Читать книгу: «Das Geheimnis von Nevermore», страница 4

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»Hey.« Martha schnipste mit ihren Fingern.

»Kann ich mein neues Shirt anziehen?«, fragte ich, um das Ausziehen meiner Hose noch etwas hinauszuzögern.

Sie seufzte laut und hielt ihre Spiegelreflexkamera hoch. »Moment, ich muss noch ein Foto machen.«

»Whoa, was, von mir? Komplett?«

»Noch nie hab ich einen so prüden Kerl getroffen«, murmelte sie. »Streck deine Hände aus, Handflächen nach unten.«

Martha machte einige Fotos von meinen Händen aus verschiedenen Blickwinkeln und dann von meiner Brust, wo sich ein kleiner Blutfleck befand. Als sie fertig war, durfte ich endlich mein neues T-Shirt anziehen und hatte genug Zeit, meine untere Region wieder zu beruhigen. Schnell zog ich den Rest meiner Kleidung aus und musste noch mal für eine Runde Fotos herhalten, bevor Martha beschloss, dass sie fertig mit mir war. Sie wartete geduldig, bis ich wieder komplett angezogen war.

»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Martha«, sagte ich. Ich war mir nicht sicher, was ich sonst zu einer Frau sagen sollte, nachdem ich mich für sie ausgezogen und sie Fotos von mir gemacht hatte. Wäre ein Dankeschön besser gewesen?

Als Antwort summte sie nur kurz, während sie ihre Kamera und meine verpackte Kleidung in ihre Tasche verschwinden ließ. »Darf ich dir einen Tipp geben?«

Ich war dabei, mir meine neue Jacke anzuziehen, die für einen kühlen Herbsttag viel eher geeignet war als für den Schneesturm draußen. Mit nur einem Arm in der Jacke pausierte ich kurz. »Ja?«

»Mach es nicht so schwierig für Winter, sonst verhaftet er dich schneller, als du herzlos sagen kannst.«

Was sollte das denn heißen? »Äh …«

»Er hat schon alles gesehen«, sagte sie mit einem warnenden Ton. »Und er hat für nichts davon Geduld.« Nachdem sie das gesagt hatte, ließ Martha mich allein.

Irritiert schob ich meine Sonnenbrille hoch und verschränkte meine Arme. Auf einmal war mir saukalt, aber das lag nicht an der Temperatur. Angst war es, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Okay, ich sollte mal einen Schritt zurücktreten und die ganze Situation objektiv betrachten. Neil hatte mir einiges über Verbrechen und Beweisstücke beigebracht und ich musste das irgendwie zu meinem Vorteil nutzen. Es war absolut nicht in meinem Interesse, als Verdächtiger zu gelten oder, noch schlimmer, von Winter verhaftet zu werden.

Rigor Mortis, also die Leichenstarre, setzt ungefähr zwei Stunden nach dem Tod ein und der menschliche Körper verliert im Schnitt 1,5 Grad Körpertemperatur in der Stunde. Ich musste allerdings bedenken, dass die Tür zum Laden für eine fraglich lange Zeit offen stand, was die Körpertemperatur der Leiche hatte beeinflussen können. Wenn die Leichenstarre aber wie üblich nach zwei Stunden eingesetzt hatte, konnte ich davon ausgehen, dass der arme Mike seit …

Hastig drehte ich mich um und blinzelte, um die Zeit auf der Uhr hinter mir abzulesen.

Der Polizeibeamte, der mich schon die ganze Zeit beobachtet hatte, fragte: »Haben Sie etwas Besseres zu tun?«

»Ich kann die Uhrzeit nicht lesen.«

Er warf einen kurzen Blick an die Wand hinter mir. »Es ist kurz nach zwölf.«

In Ordnung, ich war bereits seit fast einer Stunde hier. Das hieß, dass es ungefähr 11 Uhr war, als ich Mike gefunden hatte. Also war es gut möglich, dass er heute Morgen um 8 Uhr umgebracht worden war. Ich hatte ein Alibi. Meinen Vater, den Mitarbeiter bei Little Earth … Ich würde sogar Neil mit hineinziehen, wenn es meine Unschuld bewies.

Als ich wieder aufsah, nachdem ich mögliche Alibis an meinen Fingern abgezählt hatte, stand Winter vor mir. Er hatte einen komischen Gesichtsausdruck, den ich nicht genau deuten konnte. War er amüsiert? Nachsichtig? Neugierig? Schwer zu sagen.

