Читать книгу: «BAT Boy 2», страница 5

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Dabei hob er erneut die linke Hand.

»Ah, si, verstehe. Biste du verabredet mit Balthasar?«

»Öhm, nee. Ich wollte den Helm bloß hier lassen, damit ich ihn nicht wieder vergesse. Dann hatte ich noch spontan die Idee, mir vielleicht was zum Lesen mitzunehmen.«

Er machte eine vage Geste in Richtung der Bücherregale. Bragulia nickte.

»Iste immer gutt, von seine Wurzeln zu wisse. Na dann lass diech nicht aufhalte.«

Lucas hob die Hand zum Gruß und machte sich auf in die Richtung, aus der er vorhin gekommen war, als ihn Neumanns Stimme in seinem Kopf zusammenzucken ließ.

Stop!

Fast hätte Lucas laut nach dem Grund gefragt. Aber er konnte sich gerade noch beherrschen.

Was ist denn?, fragte er nun in Gedanken.

Du hast Vincente gerade erzählt, dass du mir den Helm hier lassen willst. Außerdem kommst du normalerweise nicht durch den Nebeneingang rein oder raus, nicht wahr?

Aber ich wollte doch bloß erklären, warum …

Ist ja auch in Ordnung. Gut, dass du so schnell reagiert hast. Aber jetzt sieh zu, dass du in den Kollegiumsraum gehst. Da müssen wir dann halt nen Moment warten, bis er weg ist, bevor wir wieder abhauen können.

So unauffällig wie möglich drehte Lucas sich in Richtung der Tür zu seiner Rechten und kramte dabei in seinem Rucksack herum. Er befürchtete, dass sein Verhalten von außen betrachtet zumindest seltsam ausgesehen haben musste. Daher versuchte er, durch das ausgiebige Herumkramen eine scheinbare Erklärung für sein Straucheln zu liefern.

»Brauchste du eine …«, kam es auch prompt von Bragulia.

»Nee danke, hab schon«, rief Lucas. Er zückte die Zugangskarte, die er schon die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte. Dann zog er sie schnell durch den Leseschlitz und betrat den dahinter liegenden Raum – darum bemüht, nicht allzu hastig zu wirken. Drinnen angekommen schloss Lucas schnell die Tür und lehnte sich dagegen. Verdammt. Es war gar nicht so einfach, in jeder der Personen, die für ihn innerhalb des letzten halben Jahres zu Vertrauten, ja fast sogar zu Freunden, geworden waren, nun potentielle Verschwörer sehen zu müssen. Er brauchte unbedingt einen Plan, wie er mit alledem umgehen sollte. Die Idee, eine Art Geheimagent zu werden, die ihm gestern noch ziemlich cool vorgekommen war, stellte sich in der Praxis als komplizierter heraus, als er es sich gedacht hatte. Lucas nahm sich vor, seinen Mentor ausführlich nach möglichen Verhaltensweisen zu befragen. Dann stieß er sich von der Tür ab und ging auf die Sitzgruppe zu, die vor dem Großbildfernseher stand. Dort ließ er sich in einen der bequemen Sessel fallen.

Was machen wir denn jetzt, solange wir warten? Und wie lange wollen wir eigentlich warten?

Nach einer kleinen Pause kam die Antwort: Ich glaube nicht, dass wir besonders lange warten müssen. Vielleicht ne Viertelstunde. Bis dahin können wir ja schon mal in deinem schicken Buch stöbern.

In diesem Moment fiel Lucas etwas ein und er fragte: Kannst du eigentlich alles sehen, was ich sehe?

Ja, solange du die Augen offen hast und dich nicht gerade auf etwas ganz anderes konzentrierst, nehme ich das wahr, was deine Augen sehen.

Ähm, was meinst du denn mit konzentrieren?

Na ja, als du vorhin total auf die Kupplung konzentriert warst, da hat alles zuerst geflackert und ist dann verblasst. Ich habe weder etwas gehört, noch gesehen. Ich schätze, wenn du es wolltest, dann könntest du mich komplett abschotten.

Aha, machte Lucas. Dann fiel ihm ein, dass es letztens mit Ines genau so gewesen war und er ergänzte: Stimmt, das habe ich sogar schon mal gemacht.

Na dann sollte ich dir wohl dankbar sein, dass du deine Sinne nach wie vor mit mir teilst, merkte sein Lehrer an.

