Читать книгу: «BAT Boy», страница 2

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Lucas schüttelte den Kopf.

»Willst du gleich ins Bett?«, fragte Betty.

Lucas nickte. Er drehte sich langsam um und war dabei wieder in sein Zimmer zu gehen, als er seinen Vater murmeln hörte: »Hat wohl ein Ding weg ... Solltet ihn untersuchen lassen … Der spinnt wohl, dieser zahnlose …«

»Paul, halt’s Maul!«, bellte Betty.

Sein Vater machte ein Geräusch wie ein getretener Hund. Lucas fuhr herum. Er starrte seine Eltern an. Beide starrten mit einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig Schreck und Unverständnis widerspiegelte, zurück.

Dann sagte seine Mutter geistesabwesend: »Vielleicht sollten wir jetzt besser alle ins Bett gehen.«

Lucas nickte verstört, drehte sich wieder herum und schlurfte in sein Zimmer. Er fühlte sich zum Umfallen müde – kein Wunder, bei all den seltsamen Dingen, die an diesem Tag geschehen waren. Aber Lucas fand lange Zeit keinen Schlaf, sondern grübelte über das, was er gesehen hatte, nachdem er sich zu seinen Eltern umdrehte. Er fragte sich wieder und wieder, ob er sich nur getäuscht hatte.

Die Augen seiner Mutter – sie hatten nicht belustigt geglitzert.

Ab in die Ferien


ie nächsten Tage verliefen vergleichsweise ereignislos. Lucas’ Eltern erwähnten die Sache mit keinem Wort. Er war ihnen dankbar dafür, denn er hatte wirklich keine Lust die Situation in Gedanken nochmals zu durchleben – ganz zu Schweigen davon, sie Erwachsenen, auch wenn es seine Eltern waren, zu erzählen. Wenn er jedoch in der Schule Ines über den Weg lief, versuchte er meistens möglichst unauffällig zu wirken. Lucas wusste zwar nicht, ob sie ihn damals erkannt hatte, wollte es aber auf keinen Fall zu einer Konfrontation kommen lassen, erst recht nicht in der Schule.

Das Schuljahr neigte sich schließlich seinem Ende zu. Damit würde auch eine der ersten großen Veränderungen in seinem Leben auf Lucas zukommen: der Wechsel an die Oberschule.

Er hatte sich zusammen mit seinen Eltern die eine oder andere Schule angesehen. Sie hatten sich letztendlich zusammen für ein in nicht allzu großer Entfernung gelegenes Gymnasium mit gutem Ruf entschieden. Außer Lucas würden dort auch noch einige seiner bisherigen Klassenkameraden zur Schule gehen, was ihm den Wechsel als nicht so schlimm erscheinen ließ.

Lucas’ Eltern hatten sich für die Sommerferien eine Rundtour durch Italien ausgedacht.

Als Lucas sie darauf ansprach meinte Paul augenzwinkernd: »Na, ist doch wohl klar. Wir wollen unsere Dreisamkeit noch einmal so richtig auskosten. Wer weiß, ob du im nächsten Jahr noch mit Mama und Papa in den Urlaub fahren willst, jetzt wo du ein ‘großer Junge’ bist.«

Lucas sah seinen Vater verständnislos an.

»Dreizehn ist ein wichtiges Alter«, meinte Betty träumerisch.

»Ähm, wieso?«, fragte Lucas.

»Weiß auch nicht«, antwortete sie stirnrunzelnd. »Da war was. Irgendwie bin ich immer der Meinung gewesen, dass es ein besonderes Alter ist.«

»Hat wohl damit zu tun, dass du jetzt ein Teenager bist«, sagte Paul mit feierlicher Miene. »Mein Sohn. Auch wenn du es noch so sehr möchtest. Es führt leider kein Weg daran vorbei, dass du kein Kind mehr bist.«

Lucas wollte etwas entgegnen, aber da prustete Betty schon hinter seinem Rücken los und er konnte nicht anders als mitzulachen.


Dann war es endlich so weit: Direkt nach der Zeugnisausgabe ging Lucas nach Hause und half seinen Eltern bei den letzten Vorbereitungen. Das Auto, mit dem sie die nächsten drei Wochen durch Italien gondeln würden, war schon fertig gepackt. Es ging nun nur noch darum zu überprüfen, ob auch an alles gedacht worden war.