»Hi«, sagte ich.

»Ich habe noch ein paar Fragen.«

Im Hintergrund gab Lancaster Befehle, als eine Trage hereingebracht wurde, um Mikes Körper abzutransportieren.

Mach’s gut, Mike …

»Wo waren Sie heute Morgen um sieben Uhr?«, fragte Winter.

Aha. »Mike ist erst seit ein paar Stunden tot?«

»Beantworten Sie mir einfach die Frage.«

Hatte ich es doch gewusst. Rigor Mortis fing im Gesicht an. Bei den Augen, dem Kiefer, den Nacken hinunter. Mikes ganzer Körper war noch nicht steif, was bedeutete, dass er angegriffen worden war, als ich mit anderen Menschen zusammen gewesen war. Wenn man außerdem den Schnee in Betracht zog, der sich im Eingangsbereich angesammelt hatte, passte das ungefähr mit den vorausgesagten Schneefällen zusammen.

»Sieben? Da war ich zu Hause.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Da müsste ich gerade aufgewacht sein und darüber nachgedacht haben, aufzustehen.«

»Leben Sie allein, Mr. Snow?«

Ich konnte den Muskel in meinem Hals spüren, der sich zusammenzog. Wenn ich ja sagte, würde ich einen Detective belügen, was nie gut war. Wenn ich verneinte, würde Winter die Kontaktinformationen von der zweiten Person haben wollen. Würde es Neil etwas ausmachen? Natürlich, aber wenn es darum ging, seinen Freund zu schützen, würde er sich sicherlich einem Kollegen gegenüber outen, von dem er dachte, dass er homophob war … Oder? Es machte mir zu schaffen, dass ich die Antwort auf diese Frage nicht wusste. »Nein, nicht direkt«, hörte ich mich selbst sagen.

Winter sah mich erwartungsvoll an.

»Mein … mein Freund. Ich lebe mit meinem Freund zusammen. Er war zu Hause, er wird das bestätigen.«

»Da bin ich mir sicher«, sagte Winter in einem Ton, den ich nicht genau deuten konnte. »Geben Sie mir bitte seine Kontaktdaten.« Er holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner inneren Jackentasche hervor.

Leise gab ich ihm Neils Handynummer. Ich beobachtete Winter, als er sie aufschrieb. Es gab nun keinen Weg mehr zurück. »Neil Millett.«

Er hielt inne und sah mich an. »Von der Spurensicherung?«

»Ja.«

Winter machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Gelächter und einem Grunzen klang, als er Neils Namen aufschrieb.

»Was?«

»Nichts, ich bin nur nicht überrascht.«

»Was? Davon, dass ich schwul bin?«

»Das war offensichtlich«, bemerkte er, ohne aufzusehen.

Das war mir neu. Ich dachte eigentlich nicht, dass ich stereotypisch schwul rüberkam. »Mir war nicht bewusst, dass ich mein Neonlicht noch an habe.«

»Ich werde mich bei Mr. Millett melden«, sagte Winter.

»Oh, toll«, murmelte ich sarkastisch.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Morgen.«

»Ab sieben?« Als er nickte, holte ich tief Luft. »Na gut. Also, ich lag für eine Weile im Bett. Neil stand auf, um zu duschen. Nach einer Weile ging ich in die Küche und machte mir einen Kaffee und Frühstück. Dann sah ich mir die Nachrichten an. Kurz vor acht ging Neil zur Arbeit. Mein Vater rief an, nachdem er gerade weg war, und ich zog mich an, um ihn besuchen zu gehen. Auf dem Weg machte ich kurz Halt bei Little Earth und kaufte ein paar Donuts und Hundekuchen. Es war so kurz vor elf, als ich die Wohnung meines Vaters verließ.« Geduldig gab ich Winter die Nummer und Adresse meines Vaters, dann die vom Café. »Es wäre mir unmöglich gewesen, Mike etwas anzutun, und das wissen Sie«, sagte ich. »Oder? Er wurde so gegen sieben getötet. Davon geht der Gerichtsmediziner aus.«

Winter antwortete mir nicht, als er Notizblock und Stift wieder in seine Tasche steckte.