Mach dich nicht lächerlich, antwortete Lucas sofort. Warum sollte ich das denn nicht tun?

Na, immerhin hast du mich ja noch bis gestern für nen Verbrecher gehalten – nen toten Verbrecher, um genau zu sein.

Diese Aussage traf Lucas ziemlich, zumal sie seinen eigenen Gedanken von gestern genau entsprach.

Oh, entschuldige, wenn ich irgendwie was Falsches gesagt habe, dachte Neumann.

Äh, wieso?

Du flackerst gerade.

Das klang für Lucas so seltsam, dass er unwillkürlich lachen musste.

So ist’s besser, dachte der Ältere erleichtert.

Lucas holte das Buch aus dem Rucksack. Er schlug es ungefähr in der Mitte auf, denn er wusste noch, dass sich der Hinweis auf die Merger in der hinteren Hälfte befunden hatte. Ein Inhaltsverzeichnis gab es seltsamerweise nicht. Nach einigem Blättern stieß Lucas wieder auf den Hinweis, der sein Leben innerhalb des letzten Jahres ein weiteres Mal grundlegend geändert hatte. Von einem eigenartigen Gefühl ergriffen, las er erneut die Zeilen, in denen von bei manchen Gestaltwandlern angeblich vorhandenen Fähigkeiten, andere Lebewesen in sich aufzunehmen, deren Eigenschaften anzunehmen und sogar Mischwesen aus mehreren verschiedenen Organismen zu erschaffen die Rede war. Dann kam das Ende des Teils, den Lucas damals geradezu verschlungen hatte. Was folgte, hatte ihn zu dieser Zeit nicht wirklich interessiert. Er war nur von dem Wunsch beseelt gewesen, etwas über Möglichkeiten und Gefahren des Aufnahme- und Herauslöseprozesses zu erfahren. Beim Gedanken daran musste Lucas schmunzeln, denn inzwischen hätte er durchaus ein weiteres Kapitel zum Thema Gefahren beitragen können. Man konnte offensichtlich auch Teile des anderen Organismus in sich behalten, obwohl die Gestalt desselben bereits wieder hergestellt war. Freilich bekam das diesem anderen Wesen nicht besonders gut – vor allem, wenn man sich zu weit voneinander entfernte.

Hey, Lucas. Schalt mal das Flackern ab. Ich kann nichts mehr erkennen.

Ertappt schüttelte Lucas kurz den Kopf, um seine abschweifenden Gedanken zu vertreiben. Er wandte sich wieder dem Text zu. Nach zwei weiteren Seiten wollte Lucas gerade einen Blick auf seine Uhr werfen. Es gab immer noch keinen Hinweis auf etwas, das ihnen bei der Frage, ob man seinen Lehrer gefahrlos herauslösen könnte, geholfen hätte. Doch erneut wurde er von einem Stopp! in seinem Kopf gebremst.

Schau doch bitte noch mal schnell ins Buch. Ich glaube, das könnte was sein.

Lucas tat wie ihm geheißen. Auf der rechten Seite, direkt unter der Überschrift »Mythen und Legenden«, entdeckte er einen Unterpunkt, der mit dem Titel »Heiler« versehen war. Der darunter stehende Text sagte ihnen beiden sofort, dass sie hier auf etwas Wichtiges gestoßen waren.

Auf den bisherigen Seiten haben wir uns zumindest noch in dem Bereich des Vampirismus bewegt, der durch wissenschaftliche Erkenntnisse – sollten sie sich auch auf noch so seltene Eigenschaften oder Fähigkeiten beziehen – belegt werden kann. Nun jedoch widmen wir uns einigen Gerüchten, die sich hartnäckig gehalten haben, obwohl bisher keinerlei Grundlage dafür gefunden werden konnte. Die Rede ist von besonderen Ausformungen der bereits in einem früheren Kapitel beschriebenen Merger oder Verbinder.

Angeblich soll es in früheren Zeiten Personen gegeben haben, die nicht nur in der Lage waren, sich mit anderen Menschen zu verbinden, sondern diese auch von vielfältigen Leiden zu befreien. Sie taten dies mutmaßlich, indem sie – z.B. bei schweren Knochenbrüchen – nach einer erfolgreichen Verbindung den ursprünglichen Zustand des Aufgenommenen wiederherstellten. Zu erklären wäre dies grundsätzlich dadurch, dass Knochenbrüche sich nicht in den Erbinformationen der Gene widerspiegeln. Es soll auch Hinweise darauf gegeben haben, in denen der Heiler sogar defekte Gene dergestalt verändern konnte, dass angeborene Blindheit oder andere körperliche Behinderungen verschwanden. Ein Beweis solcher Fähigkeiten würde ein völlig neues Licht auf Vorgänge werfen, die bisher nur als Wunder zu bezeichnen waren.