Kurze Zeit später saßen sie alle drei zusammen im Wagen und rollten auf die Autobahn. Das erste große Stück der Fahrt verschlief Lucas auf dem Rücksitz. Er empfand die Lautstärke zwar zunächst als etwas störend. Einen Moment lang wunderte er sich darüber, warum ihm der Lärm nicht schon früher aufgefallen war, aber schließlich übermannte ihn die Monotonie der Autobahn.

Er wachte erst auf, als sie ihren Übernachtungsstopp kurz vor der österreichischen Grenze erreichten. Nach dem Abendessen stellte Lucas zur eigenen Verwunderung fest, dass er schon wieder müde war. Also ging er gleich ins Bett, während sich seine Eltern noch auf einen Drink in die Hotelbar begaben.

Während der folgenden Tage fuhren sie – mal über die Autobahn, mal über Landstraßen – kreuz und quer durch Italien. Mal gab es Kultur und mal Sonnenbaden. Dabei verloren sie jedoch nie ihr eigentliches Ziel aus den Augen: Innerhalb der ersten Woche wollten sie Apulien am Sporn des italienischen Stiefels erreichen. Paul hatte für diese Region zwei Tipps von einem Bekannten erhalten, der dort schon mehrfach Urlaub gemacht hatte. Nummer eins war ein landestypisches Hotel mit Familienanschluss, von dem der Bekannte immer geschwärmt hatte. Als Alternative war noch eine neue traumhafte Anlage direkt am Meer genannt worden.

Dort angekommen mussten sie aber erschreckt feststellen, dass Familienanschluss in diesem Fall wörtlich zu nehmen war: So hätten sie sich unter anderem das Bad mit der Wirtsfamilie teilen müssen, was sowohl Lucas als auch seine Eltern freundlich aber bestimmt ablehnten.

Leider erwies sich auch Plan B als Pleite, denn die neue Anlage war so neu, dass sie noch gar nicht komplett fertiggestellt war. Schließlich saß Lucas zusammen mit seinen Eltern in einer Trattoria und brütete dumpf über einem Stapel Landkarten.

»Es nutzt wohl letztendlich alles nichts«, sagte Paul schließlich. »Ich denke, wir müssen uns eingestehen, dass das ein Reinfall war. Was haltet ihr davon, wenn wir der Küstenstraße noch ein wenig folgen und dann noch durch den Foresta Umbra die Biege wieder hochwärts machen?«

Er wies auf einen Punkt auf der Karte.

»Mit ein bisschen Glück finden wir wenigstens auf dem ‘Teutonengrill’ noch irgendwo ein Zimmer für den Rest des Urlaubs.«

Lucas und Betty blickten missmutig drein, denn ein Urlaub auf den fein parzellierten Stränden der Touristenhochburgen rund um Rimini war nicht unbedingt das, was sie bevorzugten. Nach einigen anderen Überlegungen sahen sie aber ein, dass dies wohl die einzige Möglichkeit sein würde, überhaupt noch etwas vom Urlaub zu haben.

Es war bereits Nachmittag, als sie weiter die Küstenstraße entlang fuhren, auf der Suche nach dem Abzweig in Richtung Norditalien.

Die Landschaft, die an den Fenstern des Wagens vorbeizog, konnte man nur als traumhaft bezeichnen. Als sie aus Vieste gestartet waren, hatten sie sich noch auf Meereshöhe befunden. Jetzt hatte sich die Straße jedoch erhoben und führte an einem Steilhang entlang, sodass man hinter dem üppigen Grün der Wälder das Meer sehen konnte.

Lucas blickte traumverloren auf die schier endlose blaue Fläche, die sich in weiter Ferne am Horizont mit dem Himmel vereinigte. Plötzlich stellte sich jedoch ein Gefühl ein, das zu den sanften Bildern gar nicht passen wollte. Lucas vermutete, dass ihm durch das ständige Gekurve um die Serpentinen mehr und mehr übel wurde.

Was denn noch alles?, fragte er sich in Gedanken. Reicht es nicht, dass ich mit Helligkeit und Lautstärke nicht mehr so gut klarkomme? Muss jetzt auch noch mein Gleichgewichtssinn verrückt spielen?

»Paps, kannst du mal bitte irgendwo anhalten?«, presste er mühsam zwischen den Zähnen hervor, denn er fürchtete nun, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

»Huch, du bist ja ganz grün im Gesicht!«, stellte Betty fest, die sich zu ihm herumgedreht hatte. »Ja, Paul, fahr doch bitte mal rechts ran. Ich müsste nämlich auch mal.«

»Was denn, schon wieder? Dass ihr Frauen immer ständig auf die Toilette gehen müsst ... Wir sind doch gerade erst losgefahren«, entgegnete Paul amüsiert. Als Fahrer machte ihm die Kurverei vermutlich nichts aus.