»Ich kann nicht Auto fahren und überhaupt: Neil hatte das Auto. Sie wissen, dass ich zu all diesen Orten gelaufen bin. Ich kann gar nicht genug Zeit gehabt haben. Es ist genau so passiert, wie ich es gesagt habe«, versuchte ich, ihm klar zu machen.

»Haben Sie das alles von Millett gelernt?«

»Nein, das basiert alles auf den untrüglichen Fakten, die ich bei CSI und Law & Order gesehen habe«, erwiderte ich.

Überraschenderweise erdrosselte Winter mich nicht an Ort und Stelle.

»Ich habe absolut keinen Grund, Mike etwas anzutun«, versuchte ich es weiter. »Überhaupt keinen. Was wäre das Motiv?«

»Das Motiv ist nicht immer der ausschlaggebende Punkt.«

»Natürlich ist es das«, sagte ich defensiv.

»Sie sind kein Verdächtigter«, murmelte Winter und wechselte damit das Thema.

Die Erleichterung, die mich durchfuhr, ließ mich fast zu Boden sinken. »Wirklich?«

Tu nicht so überrascht.

»Wirklich«, bestätigte er. »Aber ich will trotzdem nicht, dass Sie die Stadt verlassen, haben Sie verstanden?«

»Wo sollte ich denn hin? Nach Jersey laufen?«

»Ich sollte Sie allein schon für Ihre Klugscheißerei verhaften.«

»Vermutlich«, bestätigte ich. Ich hielt meine Hände hoch. »Kann ich mir das Blut jetzt endlich abwaschen?«

»Gehen Sie raus zum Krankenwagen.« Winter nickte kurz dem uniformierten Polizisten zu, der weiterhin in meiner Nähe stand. »Stellen Sie sicher, dass Mr. Snow sich ordentlich waschen kann, und fahren Sie ihn dann nach Hause.«

Der Polizist nickte und sagte mir, ich sollte ihm folgen.

Es war bereits Mittag, als ich zu Hause ankam.

Kapitel Vier

Bereits wenige Momente, nachdem ich in die Wohnung gekommen war, war ich dabei, die Dusche anzuschalten. Die Kleidung, die Neil mir vorbeigebracht hatte, ließ ich einfach auf einen Haufen auf den Boden fallen, bevor ich in die Badewanne stieg. Ich seifte mich gründlich ein und fing dann an, mich mit einem Waschlappen ordentlich abzuschrubben. Es war mir egal, dass die Sanitäter mir geholfen hatten, meine Hände sauber zu machen. Wenn man eine Leiche angefasst hatte, nein, kopfüber in das trocknende Blut einer Leiche gefallen war, wollte man einfach nur duschen. Auf ewig.

Als ich mich für sauber genug erklärt hatte, lehnte ich mich gegen die kalten Fliesen an der Wand. Meinen Kopf beugte ich leicht nach vorn, sodass der Wasserstrahl der Dusche auf meinen Hinterkopf prasselte. Mann, war ich erschöpft. Mord war ziemlich ermüdend. Wie konnten Leute wie Detective Winter damit jeden Tag umgehen?

Eher eine Art Orange, du weißt schon, dieses leicht Feurige.

Mir war mittlerweile bewusst, dass Farbe ein ziemlich komplexes Konzept war. Es gab nicht einfach nur Orange, es gab verschiedene Töne, die alle ein bisschen unterschiedlich waren. Jede Abstufung schien einzigartig zu sein und verschiedene Emotionen bei Menschen hervorzurufen. Was bedeutete also „feuriges Orange“? Calvin Winter, mit Haaren, die einer Orange glichen? Einem Kürbis? Ich glaubte außerdem, mal gehört zu haben, dass manche Verkehrsschilder orange waren … Feurig als Beschreibung war schon schwierig für mich. Manche Menschen hatten mir gesagt, dass Feuer gelblich wäre, während andere meinten, es wäre eher rot. Feuer könnte aber auch aussehen wie die Flamme, die aus einem Gasofen kam, und ich wusste, dass die blau war. Aber diese Beschreibungen und Namen von Farben halfen mir überhaupt nicht weiter. Für mich war Calvin grau. Seine Augen waren grau und seine Sommersprossen waren grau. Ich würde niemals die exakte Farbe, die seine Haare zu haben schienen, kennenlernen. Wieso also war ein Mann, der für mich dieselbe Farbe hatte wie ein Sonnenuntergang oder Hundescheiße, so für mich aus dieser gedämpften Welt herausgestochen, wie es noch niemand vor ihm getan hatte? Ich konnte es mir nicht erklären. Zumindest nicht ganz.