Lucas ließ das Buch sinken. Er keuchte auf. Hieß das etwa, dass …

Ähm, Lucas? Da du schon wieder flackerst, nehme ich an, dass du etwas Ähnliches wie ich denkst.

Kann sein. Selbst in Gedanken klang seine Stimme tonlos.

Aber wir sollten jetzt besser aufbrechen, damit unser Zeitplan nicht komplett durcheinander kommt.

Stimmt, bemerkte Lucas und erhob sich – froh über die Ablenkung. Er packte das Buch wieder zurück in den Rucksack, nicht ohne sich vorher die Seitenzahl, bei der er eben angekommen war, zu merken. Dann schulterte er den Beutel, griff sich den Helm und strebte auf die Tür zu. Als er seine Hand nach der Klinke ausstreckte, entfernte diese sich plötzlich und entzog sich so seinem Zugriff. Verständnislos starrte Lucas den Türgriff an, der mit einem Mal hinter etwas verschwand. Erst als er seinen Blick hob, stellte sich dieses Etwas als Gestalt von Ulrich Upuaut heraus. Dieser war mindestens ebenso erstaunt, direkt hinter der Tür auf jemanden zu treffen, wie Lucas es über den plötzlichen Rückzug der Klinke gewesen war. Einen Augenblick lang standen sich die beiden konsterniert gegenüber, dann lachten sie los.

»Hallo Lucas. Frohes neues Jahr«, begrüßte ihn Upuaut.

»Oh, danke Herr Upuaut. Für Sie auch«, gab Lucas den Gruß zurück. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fügte er hinzu: »Ich hatte gehofft, Herrn Neumann hier anzutreffen, denn ich schleppe schon ewig den Helm mit mir herum, den er mir mal geborgt hat.«

»Hmm, den habe ich schon eine Weile nicht mehr hier gesehen. Das sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich. Früher habe ich mal gedacht, dass er hier wohnt, weil er immer schon da war, wenn ich in die BAT kam«, erwiderte der stellvertretende Leiter der Akademie. »Und wenn gerade du nicht weißt, wo er ist, dann bin ich völlig ratlos. Du bist doch eigentlich fast immer mit ihm zusammen hier gewesen, seit du dabei bist.«

Lucas brachte äußerlich ein schiefes Grinsen zustande. Innerlich fragte er sich das Gleiche, das auch sein Mentor dachte: Was soll das denn heißen?

»Na dann werd ich mal …«, begann er, seinen Abgang vorzubereiten.

»Oh ja, schönen Tag noch«, sagte der andere augenzwinkernd. »Ich hab auch noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen.« Dabei wedelte er mit einer zusammengefalteten Ausgabe einer Boulevard-Zeitung. Als Lucas im Gehen aus dem Augenwinkel einen Blick auf den Teil der Hauptschlagzeile erhaschte, hätten ihm um ein Haar die Knie versagt. Er schaffte es jedoch, ein Pokerface zu bewahren, bis er draußen auf dem Gang war, und sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.

Froh darüber, es nicht laut aussprechen zu müssen, um nicht erneut unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dachte er: Ray, wir müssen auf dem Weg zu dir unbedingt noch so eine Zeitung kaufen. Hast du mitbekommen, welche das war?

Ja, aber was ist denn los? Neumann klang besorgt.

Vielleicht nichts … erklär ich dir später.

Inzwischen waren sie wieder an der Seitentür angekommen und verließen die BAT, ohne noch jemandem zu begegnen.

In zwei verschiedenen Räumen einige Meter unterhalb von Lucas blickte jeweils ein Augenpaar auf einen kleinen Bildschirm, der eine schlanke Gestalt zeigte. Mit einem von der Schulter baumelnden Rucksack und einem Motorradhelm in der Hand ging diese langsam über den Hof in Richtung Straße.