»Falls es dich interessiert, wir sind schon über eine Stunde unterwegs. Und wenn du schon nicht für mich anhalten willst, dann tu es doch für unser Kind – oder wenigstens für deinen Wagen, damit er nicht mit unserem Mittagessen dekoriert wird!«, schnappte Betty zurück.

»Mann, war doch bloß’n Scherz«, sagte Paul. »Da vorn ist eine Haltebucht.«

Als der Wagen zum Stehen gekommen war, sprangen Lucas und Betty aus dem Wagen und gingen in verschiedene Richtungen.

Lucas stellte spontan fest, dass die Übelkeit – nun, da er nicht mehr in dem schlingernden Wagen saß – merklich nachließ. Er wählte den Weg über die Straße hin zu einer hüfthohen Mauer, die die Grenze zum Abhang darstellte. Er lehnte sich dagegen und atmete tief durch. Dabei ließ er seinen Blick über den Wald und die Küste schweifen. Mit einem Mal entdeckte er etwas, das ihn dazu veranlasste, sich unvermittelt weit über die Steinwand zu beugen, um es genauer sehen zu können.

Mit einem Aufschrei sprang Paul aus dem Wagen und erreichte zusammen mit seiner Mutter die Stelle, wo Lucas sich eben wieder aufrichtete.

»Sag mal, bist du noch ganz richtig im Kopf? Was sollte denn die Aktion?!«, herrschte ihn Paul an.

Aber Lucas drehte sich nur freudestrahlend um und sagte: »Das isses!«

»Was ist was?«, wollte Betty wissen.

»Unser Urlaub!«, jauchzte Lucas. Er wies mit der Hand auf eine schmale Straße, die zwischen den Pinien verschwand und zu einem weiter hinten gelegenen Bauwerk führte, das stark nach einem Hotel aussah.

Ein Hotel am Meer


aul neigte sich ebenfalls über die Mauer und murmelte: »Hmmm, sieht aus, als könntest du recht haben. Wahrscheinlich führt die Straße da hin. Aber vielleicht auch nicht. Meint ihr wirklich, dass wir uns auf den Umweg einlassen sollten? Es ist doch schon ganz schön spät, und wir müssen zusehen, dass ...«

Weiter kam er nicht, denn er hatte sich beim Sprechen wieder aufgerichtet. So erblickte er Lucas und Betty, die beide wie zwei Wackeldackel nickend und grinsend nebeneinander standen.

»Na ja, dann schau mer mal. Wenn’s erst mal was für diese Nacht wird, dann brauchen wir uns wenigstens darum keine Gedanken mehr zu machen.«

Sie stiegen wieder in den Wagen und bogen an der einige hundert Meter weiter einmündenden Straße ab.

Der Begriff Straße schien in diesem Fall allerdings tatsächlich etwas übertrieben zu sein, denn es war eher eine Schotterpiste, die sich hinein in den Pinienwald wand. Als sie langsam anfingen, sich Gedanken darüber zu machen, ob das Abbiegen wirklich so eine gute Idee gewesen war, kamen sie an eine Schranke, die ihnen den Weg versperrte. Dahinter standen zwei Männer, die sie neugierig musterten.

Paul stieg aus und redete auf die beiden ein. Im Versuch, entweder durchgelassen zu werden oder wenigstens eine Information zu bekommen, ob sie auf dem richtigen Weg wären, benutzte er außerdem beide Hände.

Die beiden lächelten und kauderwelschten in ihrem Süditalienisch zurück, wobei sie mindestens ebenso stark mit den Armen in alle möglichen Richtungen wedelten.

Lucas und Betty waren inzwischen ebenfalls ausgestiegen und gesellten sich dazu.

Lucas lauschte eine Weile. Dann fragte er einen der Männer auf Italienisch: »Ist das der Weg zu dem Hotel am Meer, das wir von der Küstenstraße aus sehen konnten?«

Der Angesprochene strahlte Lucas an und nickte eifrig. Er bedeutete seinem Kollegen wortreich, dass er die Schranke öffnen und die Urlauber durchlassen solle.