Calvin … Wann war er überhaupt zu Calvin in meinem Kopf geworden, anstelle von Winter? Er war heiß, das konnte ich nicht abstreiten. Er war so anders als Neil und das nicht nur, was seinen Körperbau und seine Haare betraf. Er war ein bisschen rau und ein bisschen hart, aber er hatte eine Energie, die einen sofort in seinen Bann zog. Und eine etwas zurückhaltende Persönlichkeit. Außerdem hatte er ernsthaft besorgt geklungen, als er mit mir am Telefon gesprochen hatte, und ganz anders, als Miss Martha Stewart mir mit ihrem Herzlos-Kommentar hatte weismachen wollen. Neil hatte sich nicht gesorgt. Zumindest nicht um mich persönlich. Immerhin war ich mitten in einen Tatort geraten, wo ein Mann ermordet worden war, und er war nicht mal lange genug geblieben, um sicherzustellen, dass es mir gut ging.

Ich hob meinen Kopf und wischte mir über die Augen. Das heiße Wasser hatte einen reinigenden Effekt und sowohl mein Körper als auch mein Kopf fühlten sich besser. Dann erinnerte ich mich daran, dass mein Schwanz beim bloßen Anblick Calvins steif geworden war. Unfassbar. Es war ja nicht so, als hätte er mich angefasst oder mir gesagt, was für dreckige Dinge er mit mir anstellen wollte. Verdammt, er hatte mich nicht mal angesehen. Er war in dem Moment mit einer Leiche beschäftigt gewesen, nicht mit mir.

Ich lehnte mich wieder gegen die Wand und drückte meine Handballen gegen meine Augen. War es in Ordnung, eine andere Person attraktiv zu finden als die, mit der man in einer ernsthaften Beziehung war? Es war schon eine Weile her, seit ein Mann, der nicht Neil war, mich so erregt hatte, wie ich es in Bond Antiquitäten gewesen war, und normalerweise musste sich Neil sogar bemühen, um mich so weit zu kriegen. Allein der Gedanke an Sex und Calvin ließ meine Hand nach unten gleiten, um mich in die Hand zu nehmen. Das war kein gutes Zeichen. Das war nicht gesund, oder? Über einen anderen Kerl zu fantasieren, der nicht Neil war, und den ich definitiv nicht haben konnte, weil ich mit Neil zusammen war. Mehr oder weniger. Und außerdem stand Calvin nicht auf Männer. Bei mir kam zwar die homophobe Ausstrahlung nicht an, an der Neil festhielt, aber ich hatte auch nicht das Gefühl, mit einem schwulen Mann zu reden.

Mittlerweile war ich wieder hart geworden und da war es egal, ob Calvin schwul oder hetero war. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, dass seine Hand mich berührte, statt meine eigene. Groß und muskulös, mit Schwielen an seinen Handflächen, die halfen, mich mit der perfekten Geschwindigkeit und dem richtigen Druck, den ich brauchte, zu berühren. Ich dachte darüber nach, wie es wäre, mit ihm zusammen nackt zu sein. Seine starken Arme um mich gelegt. Sein ganzer Körper nichts als Muskeln, eine leicht behaarte Brust und überall bedeckt von Sommersprossen.

Überall.

Scheiße, noch nie hatten mich Sommersprossen so geil gemacht. Ein bisschen härter, ein bisschen schneller. Ich bekam nur halb mit, wie mein Atem schneller und schwerer wurde. In meiner Fantasie drückte sich Calvin an mich, mein Schwanz zwischen uns, als er mir einen runterholte. Sein Gesicht kam meinem Ohr immer näher, bevor er an meinem Ohrläppchen saugte. Er wollte mich ficken und ich … ich wollte das noch mehr.

Schlagartig öffnete ich meine Augen und stöhnte, als ich plötzlich zum Höhepunkt kam. Das hatte sich ja dann wohl geklärt. Vielleicht hatte Calvin kein Interesse daran, mit mir zu schlafen, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich mich ihm sofort und ohne mit der Wimper zu zucken hingeben würde. Ich räusperte mich, weil ich doch ein bisschen peinlich berührt war von meinen Gedanken, und wusch mich noch mal, bevor ich das Wasser abstellte.