Rede und Antwort


ähr¥end der Fahrt zu Neumanns Loft funktionierte Lucas einfach nur, ohne richtig mitzubekommen, was um ihn herum vorging. Noch bevor er beim Motorrad angekommen war, hatte er in einem Kiosk die Zeitung gekauft. Ein Blick auf die Schlagzeile und ein darunter abgedrucktes Bild hatten seine Vermutungen bestätigt. So war er innerlich vollauf damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was er daraus machen sollte. Die immer schwächer zu ihm dringenden Rufe seines Lehrers ignorierte Lucas ebenso, wie eine Ampel, die direkt vor ihm auf Gelb schaltete. Erst, als er hinter sich eine lautsprecherverstärkte Stimme hörte, die den Motorradfahrer aufforderte, rechts ran zu fahren, holte ihn dies wieder so weit in die Wirklichkeit zurück, dass er auch Neumann wahrnahm.

Mensch Lucas. Antworte verdammt noch mal! Was ist los?, erklang die ärgerliche Stimme in seinem Kopf.

Mist, brachte er hervor. Die Polizei. Ich soll rechts ran fahren.

Fast hatte er das Gefühl, seinen Mentor sehen zu können, wie dieser mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er gerade in eine besonders große Zitrone gebissen, die Augen schloss.

Och nee, stöhnte Neumann. Aber anhalten musst du. Alles andere macht es noch schlimmer.

Aber was mach ich denn dann?, fragte Lucas mit einem Anflug von Beunruhigung.

Du zeigst ihm den Führerschein, bereust, was auch immer sie dir zur Last legen. Was …

Führerschein?! Ich hab doch keinen Führerschein, stammelte Lucas – nun ernsthaft panisch.

Oh, schh…ade, stimmt ja. Aber … kannst du mich noch … nachmachen?

Ja klar, dachte Lucas erleichtert und konzentrierte sich, während er anhielt.

»Na det war ja wohl schon fast kirschgrün«, sagte der Polizist, der inzwischen an den auf dem Motorrad sitzenden Lucas herangetreten war. »Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.«

»Ja, äh, Moment«, sagte dieser. Er begann, seinen Rucksack abzunehmen.

»Und erstma schön absteijen und den Helm abnehmen, wenn’s recht is«, forderte der Ordnungshüter.

»Ähm, okay ...«

Lucas verhaspelte sich während seiner Antwort in seinen Bewegungen und wäre fast zusammen mit dem Motorrad umgefallen.

»He, he. Nu ma langsam mit die jungen Pferde. Hamse etwa wat jetrunken?«, rief der Mann in grün. Er beäugte den Mann vor sich kritisch.

Lucas, der es doch geschafft hatte, den Seitenständer auszuklappen und abzusteigen, machte große Augen. Beschwichtigend hob er die Hände.

»Nein – nein, Herr … äh Wachtmeister.«

»Polizeiobermeister Kraft«, sagte sein Gegenüber nun in eindeutig schärferem Tonfall. »Und jetz Helm ab!«

Lucas, der das Gefühl hatte, dass Neumann bei jedem Lapsus, der ihm unterlief, gequält aufstöhnte, zwang sich zur Ruhe. Seine im letzten halben Jahr gewachsene Menschenkenntnis sagte ihm, dass diese Situation an einem Punkt angekommen war, wo sie jeden Moment kippen konnte. Wenn er Pech hatte, geschah das Kippen in eine Richtung, die bedeuten mochte, dass er zumindest den Rest des Tages auf einem Polizeirevier verbrachte.

Er nahm vorsichtig seinen Helm ab und sagte in einem möglichst ernsten Tonfall: »Entschuldigen Sie bitte, Herr Polizeiobermeister. Es ist das erste Mal, dass mir sowas passiert ist. Deshalb bin ich auch etwas aufgeregt.«

Der kritische Blick, mit den POM Kraft Lucas musterte, wurde ein wenig milder.

»Na denn zeigense jetz mal die Papiere.«

Lucas förderte aus den Tiefen des Rucksacks Neumanns Brieftasche zutage. Innerlich betete er dabei, dass er ohne Hilfe herausfinden würde, was der Führerschein und die Fahrzeugpapiere waren. Wenn er das nicht zustande brächte, dann würde der Polizist sicherlich an seinem Geisteszustand zweifeln, und ihm wäre eine Freifahrt in der Grünen Minna sicher. Zum Glück war beides gut zu erkennen. Lucas händigte Kraft die Papiere aus, der damit langsam um das Motorrad herumwanderte und anscheinend Angaben verglich. Dann kam er wieder auf Lucas zu und reichte sie ihm zurück.