Währenddessen hatten sich Lucas’ Eltern zu ihm umgedreht. Beide starrten ihn an.

»Du kannst Italienisch?«, fragte Paul.

Lucas fragte sich das in diesem Moment ebenfalls.

Natürlich hatte er nirgendwo Italienisch gelernt. Warum auch? Aber wieso hatte er eben offensichtlich das Richtige gesagt? Ein Blick auf die beiden Italiener, die inzwischen neben der offenen Schranke standen und sie erwartungsvoll anblickten, bestätigte ihm dies. Also sagte er das Erste, was ihm in den Sinn kam.

»Hab ich mal irgendwo im Fernsehen gehört. Scheint ja auch geklappt zu haben«, sagte er achselzuckend und setzte sich wieder ins Auto. Innerlich empfand er die gleiche Fassungslosigkeit, wie seine Eltern sie demonstrierten.

Nach einer kurzen Wegstrecke kamen sie zu einem Parkplatz, wo sie ihren Wagen stehen ließen und zur Rezeption gingen. Dort stellte sich zu Lucas’ Erleichterung heraus, dass der Pförtner durchaus Deutsch verstand und auch sprach. So musste er nicht noch einmal ausprobieren, ob er sich wirklich auf Italienisch unterhalten konnte.

Das Hotel hätten sie sich schöner nicht wünschen können: Mehrere zweistöckige, weiß gekalkte Gebäude waren in unregelmäßigen Abständen in einen Nadelwald an der Steilküste drapiert worden. Das Haupthaus mit Rezeption, Bar, Innenhof und Restaurant befand sich direkt am Rand einer etwa 25 m hohen Klippe. Davor ragten in einiger Entfernung weitere hohe Felsen mitten aus dem azurblauen und kristallklaren Meer. Sie mussten vor langer Zeit einmal davon abgebrochen sein. Einer dieser Felsen sah tatsächlich aus wie ein Tor, durch das man in die fast grenzenlose Weite der Adria blicken konnte. Die Luft war erfüllt vom salzigen Aroma des Meeres und dem würzigen Duft des Waldes. Von überall her drang das Rauschen des Meeres und das Zirpen von Grillen an ihre Ohren.

In Lucas’ Kopf verbanden sich die Eindrücke zu einer Sinfonie aus Farben, Formen, Düften und Klängen, die ihm unfreiwillig Tränen der Rührung in die Augen trieben. Jedoch verströmte die Umgebung eine Ruhe, die nicht danach zu trachten schien, ihn zu überwältigen, sodass er es einfach nur genießen konnte.

Im Restaurant wurde ihnen ein herrliches Abendessen aus Antipasti, verschiedenen Nudelgerichten und frischem Salat serviert. Sie merkten erst jetzt, wie hungrig sie waren, und schlugen sich die Bäuche voll.

Lucas war mittlerweile so an die Geschmacksexplosionen beim Essen gewöhnt, dass es ihm immer leichter fiel, die verzückten Laute, die ihm entweichen wollten, zu unterdrücken.

Als sie im Anschluss auf ihr Zimmer geführt wurden, sahen sie, dass ihr Gepäck bereits dort war. Das Zimmer befand sich in der oberen Etage eines etwas abseits gelegenen Hauses. Zu ihrer großen Freude entdeckten sie außerdem eine riesengroße Dachterrasse, von wo sie einen fantastischen Blick über Baumwipfel und Meer hatten.

Als Lucas später auf seinem Bett lag und durch ein Fenster auf die wunderschöne Landschaft schaute, die draußen allmählich in Schatten versank, fühlte er sich unendlich glücklich und zufrieden. Um auszuschließen, dass dies alles nur ein Traum war, aus dem er wieder erwachen musste, kniff er sich kräftig in die Wange. Der sofort aufflammende Schmerz war definitiv dazu geeignet, ihn in die Wirklichkeit zurückzubringen. Leider verebbte dieser nicht wieder, sondern behielt auch Minuten später eine unangenehme Intensität.

Das kann ich so nicht lassen.

Er stand auf und ging ins Bad, um sich ein feuchtes Handtuch zum Kühlen zu holen. Wenn ihn der Schmerz nicht bereits in die Realität befördert hätte, dann wäre er spätestens beim Blick in den Spiegel dort angelangt. Das, was Lucas sah, ließ ihn vor Schreck die Augen weit aufreißen: Auf seiner rechten Wange prangte ein beachtlicher tiefroter Bluterguss. Dort, wo sich die Fingernägel in sein Fleisch gegraben hatten, befand sich sogar etwas Blut.