Erschöpft trocknete ich mich ab und schlüpfte in neue Kleidung, dann ging ich in das Wohnzimmer und machte den Fernseher an. Es schneite immer noch, sagte man mir. Großartige Berichterstattung.

»Nach diesem Sturm kommt direkt der nächste, der New York City voraussichtlich innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden erreichen wird. Es wird ein kleines Zeitfenster geben, in dem Anwohner rausgehen können, um ihre Autos vom Schnee zu befreien und einkaufen zu gehen, bevor wir mit einer erneuten Schneeladung von fünfundzwanzig bis dreißig Zentimetern rechnen müssen«, sagte der Wettermann.

»Wundervoll.«

Ich stand wieder auf, ging in die Küche und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Dabei versuchte ich, mich davon zu überzeugen, dass ich mir nicht gerade einen runtergeholt hatte bei dem Gedanken an einen Polizisten, der mich heute Morgen fast in Handschellen gelegt hätte. Okay, das stimmte nicht ganz. Calvin hatte gesagt, ich zählte nicht zu den Verdächtigen, aber nachdem er mir befohlen hatte, die Stadt nicht zu verlassen, hatte er mir doch das Gefühl gegeben, von besonderem Interesse zu sein. Ich schauderte. Das war keine Position, in der ich sein wollte.

Aus einem unserer Küchenschränke lachte mich eine Dose Suppe an. Schnell entfernte ich den Deckel und schüttete die New England Clam Chowder in einen Topf. Als ich dem Inhalt beim Köcheln zusah, dachte ich über den Tag nach. Irgendwie war der Tatort seltsam gewesen. Womit war Mike attackiert worden? Einem Schlachtmesser? Die Wunde an seinem Kopf war riesig gewesen … Ich schluckte schwer, um den sauren Geschmack in meinem Hals loszuwerden. Da war noch etwas Seltsameres gewesen, es war …

»Die Katze«, sagte ich auf einmal. Das arme Tier war mit einem Seil um seinen Hals aufgehängt worden. Was sollte das? Eine Warnung vielleicht? Hatte Mike sich auf die falschen Leute eingelassen und war gerade aus Versehen reingekommen, als die Katze aufgehängt worden war? Was ich noch viel komischer fand als die Wunde oder die Katze, war, dass mir die Geschichte irgendwie bekannt vorkam.

Hastig lief ich aus meiner Küche und versuchte, mich zwischen ein paar Kartons neuer Ware vorbeizuzwängen, die ich längst hätte auspacken sollen. Mein Ziel war das Bücherregal im Wohnzimmer. Die Nachrichtensprecher diskutierten gerade über das Verbot, an der Straße zu parken, was für den morgigen Tag gelten sollte, während ich versehentlich mehrere Stapel Bücher umstieß, für die im Regal kein Platz mehr gewesen war. Eventuell hatte ich ein, zwei Mystery-Romane zu viel, in denen es um eine alte Jungfer und ihre Katzen ging. Endlich, im untersten Regalfach, fand ich, wonach ich gesucht hatte. Meine alte und abgenutzte Ausgabe von Edgar Allan Poe: Gesammelte Werke.

Literatur war seit jeher wichtig in unserer Familie. Was kein Wunder war bei meinem Vater. Zu seiner Enttäuschung hatte ich nie eine Leidenschaft für Faulkner oder Hemingway entwickelt, aber Poe hatte mir schon immer gefallen. Meine Faszination galt diesem offensichtlich schwer depressiven Mann, der eine solch gequälte Seele gehabt zu haben schien und der es geschafft hatte, daraus Kunst zu erschaffen. Wie die meisten Künstler hatte er mit seinen Werken weitaus besser nach seinem Tod verdient.

Ich ging das Inhaltsverzeichnis durch, bis ich endlich fand, wonach ich suchte. Seite 387, Der schwarze Kater. Schnell eilte ich zum Tisch, nahm meine Lupe zur Hand und fing an, zu lesen. Schwach konnte ich mich daran erinnern, die Geschichte in der Highschool gelesen zu haben, und daran, dass ich wahnsinnig verstört gewesen war. Die Details der Geschichte waren mit den Jahren verblasst und ich wollte sie definitiv nicht auffrischen, weshalb ich die Seiten auf der Suche nach der Szene mit dem Tod des Katers nur überflog. Pluto. So hieß er.