»Nettet Maschinchen hamse da. Jeht bestimmt ab, wie Schmidts Katze«, sagte der Polizist im Plauderton.

Bevor Lucas antworten konnte, erklang Neumanns Stimme: Vorsicht! Stimm dem jetzt bloß nicht zu. Der will dich aufs Glatteis führen.

Froh über diese Schützenhilfe antwortete Lucas: »Och, na ja. Ist ja nicht so, als ob man das in der Stadt bräuchte. Aber es ist schön, zu wissen, dass ich könnte, wenn ich dürfte.«

Kraft ließ seinen Blick noch einen Moment auf Lucas ruhen, wie um ihn damit zu durchleuchten. »Wartense mal«, sagte er, ging zu seinem Fahrzeug und kam mit einer Apparatur zurück, die auf einer Seite ein Mundstück hatte. »Ich glaub’s zwar nich, aber der Ordnung halber pustense mal bitte hier rein.«

Lucas tat es. Der Polizist besah sich das Ergebnis.

»Na denn hat det wohl allet jestimmt, wat se jesacht ham. Okay, da lass ick mal Gnade vor Recht ergehen. Jute Fahrt. Aber sehn se zu, dass det nich nochmal passiert, sonst jibt et doch noch Punkte.«

Lucas verabschiedete sich, stieg wieder auf das Motorrad und startete den Motor. Im Losfahren hörte er auf einmal ein Geräusch, das ihn fast dazu brachte, gleich wieder anzuhalten. Aber dann erkannte er, dass es nur Neumann war, der lachte.

Was is‘n los?, fragte er ihn.

Einen Moment Gelächter später kam es von diesem zurück: Na stell dir mal vor. Ich fahr seit ungefähr fünfzehn Jahren Motorrad. Jetzt hätte ich fast mein erstes Ticket von der Polizei bekommen, obwohl ich es gar nicht war.

Stimmt, bemerkte Lucas und musste auch lachen. Das ist echt ziemlich seltsam.

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie beim Loft angekommen waren. Lucas betätigte zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen den Öffnungsmechanismus. Dieses Mal wirkte das alles schon wie Routine. Oben angekommen, parkte er die Maschine auf dem dafür vorgesehenen Platz, legte den Helm auf ein Regal und ging durch die Eingangstür in die Wohnung. Sie kam ihm zwar immer noch riesengroß, aber nicht mehr so geheimnisvoll vor. Es war fast, als käme er nach Hause.

Okay, was nu?

Jetzt holst du dir erst mal ne Cola aus dem Kühlschrank. Du brauchst bestimmt ne Erfrischung.

Ja, Papa, dachte Lucas. Er musste schmunzeln. Aber gleichwohl ging er in den offenen Küchenbereich und holte sich ein kaltes Getränk, mit dem er sich auf den Küchenboden setzen wollte.

Nee, lass uns mal besser nach oben ins Schlafzimmer gehen, merkte sein Lehrer an. Keine Angst. Da befindet sich nichts, was nicht auch für deine Augen geeignet wäre.

Lucas setzte sich in Richtung Schlafzimmer in Bewegung. Im Nachhinein kamen ihm die Vorbehalte, die er gestern noch gehabt hatte, ein wenig kindisch vor. Trotzdem war er froh darüber, nun eine offizielle Einladung erhalten zu haben. Lucas erklomm die Treppe, ging vorbei an den im Büro herumstehenden Computern und schob die Tür zum Schlafbereich beiseite. Was er dort sah, überraschte ihn einigermaßen, denn das Interieur dort vermittelte den Eindruck, sich mitten in einer flauschigen Wolke aufzuhalten. Alles war in Weißtönen gehalten. Nirgendwo waren Ecken oder Kanten zu finden. Bei dem, was er bisher von Neumann kennengelernt hatte, wäre Lucas weniger verwundert gewesen, wenn sich hier eine Art Höhle befunden hätte.

Setz dich am besten aufs Bett. Und dann hol bitte nochmal das Buch raus, dachte der Ältere. Wir sollten erst noch einmal schauen, ob da drin mehr steht, als wir schon gefunden haben.

Lucas blätterte es an der Stelle auf, die er sich gemerkt hatte, und suchte nach zusätzlichen Informationen oder Vorsichtsmaßnahmen, fand aber nichts.

