dinge in den Sinn kamen, nur, um die bittere Wahrheit zu verdrängen, die wie das Damoklesschwert über ihr schwebte. Sie würde sterben. Hier und jetzt. An ihrem achtzehnten Geburtstag.

Hart schlug ihr Schädel gegen etwas Undefinierbares und das Krachen in ihrem Ohr hörte sich an, als würden Knochen splittern. Längst hatte ihr der Dauer Looping, durch den sie unbarmherzig katapultiert wurde, die Sicht geraubt, doch das war nun auch nicht mehr wichtig. Sie wollte nicht sehen, nicht wahrhaben, was auf sie zukam. Grell explodierte das Stakkato aus Blitzen hinter ihren geschlossenen Lidern, die offenbar nur eine Visualisierung des Schmerzes waren, den sie aufgrund des Schockzustandes nicht mehr spürte. Der beißende Gestank von Benzin und der metallische Geruch ihres Blutes umhüllten Elena, während sie in den Schlund des tiefen, schwarzen Lochs gezogen wurde, das sie vollständig von der Realität abnabelte. Der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, war seltsamerweise, dass die Wunde, die das Auto ihres Paps nun hatte, wohl tödlich war. Ebenso wie ihre.

2

Bastian

Ein Jahr später

Bastian lächelte auf dem Weg zu seiner letzten Patientin für die heutige Schicht. Er arbeitete erst seit einem halben Jahr auf der Intensivstation des Städtischen Klinikums und doch hatte er bereits ein kleines Ritual. Am Ende jedes arbeitsintensiven und zumeist auch emotional aufwühlenden Tages sah er stets bei ihr vorbei. Immer. Selbst, wenn er gar nicht für sie eingeteilt war.

Aus einem ihm unerfindlichen Grund schaffte sie es jedoch jedes Mal, ihn herunterzuholen, zu erden, ihn den Alltag vergessen zu lassen. Und das, obwohl sie nicht wach war. Bastian hatte noch nie die natürliche Farbe ihrer Augen sehen dürfen, abgesehen vom Hineinleuchten wegen des Reflextestes, weil sie die Lider seit einem Jahr nicht mehr von allein geöffnet hatte. Denn seine liebste Patientin Elena lag aufgrund eines schweren Schädel-Hirn-Traumas infolge eines Autounfalles im Koma.

Als er ihr Zimmer betrat, hielt er überrascht inne, heute war etwas anders. Bastian hatte viele Stunden bei Elena verbracht und kannte daher jeden Winkel ihres Raumes zur Genüge. Ein Grund, weshalb er sich so gerne hier aufhielt, war, dass die ansonsten kahlen, weißen Wände des üblicherweise sterilen Zimmers mit unzähligen Postkarten verziert waren. Bunte Bilder aus der ganzen Welt, stumme Zeugen eines großartigen Abenteuers, das Elena nicht mehr hatte erleben dürfen. Bereits an seinem ersten Tag auf der Station hatte er die Oberschwester gefragt, was es damit auf sich hatte und dadurch von Elenas traurigem Schicksal erfahren. Davon, wie sie an ihrem achtzehnten Geburtstag aus dem Leben gerissen worden war, kurz vor der Erfüllung ihres großen Traumes. Von der Weltreise, die ihre Freundin letztlich ohne sie angetreten war und von welcher sie Elena beinahe wöchentlich Postkarten schickte, die ihre Eltern, die sich rasch von dem Unfall erholt hatten, an den Wänden aufgehängt hatten.