»Eines Morgens«, las ich, »legte ich kaltblütig eine Schlinge um seinen Hals und hängte es an dem Ast eines Baumes auf.«

Und da hatten wir es. Eine erhängte Katze. Die Katze in Mikes Laden war auch schwarz gewesen. Kopfschüttelnd starrte ich die Wörter in dem Buch an. Das war seltsam. Nein, es war unfassbar beunruhigend. Vielleicht bildete ich mir diesen Zusammenhang zwischen Poes Worten und den Geschehnissen bei Mike nur ein. Aber wieso war Poe dann das Erste, woran ich gedacht hatte? Nicht nur in Mikes Fall, sondern auch bei mir im Laden? Ich las weiter, ließ die Details der Geschichte wieder in mein Bewusstsein strömen. In der Geschichte ging es um einen Mann, der verrückt geworden war, nachdem er alkoholabhängig geworden war. Er hatte seine Frau umgebracht, indem er ihr eine Axt …

»In ihren Kopf …«

Da brannte etwas. Schnell rannte ich in die Küche. Das war’s dann wohl mit Mittagessen. Ich schaltete den Ofen aus und öffnete die Jalousien. Als das zu grelle Tageslicht durch die Scheibe fiel, verzog ich das Gesicht und kniff meine Augen zusammen. Mit fast ganz geschlossenen Augen öffnete ich das Fenster, damit der Rauch entfleuchen konnte.

Kurzerhand streckte ich meinen Kopf heraus und atmete tief ein. Fakt war, dass jemand Sonntagnacht bei Mike eingebrochen war und der alte Griesgram mit dem Finger auf mich gezeigt hatte. Fakt war, dass ich Dienstagmorgen ein verrottendes Schweineherz unter meinen Fußbodendielen gefunden hatte. Und Fakt war, dass ich Mike am Mittwochmorgen tot in seinem Laden gefunden hatte. Und dann war da noch die Katze. Was war bei dem Einbruch passiert? Die Detectives hatten mir darüber keine Auskunft gegeben. Ich ging davon aus, dass etwas Merkwürdiges passiert sein musste, sonst hätte jemand wie Mike nie um Hilfe gerufen. Nicht, dass ich mir vorhin viele Gedanken darüber gemacht hatte, aber der Laden hatte alles andere als leer geräumt ausgesehen. Es war alles an Ort und Stelle gewesen, soweit ich das beurteilen konnte.

Während der Topf mit der verbrannten Suppe mit Wasser volllief, fragte ich mich, was ich übersah. Was hatte Poe mit dem Ganzen zu tun? Überhaupt irgendetwas? Bildete ich mir den Zusammenhang zwischen dem, was passiert war, und seinen Geschichten nur ein? Mike und ich hatten nicht sonderlich viel gemeinsam. Uns beiden gehörte ein Antiquariat und wir lebten beide in Manhattan. Das war’s. Ich hatte zwar mal für ihn gearbeitet, aber das war Jahre her. Wir waren weder Freunde noch Feinde. Ich war 33, Mike musste bereits Mitte 50 gewesen sein. Ich war ein schwuler Mann in einer festen, wenn auch beschissenen Beziehung. Mike war hetero und war schon immer alleinstehend gewesen.

Während ich anfing, den Topf abzuschrubben, dachte ich drüber nach, ob ich Calvin anrufen sollte. Vielleicht hatte ich ein paar nützliche Gedanken für … was auch immer dieser Fall war. Mittlerweile war ich davon überzeugt, dass die Person, die mir ein Schweineherz gebracht hatte, auch hinter Mikes Tod steckte. Erschrocken hielt ich kurz inne. Könnte das Herz eine Warnung für mich sein? Aber wofür? War ich die nächste Person, die mit einer Axt im Kopf vorgefunden werden würde?