Verdammte Sch..., fuhr es ihm durch den Kopf. Was hab ich denn da gemacht? Hab ich wirklich so stark zugedrückt?

Aber egal, warum es dazu gekommen war, so ließ sich der Effekt doch nicht übersehen. Ein feuchtes Handtuch würde schwerlich genügen, um den Schaden, den er sich selbst zugefügt hatte, zu beheben.

Lucas blickte sich hilfesuchend um, als es klopfte.

Seine Eltern konnten das nicht sein, die hatten einen Schlüssel. Also ging er zur Tür und öffnete sie.

Draußen stand ein Zimmermädchen mit einem glänzenden Gegenstand in den Händen. Sie setzte sofort zu einem wahren Redeschwall an. Darin ging es um ihre Schwester, ihren Verlobten und eine ganze Kette von unglücklichen Umständen, die letztendlich dazu geführt hätten, dass sie es noch nicht geschafft hatte, ihnen als neuen Gästen den Willkommens-Sekt aufs Zimmer zu bringen.

Lucas versicherte ihr ebenso wortreich, dass seine Eltern ihr das nicht übel nehmen, sondern sich im Gegenteil sogar herzlich bedanken würden.

Schließlich übergab sie ihm den Sektkübel, in dem sich eine eisgekühlte Flasche befand, und verließ ihn sichtlich erleichtert.

Als er gerade die Tür geschlossen hatte, meldete sich eine Stimme aus seinem Hinterkopf: Du hast es schon wieder getan.

Was habe ich schon wieder getan?

Italienisch geredet. Du glaubst doch wohl nicht, dass die dich verstanden hätte, wenn du Deutsch gesprochen hättest. Außerdem sprach sie ja auch Italienisch.

Das hatte sie tatsächlich. Und er hatte sie verstanden. Die Erklärung, die er sich und seinen Eltern vorhin gegeben hatte, war mit einem Mal wie weggewischt. Zurück blieb nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas in ihm vorging, was er selbst nicht unter Kontrolle hatte.

Seufzend trug Lucas den Kübel zum Tisch, wo er ihn abstellte. Dabei fiel sein Blick auf das darin langsam vor sich hinschmelzende Eis.

Bingo! Das ist wesentlich besser, als nur ein nasser Lappen.

Er nahm sich drei Eiswürfel, wickelte sie in das Handtuch, das er immer noch in der Hand hielt, und begab sich wieder ins Bett. Dort fing er an, die puckernde Wange zu kühlen, während seine Gedanken um die Seltsamkeiten des Tages kreisten. Aber dann forderte der lange ereignisreiche Tag seinen Tribut, und er versank in traumlosem Schlaf.


Der nächste Morgen dämmerte golden heran, als Lucas wieder erwachte.

Er schlug die Augen auf, sah durch das Fenster das sanfte Grün der Bäume und lächelte still vor sich hin. Dann stand Lucas leise auf. Er ging auf die Terrasse, um den Anblick der aufgehenden Sonne zu genießen. Eine Weile lang stand er einfach nur da. Wie ein Schwamm sog er den Frieden dieses Augenblicks in sich hinein, als ob er ihn dort sicher für schlechte Zeiten aufbewahren wollte. Sonnenaufgänge hatte er schon immer geliebt. Da hörte er, wie sich seine Eltern noch ein wenig schlaftrunken unterhielten, und ging wieder ins Zimmer zurück, um sich umzuziehen.

Das wunderbare Gefühl von Urlaub genießend, schlenderten sie zusammen den Weg zum Restaurant entlang, um zu frühstücken. Wiederum erwies sich die Hotelanlage als gut ausgestattet. Es gab alles, was man für einen Start in den Tag gebrauchen konnte: frisch gepressten Orangensaft, eine Auswahl von Müsli und Cornflakes, verschiedene Eiergerichte und eine große Auswahl an Brot.

Das ausgedehnte Frühstück weckte Lucas’ Lebensgeister erst so richtig. Er beschloss, sich nun den Rest des Hotelgeländes anzusehen, denn dazu hatte er gestern nach der unangenehmen Fahrerei keine rechte Lust gehabt. Er ging zur Rezeption, um nachzusehen, ob es dort so etwas wie einen Lageplan der Anlage gäbe, damit er sich besser orientieren könnte. Während er dort noch am Tresen herumstöberte, hörte er plötzlich eine Stimme, die ihm das Herz in die Kehle springen ließ.