Heute empfingen ihn jedoch überall bunte Luftballons, sogar eine Girlande mit Sonnenblumen und einer riesigen »19« in der Mitte war über Elenas Bett angebracht worden. Bastian atmete langsam aus und biss die Zähne zusammen. Obwohl er sie nicht kannte und es weitaus schlimmere Schicksale auf der Intensivstation gab, fühlte er sich in diesem Augenblick deutlich frustriert. Heute war ihr Geburtstag, was bedeutete, dass sie nun schon seit einem Jahr ohne Bewusstsein war. Die Chancen, ins Leben zurückzufinden, verringerten sich, je länger ein Patient im Koma lag. Ein Jahr war eine verdammt lange Zeit und insgeheim wusste er, dass Elena wahrscheinlich in der dunklen Welt bleiben würde, in der sie sich seit dem Unfall befand, auch wenn er sich nach wie vor weigerte, es zu akzeptieren. Ihre Verletzungen waren längst geheilt, und obwohl ihr Gehirn keine Folgeschäden davongetragen hatte, wachte sie nicht auf. Das kam leider hin und wieder vor, wenn das Trauma zu schwerwiegend war.

Niedergeschlagen musterte er die feinen Züge ihres wunderschönen Gesichtes, das er nicht anders kannte als in diesem entspannten Zustand. Oft hatte er sich in der Vergangenheit gefragt, ob Engel wohl auch so selig aussahen, wenn sie schliefen? Lächelnd schüttelte er dann jedes Mal den Kopf, es war der Fluch seiner Fantasie, die ihn stets auf andere Art denken ließ. Seit er schreiben konnte, brachte er seine Gedanken zu Papier, abenteuerliche Geschichten über einen Jungen, für den alles möglich war. Ein Junge, der nach den Sternen griff und auf ihnen durch das Universum ritt. Bastian nannte inzwischen unzählige Ordner mit seinen Ergüssen sein Eigen, doch sie waren sein Geheimnis. Noch nie hatte er sie anderen Menschen gezeigt, zu merkwürdig war die Vorstellung für ihn, seine intimsten Momente mit Fremden zu teilen. Seine Gedanken aufzuschreiben war wie eine Therapie, denn Bastian öffnete dann immer seine Seele und gab jedes Mal ein Stück seiner selbst preis. Es erschien ihm unvorstellbar, diesen verletzlichen Zweig anderen zu enthüllen, weil er Angst davor hatte, sie könnten ihn zerbrechen. Er wusste nicht, ob er dann noch in der Lage wäre, weiterhin zu träumen, ohne anderen gerecht werden zu wollen und vor allem, ohne sich selbst zu verlieren.

Geräuschvoll ließ er sich in den gepolsterten Stuhl plumpsen, der auf Kopfhöhe neben Elenas Bett stand. Hier saß er nahezu jeden Tag und erzählte ihr von seiner Arbeit, dem Klinikalltag und manchmal auch von erwähnenswerten Dingen, die er erlebte. Was eher selten vorkam, da Bastian trotz seiner einundzwanzig Jahre ziemlich langweilig war. Der Job als Pfleger war anstrengend und die verschiedenen Schichten sorgten zusätzlich dafür, dass er völlig erledigt war, wenn er endlich zu Hause war. Obwohl er noch nie der Typ gewesen war, der sich bis zum Abwinken betrank und sich auf Partys wohl fühlte, ging er natürlich hin und wieder mit seinen Kumpels was trinken oder verbrachte Stunden mit ihnen vor der Playstation. Seit er die Lehre nach dem abgebrochenen BWL-Studium im Krankenhaus angefangen hatte und oft erst heimkam, wenn seine Jungs zur Arbeit aufstanden, wurden die gemeinsamen Treffen jedoch zusehends weniger. Trotzdem war es das, was er tun wollte, Menschen helfen.