»Du bist kein Cop«, erinnerte ich mich. »Was Mike passiert ist, ist furchtbar, aber es ist nicht dein Job, den Übeltäter zu finden. Halt dich da raus, sonst wirst du noch verhaftet.«

Das würde jede normale Person davon abhalten, sich in einen Mordfall verwickeln zu lassen. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht auf meine eigene Warnung gehört. Aber ich war wütend. Wütend auf Mike, wütend auf Neil, wütend auf viele Menschen. Außerdem hatte sich jemand mit meinem Geschäft angelegt. Da fand ich es nur gerechtfertigt, dass ich mich nicht davon losreißen konnte.

Hektisch wischte ich meine Hände an meiner Hose ab und suchte mein Handy. Ich hielt es so nahe an mein Gesicht, dass ich die kleine Schrift lesen konnte, und tippte auf den Kontakt Calvin Winter, bevor ich auf das kleine grüne Telefon drückte.

Er antwortete nicht und seine Mailbox sagte mir, ich sollte eine Nachricht hinterlassen.

»Ähm, hallo. Hier ist Sebastian. Snow. Sebastian Snow …«

Er kennt deinen Namen, halt die Klappe und komm zum Punkt.

»Ich habe eine Vermutung, wer Mike umgebracht haben könnte. Es mag eventuell weit hergeholt klingen, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich es Ihnen trotzdem gern sagen. Könnten Sie mich zurückrufen?«

Schon bei der Hälfte der Nachricht fing ich an, mich wie ein Idiot zu fühlen. Immerhin war ich Zivilist, kein Polizist. Meine Gedanken würden hier nicht weiterhelfen. Menschen, die Fälle wie diese lösten, waren jene wie Neil und Calvin. Vielleicht sollte ich Neil von meinem Einfall erzählen. Falls er noch mit mir redete.

Mir wurde schlagartig bewusst, dass die Mailbox immer noch lief und ich schon eine Weile still gewesen war. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe«, murmelte ich und legte auf.

Meine Energie sackte komplett ab und ich schlief fast den ganzen Nachmittag. Was mich schließlich aufweckte, war ein Rotkardinalpaar, das in dem Baum direkt vor dem Schlafzimmerfenster ein Nest baute. Kardinäle waren ein Leben lang zusammen, wenn sie sich erst mal gefunden hatten. Das hatte ich vor ein paar Jahren gelernt, als ich hier eingezogen war. Glückspilze. Bestimmt kamen sie prächtig miteinander aus.

Immer noch erschöpft drehte ich mich auf meinen Rücken. Meine Augen schmerzten. Offensichtlich war ich mit meinen Kontaktlinsen eingeschlafen. Großartig. Das Zimmer war ziemlich dunkel und die Uhr gab an, dass es kurz nach sechs war. Das hieß, dass Neil jede Minute heimkommen würde. Langsam griff ich nach meiner Brille auf dem Nachtschrank und erhob mich, bevor ich Geräusche in der Küche hörte. Eine Schranktür ging auf, Dosen wurden verschoben … Wenn man vom Teufel sprach.

Als ich aus dem Schlafzimmer kam, kratzte ich mich abwesend am Hinterkopf. Einen Moment lang fragte ich mich, ob Calvin Neil nach seinem Alibi gefragt hatte. In der offenen Tür zur Küche blieb ich letztlich stehen und Neil drehte sich zornig zu mir um. Alles klar, Feindseligkeit war notiert.

»Hi, Neil«, sagte ich, lehnte mich gegen den Türrahmen und verschränkte meine Arme.

Er antwortete nicht. Stattdessen schlug er die Schranktür so fest zu, dass die Teller klapperten.

»Also …«

»Dein Freund hat mich auf der Arbeit besucht«, unterbrach Neil mich.

»Mein Freund?«

»Detective Winter.« Er sah mich immer noch wütend an.

»Aha.«

»Sag nicht aha, Sebby. Du hast es ihm gesagt. Du hast es ihm verdammt noch mal gesagt.«

»Was? Dass ich ein Alibi habe, das mich vor dem Gefängnis rettet?«, fragte ich. »Natürlich habe ich es ihm gesagt. Wie kommst du eigentlich dazu, auf diesem hohen Ross zu sitzen? Du musstest mir neue Kleidung zu einem Tatort bringen und du bist nicht einmal lange genug geblieben, um sicherzustellen, dass es mir gutgeht!«

»Was habe ich dir heute Morgen gesagt?«, fragte Neil und kam auf mich zu. »Ich habe dir gesagt, du sollst auf keinen Fall zu Mike gehen. Du hast es versprochen. Und was hast du gemacht? Du bist hingegangen.«