»Nee, das ist ja‘n Ding! Lucas, was machst du denn hier?«

Lucas drehte sich langsam um. Obwohl er die Stimme auf Anhieb erkannt hatte, hoffte er doch, sich zu irren.

Vor ihm stand Ines zusammen mit zwei Erwachsenen, vermutlich ihren Eltern. Alle zusammen lächelten sie Lucas freundlich an. Das brachte sein Herz dazu, wieder ein wenig langsamer zu schlagen. Er beförderte schnell ein etwas schief geratenes Grinsen in sein Gesicht.

»Hi«, sagte er nur.

Ines und ihre Eltern werteten dies offensichtlich als Zeichen seiner Überraschung, denn sie gingen nicht weiter auf diese wortkarge Begrüßung ein. Ines stellte ihre Eltern als »Tom und Diana Bunge« und ihn als »Lucas aus meiner alten Klasse« vor.

Dann verabschiedeten sich ihre Eltern mit den Worten: »Na, dann hast du ja doch noch jemanden in deinem Alter gefunden.«

Nun waren sie beide allein und Lucas fühlte das dringende Bedürfnis, sich in eine Stehlampe oder so zu verwandeln. Er fand es zwar gut hier jemanden zu haben, mit dem man gemeinsam etwas unternehmen konnte, aber musste es ausgerechnet Ines sein? Nicht, dass er sie nicht mochte. Im Gegenteil. Ines hatte ihm von allen seinen Mitschülerinnen immer am besten gefallen. Aber als er ihre Stimme gehört hatte, war sofort wieder die Sache mit Kevin und dem Teleskop aus der Halb-Vergessenheit aufgetaucht. Er fühlte schon, wie sich seine Ohrenspitzen vor Scham röteten.

Doch in diesem Moment half Ines ihm unverhofft aus der Patsche, indem sie sagte: »Schön, dass du es bist. Ich meine, stell dir mal vor, ich hätte hier Bonzo getroffen.«

Damit verflüchtigte sich der Schock vollends, sodass Lucas nicht anders konnte, als sie strahlend anzulächeln. Nicht weil er sich freute, dass sie ihn Bonzo vorzog – dem Klassenrowdie, der ständig über alles und jeden herzog. Nein, ihre Reaktion zeigte ihm, dass Ines es nicht wusste. Sie hatte ihn nicht erkannt. Also würde er ihr jetzt nicht dafür Rede und Antwort stehen müssen. Wie dumm war er gewesen, sich die ganze Zeit über davor zu drücken, ihr über den Weg zu laufen, aber egal: Das war jetzt vorbei. Es gab doch Gerechtigkeit auf dieser Welt.

Durch sein Lächeln musste auch Ines lachen. Sie machten sich zusammen auf, die Gegend zu erkunden. Ines war bereits einen Tag vorher angekommen. Sie fuhr schon seit Jahren hierher, nur dass in diesem Jahr außer ihnen nur Eltern mit kleineren Kindern hier Urlaub machten. So lernte Lucas in den folgenden Tagen jeden Winkel der Hotelanlage kennen.

Auch seine Eltern verstanden sich gut mit Ines’ Eltern. Während diese sich tagsüber am Strand oder abends in der Bar vergnügten, ging Lucas zusammen mit Ines mehr und mehr eigene Wege. Sie verbrachten die meisten Abende damit, Spaziergänge durch die Anlage zu machen oder auf Lucas’ Terrasse zu sitzen und sich über Gott und die Welt zu unterhalten.

Nach ein paar Tagen änderte sich jedoch irgendetwas. Unmerklich zunächst, aber dann doch immer spürbarer beschlich Lucas das Gefühl, dass in Ines eine Veränderung vorgegangen war, die er nicht einordnen konnte. Es war in ihren Blicken und in der Art, wie sie sprach, ja sogar in ihren Bewegungen.

Als er einen Tag später seine Mutter darauf ansprach, lächelte sie nur und sagte: »Schön, dass du es bemerkt hast, aber an der Erkenntnis musst du wohl doch noch ein bisschen arbeiten.«

Als sie Lucas’ verständnislosen Blick auffing, ergänzte sie: »Kannst du dir das nicht vorstellen? Sie hat sich in dich verliebt, mein Großer.«

Mit dieser Information hatte Lucas nicht gerechnet. Es war ihm, als ob in seinem Kopf plötzlich zwei Lautsprecher angeschaltet worden waren, von denen jeder etwas anderes von sich gab.