Tim, seinem Freund aus Kindertagen, hatte er vergangenen Sommer nicht mehr helfen können, als dieser sturzbetrunken im See schwimmen gegangen und nicht wieder aufgetaucht war. Sie hatten ihn erst zehn Minuten später gefunden, doch trotz ihrer verzweifelten Bemühungen, ihn zurück ins Leben zu holen, hatte er es nicht geschafft. Für Bastian war dies der Schlüsselmoment gewesen, seine gesamte Existenz infrage zu stellen. Nachdem er aus dem dunklen Tal der Trauer wieder herausgefunden hatte, hatte er kurzerhand, zum Missfallen seiner Eltern, das Studium über Bord geworfen und die Lehre als Krankenpfleger angefangen. Sein Vater hatte ihn bedrängt, wenigstens ein Medizin-Studium anzufangen. Für Bastian hatte jedoch unwiderruflich festgestanden, dass er den Tod seines Freundes nur dann irgendwann bewältigen würde, wenn er sofort Menschen helfen konnte, nicht erst in vielen Jahren.

Und hier saß er nun, Tag für Tag und starrte die Frau an, der er eben nicht helfen konnte. Die seine Zuversicht Lügen strafte, weil sie einfach nicht aufwachen wollte. Etwas hielt sie in den Tiefen ihres Verstandes gefangen und Bastian würde sein letztes Hemd hergeben, wenn er nur wüsste, was sie nicht losließ, was verhinderte, dass sie ins Leben heimfand. Ob sie mitbekam, was er ihr Tag für Tag erzählte? Die Fachleute waren unterschiedlicher Ansicht darüber, was Patienten registrierten, während sie im Koma lagen oder ob sie überhaupt etwas wahrnahmen. Bastian hingegen glaubte fest an die kleinen Wunder, die überall geschahen und doch übersehen wurden, weil sie so winzig waren. Denn wenn niemand mehr an Wunder glaubte, würde die Welt bald ein kalter, dunkler Ort bar jeglicher Hoffnung sein.

Es berührte ihn, dass sie an ihrem Geburtstag allein in einem Krankenhausbett lag, anstatt mit ihren Freunden zu feiern. Freunde, die sie längst nicht mehr besuchen kamen. Schon als er begonnen hatte auf dieser Station zu arbeiten, waren nur vereinzelt welche aufgetaucht, inzwischen sah er einzig noch ihre Eltern. Tapfer weigerten sich diese, Elenas Schicksal zu akzeptieren und redeten täglich mit ihr, als würde sie nicht in der Welt des Tiefschlafes gefangen gehalten. Heute hatte Bastian sie verpasst, was er bedauerte, denn er sprach gerne mit ihnen, so erfuhr er stets Neues von dem Mädchen, dessen Stimme er noch nie hatte hören dürfen. Durch die warmherzigen Erzählungen ihrer Eltern kam es ihm irgendwie auch so vor, als kannte er Elena tatsächlich.

Gerade als er sich vorbeugte, um ihr von seinen Erlebnissen bei der Arbeit zu erzählen, hielt er auf einmal inne. Es fühlte sich nicht richtig an, sie an diesem Tag mit belanglosen Dingen zu langweilen. Sie hatte Geburtstag und verdammt nochmal etwas Besseres verdient! Bastian biss die Zähne zusammen und sprach sich ins Gewissen. Was machte es denn schon, wenn er ihr eine seiner Geschichten erzählte? Wahrscheinlich würde sie die ohnehin nicht hören, und wenn doch, wem sollte sie in ihrem Zustand davon erzählen? Sein Blick schweifte über die zahlreichen Postkarten an den Wänden, bis er schließlich nickte. Ja, heute könnte er Elena den Jungen aus seinen Gedanken vorstellen, doch mit einem völlig neuen Abenteuer. Also beschloss er, die Geschichten in seinem Kopf mit ihr zu teilen, seine Seele für sie zu öffnen und die Dunkelheit zu vertreiben, in der Elena feststeckte und in deren finsteren Treibsand sie täglich ein Stück mehr einsank.