»Ich habe gar nichts versprochen. Außerdem hätte ich verletzt sein können …«

»Und das wäre deine eigene verdammte Schuld gewesen!«

Für einen Moment war ich sprachlos. Es war unvorstellbar für mich, jemals so wütend auf Neil zu sein, dass ich nicht sofort Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, wenn er in Schwierigkeiten steckte. Vorangegangene Auseinandersetzungen wären da zweitrangig. Alles, was zählen würde, wären seine Gesundheit und Sicherheit. »Du bist unglaublich«, sagte ich.

»Fick dich, Sebastian«, knurrte er zwischen seinen Zähnen hindurch. »Du hast einem Polizisten gesagt, dass ich schwul bin. Das ist jetzt offiziell. Weißt du, wie schnell sich das verbreitet? Du hast meine ganze Lebensgrundlage in Gefahr gebracht.«

Ungläubig hielt ich meine Hände in die Luft. »Sorry, ich habe kurz vergessen, dass sich alles immer nur um dich dreht, Neil. Unsere ganze Beziehung ist von Anfang an nach deinen Bedingungen gelaufen.«

»Sebby …«

»Hör auf, mich so zu nennen. Gott, ich hasse es.«

Neil schüttelte den Kopf und versuchte, sich um mich herum aus der Küche zu winden.

Um ihn aufzuhalten, trat ich einen Schritt vor. »Oh nein«, fing ich an. »Du kannst nicht einfach gehen, ohne mit mir zu reden.« Als ich eine Hand auf Neils Brust legte, schubste er mich. Mit einem ordentlichen Rums knallte ich gegen den Türrahmen, als er sich an mir vorbeischob.

»Was meinst du, wie ich mich fühle?«, rief ich ihm nach, als er in Richtung Schlafzimmer flüchtete. »Derjenige zu sein, für den du dich seit vier Jahren schämst. In der Öffentlichkeit wirst du schon nervös, wenn ich nur einen Tick zu nahe neben dir gehe.«

»Halt die Klappe, Sebastian.«

»Ich habe dich heute gebraucht, Neil«, sagte ich, als ich ihm ins Schlafzimmer folgte. »Ich hatte Angst und ich hätte verhaftet werden können. Ich hätte meinen Partner gebraucht und du bist einfach gegangen.« Verwirrt sah ich ihm dabei zu, wie er Kleidung in eine Tasche stopfte. »Wo zum Teufel willst du hin?«

»Ehrlich gesagt schlafe ich lieber in meinem Auto, als dich ansehen zu müssen, Seb.«

»Oh, das ist nett. Wirklich nett«, keifte ich. »Wir sind an einem kritischen Punkt in unserer Beziehung und du verschwindest einfach.«

»Stimmt«, sagte Neil und sah endlich auf. »Tue ich. Ich will nicht mit dir reden, ich will dir nicht zuhören. Du hast mich so wütend gemacht, Sebastian, dass … Ich kann dich nicht einmal anschreien, weil ich zu wütend bin.«

»Und was sagt das über uns, Neil?«

Was passierte hier gerade? Hatte er ernsthaft geglaubt, dass unsere Beziehung für immer ein Geheimnis bleiben würde? So konnte ich nicht leben. Die Realität, dass ich Neil aufgeben musste, wenn er sich nicht an den Gedanken gewöhnen konnte, jemals öffentlich mit mir zusammen zu sein, schmerzte.

Er antwortete mir nicht und packte stattdessen weitere Sachen ein.

»Neil«, versuchte ich es erneut, dieses Mal verzweifelter.

Wortlos schloss er die Tasche und schubste mich beiseite, als er den Raum verließ.

Ich folgte ihm wie ein Welpe. »Du willst wirklich einfach so gehen?«

Stille.

»Neil, ich kann so nicht weitermachen.« Entschlossen stellte ich mich ein wenig aufrechter hin.

Er zog seine Jacke und Schuhe an.

»Neil, verdammt noch mal!« Es war nicht möglich, zu streiten und zu diskutieren, wenn er nicht kompromissbereit war. »Wenn du jetzt gehst, tausche ich das Schloss aus.«

»Verpiss dich, Seb«, keifte er, öffnete die Tür und ging.

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