Vom Buch aufblickend, dachte er: Sollen wir’s probieren? Ich meine, immer vorausgesetzt ich bin tatsächlich so ein Heiler, dann müsste ich es doch hinbekommen, dich wieder in einem Stück und ohne die Verletzung wieder aus mir rauszulassen. Und wenn nicht …

Dann können wir daran auch nichts ändern, beendete Neumann den Satz.

Lucas holte tief Luft, schloss die Augen und ließ sie langsam wieder entweichen. Während er spürte, wie sich Ruhe in ihm ausbreitete, begann er, sich darauf zu konzentrieren, die Bestandteile seines Mentors in sich zu suchen. Er ließ sich Zeit, denn er wollte nicht wieder so ein Desaster wie mit Ines erleben. Als er meinte, alles eingesammelt zu haben, sah er vor seinem inneren Auge die Gestalt Neumanns entstehen. Dann vertiefte Lucas seine Konzentration und schritt im Geist um ihn herum. Es schien alles da zu sein. Eine Verletzung am Fuß oder anderswo war allerdings nicht zu erkennen.

Bereit oder nicht – jetzt geht’s los, dachte er und leitete die Herauslösung ein. Nach einem kurzen unangenehmen Moment, in dem er sich fühlte, als ob er sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb seines Körpers befände, spürte Lucas einen Kontakt verlorengehen. Voller ängstlicher Vorahnungen öffnete Lucas die Augen und erblickte eine Gestalt neben sich auf dem Bett. Als diese sich nicht rührte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Hatte er vielleicht schon wieder etwas in sich vergessen? Oder hatte er Neumann, bei dem Versuch, ihn unversehrt herauszulösen, womöglich …?

Ein leises Stöhnen durchbrach die Stille und beendete damit Lucas‘ Befürchtungen.

Ray?, dachte er. Dann fiel ihm ein, dass ihn ja so niemand mehr hören konnte und er setzte zu sprechen an.

»Ray? Alles klar?«

Einen weiteren bangen Moment lang bekam Lucas keine Antwort. Dann jedoch regte sich die Gestalt seines Lehrers, und er murmelte: »Oh, verdammt ist das komisch, plötzlich wieder selbst etwas zu sehen, hören und fühlen. Ich hab dir zuerst ein paar Mal in Gedanken geantwortet, bevor ich geschnallt habe, dass da nicht mehr klappt.«

Zutiefst erleichtert atmete Lucas auf.

»Und? Hast du Schmerzen? Brauchst du irgendwas?«, fragte er.

»Ja. Ein halbes Schwein auf Toast«, kam es von Neumann prompt zurück. »Mann, hab ich nen Kohldampf – na ja, kein Wunder nach fast drei Tagen.«

Lucas blickte seinen Mentor verwundert an, dann brachen beide in ein erleichtertes Gelächter aus und fielen sich in die Arme. Eine Weile später ging Lucas nach unten in die Küche. Von dort holte er verschiedene Lebensmittel und Getränke, da Neumann feststellen musste, dass er mit Schwerkraft und Gleichgewicht noch nicht wieder richtig klarkam. So saßen sie dann schweigend auf Neumanns Bett und aßen. Zufällig fiel Lucas‘ Blick dabei auf die Uhr an der Wand. Er schoss hoch.

»Was‘n los?«, wollte der Ältere wissen.

»Ich muss los, sonst komme ich erst nach meiner Mutter wieder zu Hause an!«

»Oh, Mist. Ich kann dich noch nicht fahren. Da würden wir am nächsten Laternenpfahl landen.«

»Dann muss ich jetzt echt los. Kann ja nicht fliegen. Das würde mitten am Tag doch auffallen.«

»Okay, mach’s gut. Bis dann«, sagte Neumann und winkte matt. »Das, was du mir noch erzählen wolltest, kannst du ja morgen nachholen.«

Da fiel Lucas wieder die Tageszeitung ein, die er im Rucksack verstaut hatte. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit.

»Ähm, ja mach ich«, stammelte er. Dann drehte er sich auf dem Absatz um. Er rannte die Treppe hinunter und aus der Wohnung hinaus. Die ganze Fahrt nach Hause über kämpfte er mit sich, ob er den Artikel sofort lesen sollte, zwang sich dann aber, doch noch zu warten. Er wollte nicht riskieren, eventuell dadurch eine Reaktion seinerseits zu provozieren, die in der Öffentlichkeit seltsam wirken mochte.