Zögerlich räusperte er sich einige Male, doch dann straffte er sich und fing mit leiser, ruhiger Stimme an, zu erzählen. »Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam. Ein Junge, der die Geheimnisse der Welt erkunden wollte und alles hinterfragte, was sich zwischen ihm und den Gestirnen befand. Unaufhörlich folgte er seiner Neugierde, überwand seine Ängste und ließ seine Träume wahr werden. Um Antworten zu finden, stürzte er sich in die Tiefen seines Verstandes, denn dort warteten die größten Abenteuer auf ihn. Dieser Junge hieß Bastian. Sein Wissensdurst war unerschöpflich, doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«

3

Elena

Schwerelos trieb Elena in der Schwärze dahin, die zu ihrem ganzen Kosmos geworden war. Körperlos, ohne die Möglichkeit sich zu bewegen, war sie lediglich ein Staubkorn im Maul der gefräßigen Dunkelheit, die nicht daran dachte, sie je wieder auszuspucken. Wie lange sie sich an diesem Ort befand, wusste Elena nicht, ebenso wenig, weshalb sie nur manchmal bei Verstand zu sein schien. Die meiste Zeit über befand sie sich in einem Dämmerzustand, träge und antriebslos, nicht fähig, sich zu rühren oder bemerkbar zu machen. Dann blieben ihr nur die Gedanken, die jedoch ein recht grausames Gefängnis waren. Je nachdem, wie viel Freiheit ihr die Finsternis zugestand, erinnerte sie sich mal mehr und mal weniger an die letzten lichten Augenblicke, bevor sie hier gestrandet war.

Fetzen von Bildern drangen dann zu ihr hindurch, es waren äußerst verstörende Momente und grausame Empfindungen. Elena war bewusst, dass Metall nicht kreischen konnte, doch in ihren Flashbacks tat es das. Es kreischte in einer Art Todeskampf, als bettelte es um sein Leben, genau wie sie. In Wahrheit konnte sie dies nie lange genug festhalten, um sich an alles zu entsinnen oder etwas Bestimmtem zuzuordnen. Die Schwärze war jedes Mal stärker und zog sie mit sich, bevor sie die Chance bekam, ganz zu sich zu kommen. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte oder ob das hier das Jenseits war. Falls es so etwas gab, jedenfalls.

Die einzigen Male, in denen sie es beinahe bis zur Oberfläche ihres sumpfigen geistigen Kerkers schaffte, waren die, in denen sie die Stimmen hörte. Das vertraute Murmeln ihres Paps und die liebevollen wärmenden Worte ihrer Mutter schenkten Elena Auftrieb, doch es war nie genug. Sie schaffte es nicht ans Ziel, niemals. Die Krallen der Dunkelheit packten sie stets vorher und zogen sie in die Tiefen des Nichts zurück. Fort von den Menschen, die sie liebte, fort vom Leben. Dann wurde sie zurückgeworfen in diese endlose Spirale aus Schatten und Geräuschen und alles begann von vorn.

Und dann war da dieser Fremde, Bastian, den sie nicht kannte und nicht einordnen konnte, der aber seit langer Zeit zu ihr sprach und sie für kurze Augenblicke aus ihrem Verlies holte. Seine Stimme brachte Licht in Elenas immerwährende Nacht. Wenn er redete, dann rückte die Hoffnungslosigkeit von ihr ab und machte Platz für bunte Farben und aufmunternde Melodien, die sie für einen winzigen Augenblick einlullten, mit sich rissen und vergessen ließen, dass sie lediglich noch in ihrem eigenen Verstand existierte. Die kostbaren Momente mit ihm waren der Klang der Zuversicht, der sie am Leben hielt. In dem düsteren Treibsand, in dem sie sich befand, hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Elena hatte nicht die geringste Ahnung, wie regelmäßig Bastian zu ihr kam, doch das war auch nicht relevant. Wichtig war nur, dass er kam. So wie jetzt.