Die erste Stimme jubilierte: Sie liebt dich, sie liebt dich. Das Leben ist toll ...

Die zweite Stimme hingegen sah die Sache ein wenig anders: Das kann doch nicht sein. Mam verarscht dich doch. Ines kann sich doch nicht ausgerechnet in dich verknallt haben ...

Dieser Widerstreit war ihm offensichtlich vom Gesicht abzulesen, denn Betty sagte: »Du kannst mir ruhig glauben. Ich erkenne sowas ganz gut. Sogar Papa hat schon ein paar Andeutungen in der Art gemacht.«

Das ließ die zweite Stimme in seinem Kopf verstummen. Zurück blieb nur eine seltsame Leichtigkeit. Er hatte glatt das Gefühl zu schweben. Stattdessen musste er sich setzen, weil ihm auf einmal die Knie ganz weich wurden.

»Echt jetzt? Und was nun?«

»Na was denkst du denn?«, fragte Betty lächelnd zurück.

»Das wollte ich doch gerade von dir wissen«, sagte Lucas flehentlich. In seinem Bauch machte sich spontan ein ungutes Gefühl breit. Was sollte jetzt passieren? Was würde man – was würde Ines nun von ihm erwarten?

»Nein, nein«, kam es von seiner Mutter zurück. »Ich meine magst du sie denn auch?«

»Machst du Witze? Sie ist das tollste Mädchen, das ich mir vorstellen kann«, antwortete Lucas sofort. Noch während er sprach, wunderte er sich darüber, dass er es tatsächlich jemandem erzählt hatte.

»Na dann sag ihr das auch. Deine Gedanken kann sie nicht lesen.«

»Und wie!?«, entfuhr es ihm. Panik kam in ihm auf. Wie sollte er das bloß anstellen? Bei seiner Mutter eben war ihm das so rausgerutscht. Aber sich nun vor Ines hinzustellen und ihr seine Gefühle zu offenbaren kam ihm nahezu unmöglich vor. Im Geist sah er sich wie in einem dieser alten Filme vor ihr knien. Er gestand ihr seine Liebe, woraufhin Ines aber nur mäßig interessiert lächelte, sich dann umdrehte und ihn wie einen Idioten aussehen ließ.

Lucas’ Mutter holte ihn aus diesen Träumen zurück, indem sie sagte: »Versuch jetzt am besten nichts übers Knie zu brechen. Du hast jetzt eine Idee, was das mit euch zu bedeuten hat. Um ihr aber etwas in der Art zu sagen, musst du dir erst einmal deiner eigenen Gefühle klar werden. Außerdem sollte dafür auch das Drumherum stimmen.«

»Hmmmm«, überlegte sie weiter. »Du hast doch gesagt, dass Ines dir von einer einsamen Bucht erzählt hat, die sie nie besuchen konnte, weil weil man dort nur mit einem Boot hinkommt. Das wäre jetzt vielleicht die ideale Gelegenheit, um das Schlauchboot auszuprobieren. Dann hätte es Papa nicht, wie ich ursprünglich fand, völlig unnötigerweise eingepackt. Ich denke, wenn ich ihm die Umstände schildere, dann holt er es bestimmt aus dem Wagen, auch wenn wir übermorgen schon wieder los müssen.«

Das rief Lucas fast schmerzhaft ins Gedächtnis, dass dieser Urlaub und die schöne Zeit mit Ines schon so bald enden würden.

Paul war sofort Feuer und Flamme. Er sprintete zum Auto und kam schon nach kurzer Zeit mit dem riesigen Sack zurück, in dem das Boot verstaut war. Er ließ es sich auch nicht nehmen, es sofort persönlich aufzupumpen.

Lucas war dieser verschwörerische Eifer schon fast zu viel, aber auf der anderen Seite freute er sich auch auf die Bootsfahrt. Jetzt musste er nur noch Ines von seiner Idee berichten. Er fand sie schließlich lesend am Strand und erzählte ihr, dass er seinen Vater dazu überreden konnte, das Schlauchboot doch noch in Betrieb zu nehmen.

Sie blickte ihn schelmisch über den Rand ihres Buches hinweg an und antwortete in einem übertrieben altmodischen Tonfall: »Aber mein Herr. Was sollen denn die Leute denken, wenn ich mit Ihnen ganz allein auf das Meer hinaus fahre?«

Lucas hatte das Gefühl, in voller Fahrt gegen eine Mauer zu knallen, sodass er – mit einem Mal verlegen – vor ihr stand.