Als Lucas schließlich wieder zu Hause ankam, war noch niemand da. Zufrieden und erleichtert holte er sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank und begab sich in sein Zimmer, um endlich zu lesen. Aber dann dauerte es noch eine ganze Weile, ehe er sich tatsächlich dazu aufraffen konnte, die Zeitung herauszuholen und aufzuschlagen. Eigentlich hatte Lucas keine große Lust darauf, dass sein Leben noch komplizierter wurde. Das würde es aber bestimmt werden, wenn er das, was er vorhin überfliegen konnte, richtig gedeutet hatte. Letztendlich machte er sich jedoch klar, dass es nicht zu wissen den Artikel nicht ungeschrieben machte. Seufzend nahm er das Bündel Papier aus dem Rucksack und schlug die erste Seite auf. Überrascht stellte Lucas fest, dass der Artikel dort nicht zu sehen war. Also war es wenigstens nicht die Schlagzeile des Tages. Das war gut, denn dann konnte es sein, dass nur in dieser Zeitung etwas stand und nicht, wie er befürchtet hatte, in allen Lokalzeitungen. Lucas blätterte weiter und fand schließlich auf Seite 5, was er gesucht hatte. Direkt neben einem verwaschen aussehenden Foto, das eine dunkle Gestalt zeigte, die sich in einem Krankenzimmer über ein Bett beugte, war eine Überschrift zu lesen: ‘Dornröschen an Neujahr‘

Berlin. Aus den Klinikum hat uns am Neujahrstag eine Nachricht erreicht, die wohl zu dem Seltsamsten gehört, was das neue Jahrtausend zu bieten hat. Kurz nach Mitternacht wurde dort eine offensichtlich komatöse Patientin eingeliefert. Das Notfallteam tat alles Menschenmögliche, um das Leben des Mädchens, das kurze Zeit am seidenen Faden hing, zu retten. Plötzlich platzte ein unbekannter junger Mann in schwarzer Kleidung in das Krankenzimmer und gab der Schlafenden einen ungestümen Kuss. War dieses Verhalten allein schon dazu geeignet, die Anwesenden in Erstaunen zu versetzen, so lässt das, was als Nächstes geschah, tatsächlich an Wunder und Märchen glauben. Das Mädchen erwachte und konnte bereits wenig später geheilt die Klinik verlassen. Allein der Geistesgegenwart eines anwesenden Pflegers ist es zu verdanken, dass uns diese unglaubliche Geschichte, verbunden mit einigen Fotos, die er selbst mit seinem Handy schoss, überhaupt zur Kenntnis gelangt ist. Das Märchen vom Dornröschen scheint wahr geworden zu sein. Jedoch war es kein Prinz in schimmernder Rüstung, der es wieder zum Leben erweckt hat, sondern ein geheimnisvoller Junge in Schwarz, der genauso schnell wieder verschwand, wie er erschienen war. Wer ist dieser Junge? Und wer das Mädchen? Steckt hinter dieser zauberhaften Episode in der Millenniumsnacht vielleicht mehr, als wir alle ahnen? Leider zeigte sich die Klinikleitung nicht auskunftsbereit, sodass wir unseren Lesern nicht die Informationen liefern können, die sie mit Recht erwarten. Aber sobald uns neue Erkenntnisse im Dornröschen-Fall vorliegen, werden wir Sie umgehend informieren.

Lucas ließ die Zeitung sinken und wusste dabei nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Dornröschen-Fall! Das klang ja so, als ob sie Verbrecher wären. Unglaublich. Aber trotzdem war es vielleicht nicht ganz so schlimm, wie es hätte sein können. Immerhin hatten sie keine Namen genannt und das hätten sie bestimmt getan, wenn sie ihnen bekannt gewesen wären. So nach dem Motto: Lucas F. aus B. und Ines B., ebenfalls aus B., wurden dabei beobachtet, als sie …

Nun gut, auch wenn seine schlimmsten Befürchtungen sich nicht verwirklicht hatten, würde er wohl nicht darum herumkommen, mit Ines darüber zu sprechen. Wenn sie nichts wusste, dann könnte sie eine unbedachte Äußerung von jemandem in der Schule oder sonst wo kalt erwischen. Lucas stutzte, als ihm bewusst wurde, dass er zwar heute nicht in der Schule gewesen war, dies jedoch nicht auch auf sie zutreffen musste. Er sprang auf, ließ die Zeitung auf den Boden fallen und lief die Treppe hinunter, um das Telefon zu holen. Unten lief er seiner Mutter in die Arme, die in diesem Moment nach Hause kam.

»Oh, Luky, dir scheint’s ja schon besser zu gehen«, begrüßte sie ihn.

»Hmmm«, brummte Lucas mit einem Lächeln und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Stimmt. Der Tag war, was das angeht, sehr ergiebig.«

Damit ließ er sie stehen und huschte zurück in sein Zimmer, bevor sie noch Fragen darüber stellen konnte, was denn so ergiebig gewesen war. Bereits während des Treppensteigens wählte der Ines‘ Nummer und lauschte gespannt dem Rufzeichen aus dem Hörer. Nach einer ganzen Weile meldete sich eine verschlafen klingende Stimme: »Hmmja? Wer’s da?«

»Ines, bist du’s?«

»Ja, wer is‘n da?«

»Oh gut, hier ist Lucas. Ich wollte nur hören, ob du heute …«


Den Rest bekam Ines nicht mit, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, verständnislos das Telefon anzustarren. Das war tatsächlich Lucas am anderen Ende der Leitung, aber er klang vollkommen anders. Fast so, als ob sie ihn am vergangenen Wochenende nicht mehrfach brüskiert hatte.

»… noch dran?«

»Äh wie?«, sagte sie. »Oh, tut mir leid. Ich bin irgendwie total verpennt. Was hattest du gesagt?«

Lucas‘ Stimme antwortete: »Ich wollte dich nur fragen, ob du heute in der Schule warst.«

»Nö. Meine Eltern haben gemeint, ich soll auf jeden Fall noch‘n paar Tage zu Hause bleiben. Die trauen mir wohl nicht ganz. Haben vielleicht Angst, dass ich nochmal zusammenklappe.«

»Aber du weißt doch jetzt, dass …«, begann Lucas.

»Ja, mir ist das klar«,unterbrach Ines ihn. »Aber denkst du, dass ich denen was von dem erzählen kann, was du mir gesagt hast? Die stecken mich doch sofort in die Klapse.«

»Okay. Da hast du natürlich Recht. Aber sag mal, meinst du, dass ich heute irgendwann mal vorbeikommen kann? Ich wollte dir noch was erzählen.«

»Klar. Wann denn?«

»Weiß ja nicht, wann du Zeit hast, aber am besten gleich.«

Ines sah an sich hinunter und musste sich ein Kichern verkneifen, als ihr Blick auf die quietschpinkfarbenen Hauspuschen in Häschenform fiel.


»Lass mir mal ne halbe Stunde Zeit, damit ich mich in einen präsentablen Zustand versetzen kann.«

»Alles klar. Dann also in ner halben Stunde«, sagte Lucas und drückte zufrieden auf die Auflegen-Taste.

Na bitte, das war doch schon mal was. Ines klang eigentlich ganz cool. Wenn das so weiterging, dann würde das Gespräch doch nicht so schwierig ablaufen, wie er befürchtet hatte. Er vertrieb sich die Zeit bis zum Losgehen mit Radiohören. Als im Programm die Lokalnachrichten angekündigt wurden, begann sein Herz, schneller zu schlagen. Nachdem dort aber kein Wort über einen Dornröschen-Fall zu hören war, beruhigte es sich wieder. Eine gute halbe Stunde später klingelte er an Ines‘ Haustür. Fast sofort wurde diese geöffnet.

»Ach, das passt ja. Wollte gerade in der Küche was holen«, bemerkte Ines leichthin, aber Lucas hatte das Gefühl, dass sie bereits dort auf ihn gewartet hatte. Er trat ein, und sie gingen gemeinsam die Treppe hinauf. Oben drehte sich Ines zu ihm um. Sie sah ihn erwartungsvoll und – wie er fand – auch ein wenig ängstlich an.

»Und? Wie geht’s dir«, fragte Ines unvermittelt.

»Oh, ganz gut. Jetzt, wo …«

Lucas brach ab, da ihm einfiel, dass niemand von Neumanns überraschender Auferstehung wissen sollte. Aber galt das auch für Ines? Immerhin war sie ja diejenige gewesen, dank der es Lucas gelungen war, die Katastrophe zu Silvester zu verhindern.

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9783982064536
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