Ungeduldig konzentrierte sie sich auf seine Stimme, nicht jedes Mal gelang es ihr, diese festzuhalten. Manchmal driftete Elena einfach davon und dann war sie traurig, weil sie den Momenten mit ihm regelrecht entgegenfieberte und nicht eine Sekunde davon verpassen wollte. Was immer eine Sekunde in ihrer kleinen Welt auch bedeuten mochte. Heute jedoch hörte sie ihn klar und deutlich, sie glaubte sogar, dass ihr Herz möglicherweise einen winzigen Takt schneller schlug. Wo immer es sich auch befinden mochte. Überrascht bemerkte sie, dass die Worte, die in ihr Unterbewusstsein vordrangen, dieses Mal anders waren. Normalerweise sprach er von seiner Arbeit, doch heute … erzählte er ihr etwa eine Geschichte?

»Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam. Ein Junge, der die Geheimnisse der Welt erkunden wollte und alles hinterfragte, was sich zwischen ihm und den Gestirnen befand. Unaufhörlich folgte er seiner Neugierde, überwand seine Ängste und ließ seine Träume wahr werden. Um Antworten zu finden, stürzte er sich in die Tiefen seines Verstandes, denn dort warteten die größten Abenteuer auf ihn. Dieser Junge hieß Bastian. Sein Wissensdurst war unerschöpflich, doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«

Elena lauschte gebannt und im Geiste lächelte sie selig. Das war wunderschön, ob er wusste, wie sehr sie die Sterne liebte? Schon tanzten die kleinen Lichtpunkte um sie herum, die sie so sehr herbeigesehnt hatte. Sie vertrieben die Schatten in dem gähnenden Schlund, der kein Ende zu haben schien, und ließen sie träumen.

»Eines Abends wurde Bastian von einer merkwürdigen Sehnsucht gepackt, mehr von der Welt sehen zu wollen. Er kannte nur sein Zuhause, doch es gab so viel zu entdecken und er beschloss, nicht länger zu warten. Also schlüpfte er in seine grünen Abenteuer-Gummistiefel, nahm vorsorglich noch ein zweites, gelbes Paar mit und steckte sich ein Säckchen Zauberpulver in die Tasche, die er sich umhängte. Er fragte sich, wie wohl das Wetter auf der Welt so war und ob er seine Regenjacke umbinden sollte, doch dann schüttelte er den Kopf. Dorthin, wo es regnete, würde er einfach nicht gehen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen verließ er sein Haus, doch die Reise musste noch ein wenig warten. Denn zuvor würde er am Ende der Straße seine Freundin Elena abholen, ohne die er keinesfalls aufbrechen konnte. Sie hatte kastanienbraune Haare, in denen sich die Sonnenstrahlen spiegelten und honigfarbene Augen – und sie war wunderschön. Aber das würde er ihr natürlich niemals sagen. Bastian war schließlich ein Gentleman. Außerdem war es doch viel eindrucksvoller, einer großartigen Frau die Welt zu Füßen zu legen, als sie mit Äußerlichkeiten zu langweilen.

Bei ihr angekommen, wartete sie bereits freudestrahlend auf ihn, streckte die Hand aus und nahm die gelben Abenteuer-Gummistiefel an sich. Als Bastian sah, dass sie so weit war, holte er das Säckchen mit dem Zauberpulver aus der Tasche und hielt es über Elenas Kopf. Sofort zog sie eine Grimasse und kniff sich die Nase zu, als würde sie gleich in ein Schwimmbecken hüpfen. Lachend verstreute er eine Prise des Pulvers über ihrem Haar und tat anschließend dasselbe bei sich. Endlich konnte es losgehen. Die Wirkung setzte umgehend ein und schon begannen sie, zu schweben. Schnell verschränkte Bastian seine Finger mit den ihren, dann hoben sie gemeinsam ab.«

Elenas tristes Gefängnis begann sich zu verwandeln. Bastians Worte waren stärker als die Schatten, sie besaßen sogar derart viel Macht, dass sich die eindimensionale Schwärze um sie herum allmählich veränderte. Konturen bildeten sich, die bald schon zu klaren Formen wurden. Farben aus der Wirklichkeit verdrängten die freudlose Ödnis, ihre unwirkliche Welt transformierte sich zu dem, was Bastian erzählte. Die Geschichte verselbstständigte sich plötzlich. Elena hörte sie nicht mehr, sie erlebte sie! Eben noch war alles dunkel gewesen, nun hielt sie Bastians Hand und flog. Sie flog!