»Ähm, na ja, ich hatte nur gedacht, wo du doch diese Bucht noch nie ...«

»Manno, ich hab dich doch bloß auf den Arm genommen. Klar komm ich mit. Wollen wir gleich los?«

»Äh, klar«, konnte Lucas nur noch sagen.

Warum musste das alles immer nur so kompliziert sein? Dieses ständige Hin und Her, das er von seinen Eltern eigentlich kannte, kam ihm nun, da er selbst darin einbezogen war, ganz schön anstrengend vor. Ob es seinen Eltern auch so ging? Die wirkten dabei immer so locker.

Ines war inzwischen aufgestanden und hatte ihre Sachen in einem Rucksack verstaut. Gemeinsam mit Paul, der vom Aufpumpen des 2-Mann-Bootes immer noch ziemlich kaputt war, hievten sie es ins Wasser. Ines stieg ein, Lucas schob es vom Strand weg und sprang dann auch hinein. Er schnappte sich die beiden Ruder. Dann sah er Ines erwartungsvoll an.

»Ja? Was denn?«, fragte sie.

»Weißt du, wo’s langgeht?«

»Ach so, natürlich. Wir müssen uns links an der Felswand entlang halten, dann sollten wir sie in ein paar Minuten sehen.«

Lucas ruderte los. Für eine Weile saßen sich die beiden einfach nur still gegenüber und genossen den Augenblick. Das Boot glitt sanft über die fast spiegelglatte Oberfläche des kristallklaren Meeres. Über ihnen wölbte sich ein unbeschreiblich blauer Himmel, an dem hin und wieder Möwen vorbeizogen. Es dauerte nicht lange, da zeigte Ines auf einen Punkt hinter Lucas.

»Sieh mal. Das muss sie sein.«

Er drehte sich um und sah in einiger Entfernung einen Rücksprung in der zerklüfteten Steilküste. Dieser bildete eine Öffnung, die groß genug für eine Motoryacht war. Mitten darin befand sich ein aufgetürmter Haufen aus großen Felsen, die wie Bauklötze aussahen, die ein Riesen-Kind nach dem Spielen vergessen hatte. Die warme Nachmittagssonne schien in die verlassene Bucht. Bis auf das Plätschern der Ruder und den vereinzelten Schrei einer Möwe war nichts zu hören.

Lucas fühlte sich plötzlich wie ein großer Entdecker oder ein Schiffbrüchiger, der endlich das rettende Gestade entdeckt. Er musste sich den typischen Schrei »Land!« geradezu verkneifen, ruderte aber trotzdem schneller.

Es dauerte nicht lange, da waren sie am Strand der Bucht angekommen. Dort zogen sie das Boot ein Stück aus dem Wasser, setzten sich dann in den Sand und sahen sich um.

»Wow, jetzt weiß ich endlich, was ich in den ganzen Jahren verpasst habe«, brach Ines das Schweigen.

»Hmmja, wie im Paradies«, antwortete Lucas.

»Na dann gib mir mal nen Apfel, Adam.«

Lucas schoss sofort die Röte ins Gesicht. Hieß das jetzt ...? Wollte sie ...? Verdammt, warum musste das nur alles immer so schwer zu verstehen sein?

Ines schien seine Reaktion bemerkt und auch die Gedanken, die durch seinen Kopf geschossen waren, zumindest teilweise erraten zu haben, denn sie wurde ebenfalls rot. »Ich meinte einen Apfel aus dem Picknick-Korb«, sagte sie verlegen grinsend. Sie zeigte auf den Behälter, der hinter Lucas stand.

Die Situation war so absurd, dass beide mit einem Mal losprusteten. Lucas zog – immer noch lachend – den Korb zu sich heran. Er holte für Ines einen Apfel und für sich eine Banane heraus. Als er dies tat, fing Ines erneut an, prustend zu lachen und er ließ sie wieder fallen. Stattdessen nahm er sich ein paar Trauben.

Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment wunderte sich Lucas darüber, warum ihm das jetzt überhaupt nicht peinlich war. Er hatte glatt das Gefühl, dass er sich ihr gegenüber tatsächlich offenbaren konnte.

Wieder einmal fing Ines seine Stimmung erstaunlich gut auf.

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9783982064529
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