»Pass auf deine Stiefel auf, verliere sie nicht wieder«, rief er ihr lachend zu.

Elena schluckte und sah an sich herunter. Das hätte sie besser bleiben lassen, denn statt ihrer Gummistiefel erblickte sie die Welt aus der Vogelperspektive. Erschrocken schrie sie auf und ruderte panisch mit dem freien Arm, sodass sie aus dem Gleichgewicht geriet.

»Was machst du denn da?« Bastian runzelte fragend die Stirn und sah sie verwundert an.

Sie war allerdings nicht fähig, ihm zu antworten. Arme. Sie hatte Arme und Beine! Sie besaß wieder einen funktionierenden Körper und sie konnte sehen, das war alles, was sie sich in der einsamen Zeitlosigkeit

gewünscht hatte, die hinter ihr lag.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«

Mit wild pochendem Herzen blickte sie zu ihm und nickte zaghaft. Ja, das war es. Das war es wirklich. Sie lebte wieder, irgendwie jedenfalls, und das war das kostbarste aller Geschenke, das er ihr hätte machen können.

»Ich kann dich auch loslassen, wenn dir das lieber ist?« Skeptisch musterte Elena ihre verschränkten Finger und anschließend die Häuser, die winzig unter ihnen vorbeihuschten. »Du weißt, dass das Zauberpulver uns in der Luft hält und nichts passieren kann?«

»Natürlich«, erwiderte sie leise und erschrak über den Klang ihrer Stimme, die ihr nach all der Zeit so fremd vorkam. Nein, das mit dem Pulver wusste sie selbstverständlich nicht, fliegen und zaubern gehörte nicht unbedingt zu ihrem Alltag. Aber sie wollte sich Bastian gegenüber nicht lächerlich machen, weshalb auch immer. Verstohlen wagte sie einen erneuten Blick auf ihn. Sie hatte ihn noch nie gesehen, nur gehört, ihr Unterbewusstsein hatte ihn daher einfach aus der Vorstellungskraft erschaffen. Oder hatten ihre Eltern ihr womöglich von ihm erzählt? Ob er in Wirklichkeit auch schwarze, verwuschelte Haare und tiefblaue Augen hatte, wusste sie also nicht. Aber sie gestand sich ein, dass ihr gefiel, was ihr Verstand sich ausgemalt hatte, möglicherweise hatte er all dies ja irgendwann erwähnt, sie konnte sich jedoch nicht mehr daran erinnern. Auch sein Alter konnte sie nicht abschätzen, in ihrer Fantasie war Bastian jedenfalls nicht viel älter als sie. War sie denn überhaupt noch achtzehn? Elena kam es vor, als hätte sie eine Ewigkeit in der Schwärze verbracht, die ihr ganzes Leben und somit alles, was noch vor ihr lag, aufgesaugt hatte.

»Hab keine Angst, ich bin immer bei dir, dir kann nichts geschehen.«

Es war die Wärme in seiner Stimme, die ihr letztlich die Beklommenheit nahm. Das hier war total verrückt, doch Elena war bereit. Sie war bereit, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, denn alles war besser als die trostlose Realität. Lächelnd löste sie ihre Finger aus Bastians, gab sich einen Ruck und flog allein. Sie fürchtete sich nicht mehr, denn was hatte sie schon zu verlieren? Ihr Leben?

Das war ihr bereits genommen worden.

399
477,97 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
272 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783982265117
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают