Читать книгу: «Seewölfe Paket 24», страница 11

Шрифт:

7.

Was die kleine Crew der „Empress“ nicht wissen konnte: Dunkle Augenpaare beobachteten sie schon seit Stunden aus dem dichten, verfilzten Buschwerk der Insel Nordandros. Halbnackte Gestalten huschten durch den Dschungel, getuschelte Worte wurden gewechselt. Kanus glitten lautlos durch das Wasser der Creeks.

Nordandros war nicht unbewohnt. Indianer lebten hier. Am Morgen hatte ein Späher das fremde Schiff gesichtet und seine Entdeckung dem Häuptling des Stammes mitgeteilt.

Coanabo, der Häuptling, hatte seine Männer ausgeschickt. Sie sollten das Schiff auf seinem Kurs verfolgen und nicht mehr aus den Augen lassen. Er wollte wissen, was die Männer, die sich an Bord befanden, taten. Er traute ihnen nicht. Keinem Weißen durfte man trauen, hatte ihn die Erfahrung gelehrt, und die Gestalten an Bord des seltsamen Dreimasters hatten sich den scharfen Augen seiner Späher bereits als weiße Männer entpuppt.

Coanabo saß vor seiner Hütte und verarbeitete innerlich die Nachrichten, die ihm von seinen Spähern überbracht wurden. Acht Fremde waren auf dem kleinen Schiff: ein alter Kerl mit weißem Haar, der sich humpelnd bewegte, ein Riese mit einem großen Kinn, zwei Jungen, die sich wie ein Vogelei dem anderen ähnelten, ein sehr schlanker, fast hagerer Mann sowie drei andere Männer, die die Späher nicht genauer zu beschreiben wußten. Es waren eben ausgewachsene Männer – der eine blond, der andere dunkelblond, der dritte dunkelhaarig. Ja, und einen großen Hund hatten sie auch an Bord.

Spanier, dachte Coanabo, und sein Gesicht verfinsterte sich.

Das Schiff segelte von Norden her an der Ostküste von Nordandros entlang, dann bog es in den großen Meeresarm ein. Auch diese Botschaften wurden Coanabo übermittelt. Schließlich traf ein Kanu ein, dessen Späher ihm berichtete, das Schiff mit den drei Masten säße jetzt fest.

Gut so, dachte Coanabo. Dann beschloß er, sich das Schiff selbst anzusehen. Er kletterte in das Kanu und ließ sich von dem Späher zum Südufer bringen. Dort kauerten drei Posten im Dickicht, die das Schiff und seine Besatzung keinen Moment aus den Augen ließen.

Coanabo war ein reinblütiger Arawak-Indianer – genauer gesagt ein Lucayaner. Dieses Wort bedeutete soviel wie „Insel-Leute“ und bezeichnete einen bestimmten Stamm der Arawaks. Über sechzig Jahre alt war Coanabo, doch man sah ihm sein Alter nicht an. Er war schlank und drahtig und außerordentlich zäh. Sein Gesicht war von Wind, Wetter und mannigfachen Erfahrungen gezeichnet. Pechschwarz waren seine Augen, leicht gekrümmt die Nase, etwas aufgeworfen seine Lippen. In seiner Jugend war er ein sehr gutaussehender Mann gewesen, doch auch jetzt vermittelten seine Züge noch den Ausdruck von Stolz, Kühnheit, Klugheit und Würde. Er war ein Mann, der dazu auserkoren zu sein schien, Häuptling eines Stammes zu sein.

Vor über dreißig Jahren war es ihm mit ein paar Stammesbrüdern gelungen, von Bord eines spanischen Sklavenseglers zu fliehen. Sie riskierten ihr Leben. Sie setzten alles aufs Spiel. Doch die Götter, so war Coanabo überzeugt, waren ihnen damals wohlgesonnen gewesen. Sie hatten sie gerettet und sicher an Land geführt. Die Kerle des Sklavenfängers hatten sie nicht wiedergefunden, und auch die Haie hatten sie nicht verschlungen.

Doch die Arawaks gerieten vom Regen in die Traufe. Auf Cat Island – Gigatio Gatas Gotas – wurden sie von den Spaniern gefangengenommen und verschleppt. Nun waren sie wieder Sklaven, zur Zwangsarbeit verurteilt. Man brachte sie nach Hispaniola, und dort mußten sie in einem Bergwerk schuften.

Nie würde Coanabo diese Zeit vergessen. Er war ein an Leib und Seele gebrochener Mann gewesen, hatte sich nur noch dahinschleppen können. Seinerzeit war er überzeugt gewesen, sein Leben in der Mine zu beenden. Zwei. Jahre brachte er dort zu, war dem Tode näher als dem Leben und lernte die Spanier hassen.

Aber noch einmal meinte das Schicksal – oder der oberste Gott der Arawaks – es gut mit Coanabo. Als die Mine auf Hispaniola unergiebig wurde, sollten die überlebenden Sklaven nach Kuba verschifft werden. Auf dieser Fahrt konnte Coanabo mit seinen Stammesbrüdern noch einmal fliehen. Dieses Mal gelang es ihnen sogar, eine Jolle mitzunehmen.

Sie erreichten Cat Island und fanden dort noch Frauen und Kinder ihres Stammes vor. Mit ihnen siedelten sie nach Andros über, wo sie sich sicher fühlten – vor Spaniern, Sklavenjägern und anderen Weißen.

Auf Nordandros fanden die Lucayaner eine neue Heimat. Hier bauten sie ihre Pfahlhütten und lebten vom Fischfang und Ackerbau, unbelästigt von den Spaniern. Der Stamm mehrte sich. Coanabo wurde ihr Häuptling.

Das Kanu war am Ziel. Coanabo stieg aus und schlich mit dem Späher zu den drei Posten. Sie bewegten sich geräuschlos. Die Männer an Bord des Schiffes konnten sie weder sehen noch hören.

Vorsichtig teilte Coanabo mit seinen Händen die Zweige und sah durch die entstehende winzige Lücke die „Empress of Sea II.“. Er hörte die Stimmen der Männer, doch sie waren zu weit entfernt. Er konnte nichts von dem, was sie sagten, verstehen. Dabei beherrschte er die spanische Sprache einigermaßen gut und hätte sie belauschen können, wenn er dichter bei ihnen gewesen wäre.

„Sie sitzen fest“, murmelte einer der Posten.

„Und sie kommen nicht wieder frei“, raunte Coanabo. „Recht so.“

„Sind es Spanier?“ fragte ein anderer Indianer flüsternd.

„Noch weiß ich es nicht“, wisperte der Häuptling. „Aber bald erfahren wir es. Wir besuchen sie. Wir warten nur die Dunkelheit ab. Heute nacht kriegen wir sie.“

Carberry fluchte vor sich hin und stocherte mit einem langen Bootshaken den Grund seitlich der „Empress“ ab.

„Weich“, sagte er plötzlich. „Na, so was!“

Hasard junior hatte sich bis auf eine kurze Hose entkleidet. Er lief zum Schanzkleid, sprang über Bord, landete im Wasser und tauchte. Sein Bruder und die Männer konnten verfolgen, wie er den Rumpf der „Empress“ genau untersuchte.

Hasard junior tauchte wieder auf, hob seine rechte Hand und ließ nassen weißen Sand ins Wasser rieseln. An Bord der „Empress“ war ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung zu vernehmen.

„Hölle und Teufel“, sagte Old O’Flynn. „Wenn das ein Korallenriff gewesen wäre, hätten wir den Kahn abschreiben können.“

„Ja, wir haben noch mal Glück gehabt“, sagte der Profos.

„Das muß gefeiert werden“, sagte der Alte. „He, Mister Larsen, hol mal die Rumbuddel aus der Pantry!“

Nils Larsen verschwand in der Pantry.

„Was feiern wir denn?“ fragte Sven Nyberg.

„Na, die Tatsache, daß es kein Riff ist“, erwiderte Old Donegal. „Hast du das nicht kapiert?“

Nils war wieder zur Stelle. Old Donegal nahm die „Buddel“ von ihm entgegen, entkorkte sie und nahm einen tüchtigen Schluck zu sich. Dann reichte er die Flasche weiter.

Der Kutscher verkniff sich ein Räuspern. Daß an der „Empress of Sea II.“ andere Sitten und Bräuche herrschten als auf der „Isabella IX.“ hatte sich ja auch bis zu ihm herumgesprochen.

Carberry trank auch einen ordentlichen Schluck, gab die Flasche an Martin Correa weiter und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

„So“, sagte er. „Das hat gutgetan. Und was unternehmen wir jetzt?“

„Laß mich mal scharf nachdenken“, sagte der Alte. „Das weiß ich selber noch nicht.“

Die Rumflasche hatte über Nils und Sven den Kutscher erreicht. Der trank ebenfalls, aber nur einen kleinen Schluck. Ja, und Philip junior und Hasard junior durften „auch mal nuckeln“. Nur Plymmie und Sir John empfingen keinen Rum, das wäre Verschwendung gewesen.

„Wo bleibt denn die Buddel?“ sagte der Alte. „Ich muß nachdenken. Das kann ich nur, wenn ich mein Hirn ein bißchen schmiere.“ Hasard junior brachte ihm die Flasche wieder, und Old O’Flynn hob sie erneut an den Mund. Er trank gluckernd und versuchte, der Sache auf den Grund zu gelangen, schaffte es aber nicht ganz. Er setzte die Flasche wieder ab, gab einen satten Laut der Zufriedenheit von sich, trank noch einmal und leerte die Flasche ganz.

„He, warum läßt du nicht für uns noch was drin?“ fragte Carberry.

„Weil ich nachdenken muß“, entgegnete Old O’Flynn noch einmal. „Aber in der Pantry ist noch eine Buddel.“

Nils Larsen verschwand bereits wieder in der Pantry. Man konnte hören, wie er herumhantierte, aber auch der Fluch, den er ausstieß, war deutlich zu vernehmen. Der Kutscher folgte ihm, trat seelenruhig an eins der Schapps, öffnete es und entnahm ihm die volle Flasche.

„So“, sagte er. „Und von nun an wirtschaftet nur noch einer in der Pantry herum – der Kutscher. Klar? Alle anderen brauchen eine Sondergenehmigung.“

Nils blickte ihn überrascht an. „Aber Donegal ist der Kapitän.“

„Und ich bin der Koch und Feldscher.“

„Aye, Sir“, erwiderte Nils. „Verstanden.“

„He, was ist denn los?“ rief der alte O’Flynn. „Warum dauert das so lange mit euch? Her mit der Buddel, wir wollen noch einen gluckern!“

Nils brachte ihm die Flasche und sagte: „Der Kutscher wünscht nicht, daß alle Männer in der Pantry rumbiestern.“

Old O’Flynn blickte zum Kutscher, der einen sehr entschlossenen und energischen Eindruck erweckte. Plötzlich lachte der Alte meckernd. „Recht hat er! Die nächste Buddel holst du, Kutscher!“ Er entkorkte die Flasche, sah sie mit einem Ausdruck der Genugtuung an und nahm einen Schluck von dem scharfen, brennenden Rum zu sich. „Hoppla“, sagte er dann. „Der ist noch besser als der andere.“

Carberry nahm die Flasche entgegen. Auch er hatte gegen einen weiteren Schluck nichts einzuwenden. Ehe er aber trank, fragte er: „Na, wie ist das nun mit deiner Nachdenkerei, Donegal?“

„Mit … Ach, richtig!“ stieß Old O’Flynn hervor. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Fast hätte ich es vergessen. Ich hab’s!“

„Na, endlich“, brummte Martin Correa. „Das wurde aber auch Zeit.“

„Spann uns nicht auf die Folter“, sagte Sven Nyberg. „Wir spucken jetzt in die Hände und wuchten die ‚Empress‘ von der Sandbank, nicht wahr?“

„Nein“, erwiderte der Alte freimütig. „Ich hab’ was anderes beschlossen. Wir machen für heute Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag. Und auf einer Sandbank ist gut ruhen. Man spart den Anker.“

Der Kutscher setzte sich auf die Segellast.

„Mann, das halte ich im Kopf nicht aus“, sagte er. Er mußte wiederum an sich halten, um nicht aufzubegehren. Ihm wäre wohler gewesen, wenn sie die „Empress“ wieder flottgekriegt hätten.

Philip junior lachte leise. „Du hast wohl vergessen, was für Sprüche er auf Lager hat? Aber das ist mal wieder echt Old Donegal.“

„Ganz unrecht hat er aber nicht“, sagte sein Bruder. „Es wird doch schon dunkel.“

Old O’Flynn hatte es gehört. „Richtig“, sagte er. „Bald ist es hier stockfinster, und keiner kann mehr die Hand vor Augen sehen. Da schaffen wir es schon rein zeitlich nicht mehr, den Kahn wieder flottzumachen. Und wir riskieren, daß uns ein paar dämliche Kaimane in den Achtersteven beißen, wenn wir im Wasser arbeiten. Ja, schon gut, ich weiß, was du sagen willst, Kutscher: Wir brauchen nur zwei Trossen zum Ufer zu verfahren und um Bäume zu belegen, dann ziehen wir uns mit der Winsch selbst wieder runter von der Untiefe. Aber das braucht seine Zeit. Und nach Möglichkeit sollte man nicht mit Hast arbeiten.“

„Morgen in aller Herrgottsfrühe fangen wir an“, sagte Carberry. Er hob die Rumflasche. „Prost! Laßt uns darauf anstoßen.“

Ja, der Kutscher sah es ein: Es ging auf den Abend zu, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die „Empress“ verwarpen müssen, um sie von der Sandbank zu ziehen. Das sollte man tunlichst bei Tageslicht durchführen. Sonst saß man, sobald die „Empress“ wieder flott war, in der Dunkelheit zu schnell auf der nächsten Untiefe.

„Ist ja schon gut“, sagte der Kutscher deshalb. „Uns hetzt ja auch keiner.“ Er erhob sich von der Last und schritt auf das Schott der Pantry zu. „Aber ich schätze, gegen ein gutes Abendbrot hat keiner was einzuwenden, wie?“

„Her damit!“ rief Old O’Flynn. „Mir knurrt schon der Magen!“

„Ja, einen Happen könnte ich jetzt auch vertragen“, sagte Nils Larsen.

Carberry gab gerade die Flasche an Sven Nyberg weiter.

„Hölle, von dem Zeug kriegt man wirklich einen Mordshunger“, sagte er.

Der Kutscher arbeitete schnell und präzise. Aus der Pantry drangen himmlische Düfte – diesmal briet er kleingeschnittenes Gemüse in einer der Pfannen. Er gab ein paar Eier hinzu – Geschenke von Eric Winlow, der ihm vor der Abreise von Great Abaco im Vertrauen mitgeteilt hatte, daß die Legehennen der „Golden Hen“ zur Zeit beinah zu viele Eier produzierten.

Zu dem Gemüse-Rührei gab es Brot, Schiffszwieback, Schinken, Hartwurst, Speck und andere Leckereien. Die Zwillinge trugen alles auf, und die Männer machten sich mit Begeisterung auch über diese Mahlzeit her.

Old O’Flynn stieß zwischen dem Rührei-Gang und der „kalten Platte“ ein wohlwollendes Grunzen aus.

„Das schmeckt“, sagte er. „Und wie schnell du das hingekriegt hast, Kutscher. Alle Achtung.“

„Wenn man daran gewöhnt ist, eine große Crew zu versorgen, geht so was aus dem Handgelenk“, erklärte der Kutscher. „Aber das weißt du doch auch selbst, Donegal.“

„Ja, stimmt“, sagte der Alte. „Aber ich hatte vergessen, wie gut die Sachen sind, die aus deiner Kombüse stammen.“

„Ach, übertreib nicht“, sagte der Kutscher.

„Los, trink noch einen Schluck Rum!“ rief der Alte fröhlich. „He, Martin!“

Martin Correa reichte dem Kutscher grinsend die „Buddel“, aber der Kutscher genehmigte sich nur einen ganz normalen Schluck, nicht mehr.

„So, jetzt sind die Jungs dran!“

Der Kutscher beschloß insgeheim, sich ein bißchen an dem Alten zu rächen – wegen des besonderen „Stils“, mit dem er die Geschicke der „Empress“ und ihrer Crew zu lenken pflegte. Es würde sich schon noch eine entsprechende Gelegenheit ergeben. Natürlich noch heute abend.

Es war die richtige Stunde, um über Geister und Elfen zu plaudern. Die Dunkelheit senkte sich über das Schiff. Aus dem Dickicht von Nordandros ertönte das Quaken von Fröschen und das Zirpen von Zikaden.

Eine gute Geräuschkulisse, dachte der Kutscher, dann grinste er.

8.

Auch nach dem Essen saßen sie noch an Deck zusammen und palaverten, während die Rumflasche von Hand zu Hand ging. Die Zwillinge durften – fingerhutweise – mitziehen. Das war Old O’Flynns Order. Er vertrat die Ansicht, die Junioren müßten sich frühzeitig daran gewöhnen, ihre Kehlen zu benetzen.

Jetzt, bei Dunkelheit, warf nur noch eine Bordlampe, die sie entfacht hatten, einen gelblichen Lichtschein über das Deck. Es wurde ein bißchen gruselig. Genau das war die Atmosphäre, die der Kutscher für seine Geschichtchen brauchte.

Hin und wieder mischte sich in die Geräusche, die aus dem Urwald herübertönten, das Kreischen eines Vogels. Und den Männern und den beiden „Junioren“ entgingen auch die Schatten nicht, die über die „Empress“ hinwegsegelten.

„He, was ist denn das?“ fragte Sven Nyberg.

„Na, Fledermäuse“, erwiderte Nils Larsen. „Ist doch logisch.“

„Ist es nicht“, brummte Carberry. „Kannst du etwa erkennen, daß es Fledermäuse sind?“

„Nein“, erwiderte Nils.

„Na bitte. Was man nicht genau weiß, soll man nicht behaupten“, sagte der Profos. Der Rum hatte sein Hirn schon ein wenig umnebelt – aber wirklich nur ein ganz kleines bißchen.

„Es könnten auch Vampire sein“, sagte der Kutscher.

„Was für Dinger?“ fragte Old O’Flynn.

„Hast du noch nie etwas von den berüchtigten Blutsaugern gehört?“ fragte der Kutscher.

„Doch“, entgegnete der Alte. Er nahm schnell noch einen Schluck aus der Flasche, die gerade wieder zu ihm zurückkehrte. „Du meinst – die gibt es hier?“

„Auf Andros ist alles möglich“, erwiderte der Kutscher. „Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Vielleicht sind es auch die Chickcharnies, die durch die Nacht geistern.“

Old O’Flynn sah sich unwillkürlich nach allen Seiten um.

„Red doch keinen Quatsch“, sagte er.

Wieder überrieselte es ihn eiskalt. Er konnte nichts dagegen tun, er war für solche Spuksachen nun mal sehr empfänglich.

„Die Chickcharnies sind bahamische Elfen“, sagte der Kutscher seelenruhig. „In den Erzählungen der Eingeborenen heißt es, daß sie mit den Menschen gern ihren Schabernack treiben. Sie sollen drei Finger, drei Zehen, furchtbare rote Augen, Federn und Bärte haben.“

„Schockschwerenot“, sagte Old O’Flynn. Sein Blick huschte wieder hin und her. „Ich hab’s geahnt. Ich kenne das doch. Sie sind überall. Aber hoffentlich greifen sie die ‚Empress‘ nicht an. Jetzt, da wir hier festsitzen.“

„Kobolde“, sagte der Kutscher. „Drachen und polypenähnliche Ungeheuer – all das soll es auf Andros geben.“

„Nord-, Mittel- oder Südandros?“ fragte Martin Correa vorsichtshalber.

„Ach, einfach überall.“

„Das stand in deinem dicken Wälzer?“ fragte Carberry.

„Ja“, entgegnete der Kutscher. „Das und noch mehr. Und denkt mal an den Namen der Insel, die die Spanier ihr gegeben haben. Insel des Heiligen Geistes.“

Martin erhob einen Einwand. „Damit ist aber doch der Heilige Geist aus der Bibel gemeint.“ Er sah, daß die anderen grinsten, begriff, grinste selbst und schwieg.

Old O’Flynn hatte überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, was Martin gesagt hatte. Er nahm nur die Worte des Kutschers auf. Elfen, Kobolde, Geister und Dämonen, grausige Hexen und gräßliche Zerberusse, Polypen und Drachen, er sah sie überall. Sie krochen durch den Dschungel, glitten in die Fluten, segelten durch die Lüfte. Entsetzlich! Wieder schaute er sich hastig nach allen Seiten um.

Irgendwo stieß ein Nachtvogel jaulende Laute aus. Unter Deck der „Empress“ waren rätselhafte Laute zu vernehmen. Jetzt verging auch Carberry das Grinsen. Richtig unbehaglich wurde ihm zumute.

„Was, zum Teufel, ist das?“ fragte er.

„Das unter Deck ist Sir. John“, erwiderte Hasard junior. Er hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. „Du hast ihn selbst nach unten verbannt, Ed, hast du das vergessen?“

„Gar nichts habe ich vergessen“, brummte der Profos. Er ging nach unten und holte den Papagei. Sir John flatterte sofort zu ihm auf die Schulter und kniff ihn mit dem Schnabel ins Ohr.

„Entenärsche, lausige!“ schnarrte er. „Anbrassen und hoch an den Wind!“

„Sag mal, mußt du hier unten herumkrakeelen?“ fragte ihn sein Herrchen. „Immer mußt du für Ärger sorgen. Das nächste Mal laß ich dich gleich in den Urwald fliegen, du Rabenaas.“ Carberry ging wieder an Oberdeck. Einmal blieb er stehen und blickte sich um. War da nicht was hinter ihm? Ein Schatten? Nein, er hatte sich getäuscht. Aber unheimlich war es doch, verdammt unheimlich sogar.

Nils, Sven und Martin grinsten sich immer noch eins, weil die Zwillinge gerade mehr vom Kutscher wissen wollten. Verständlich – sie waren geradezu süchtig auf alles, was den Schleier des Geheimnisvollen hatte.

„Kutscher, erzähl uns mehr“, drängte Hasard junior. „Alles, was du über die Insel-Geister weißt.“

Da legte der Kutscher so richtig los und packte an eigener Phantasie einiges dazu. „Ach, wißt ihr, ich habe ja nicht nur den einen dicken Wälzer gelesen. Es gibt noch mehr Bücher, die sich mit den Gespenstern und den Mächten der Finsternis in der Neuen Welt befassen. Beispielsweise habe ich in einem lateinischen Werk, das ein spanischer Geistlicher verfaßt hat, höchst Erstaunliches gelesen.“

„Was, du kannst Latein?“ fragte Martin Correa. „Was kannst du eigentlich noch alles, Kutscher?“

„Dies und jenes“, erwiderte der Kutscher bescheiden. „Aber ich habe ja bei Doc Freemont so einiges gelernt. Das zahlt sich manchmal aus.“

„Der Geistliche“, sagte Philip junior. „Was war mit dem Geistlichen und seinem lateinischen Buch?“

„Der Geistliche segelte seinerzeit mit Kolumbus in der Karibik herum“, erklärte der Kutscher. Er registrierte Old O’Flynns betroffene Miene und Carberrys irritiertes Gesicht und wußte, daß er mit seinen Anekdoten auf dem richtigen Kurs lag. „Und da hat er natürlich einiges gesehen, unter anderem auch Andros. Na ja, und er schreibt eben, daß es hier Geister gäbe: Flugdrachen mit feurigen Augen, Elfen mit Bärten, drei Zehen und drei Fingern, die mit ihren Schwänzen an den Bäumen hingen und boshafte Streiche verübten.“

„Toll“, sagte Hasard junior. „Was für Streiche denn?“

„Dem Menschen, der sie auslacht, drehen sie den Hals um“, erwiderte der Kutscher. „Oder sie ziehen ihm die Ohren so lang, daß der Betreffende sie als Schal um den Hals tragen kann. Jawohl, das stand in dem lateinischen Wälzer.“

Old Donegal begann zu ächzen. Er trank noch einen Schluck Rum, aber die Flasche war schon wieder leer. Außerdem nutzte der Rum gegen das Gruseln wenig.

„Rum her“, sagte Carberry. „Kutscher, die Flasche ist leer.“

„Hasard“, sagte der Kutscher. „Würdest du die Güte haben, noch eine Flasche zu holen?“

„Klar, Sir, ich weiß auch, wo sie ist“, sagte Hasard junior. „Aber warte mit dem Weitererzählen, bis ich wieder hier bin.“

„Ja, das geht in Ordnung“, sagte der Kutscher.

Hasard junior lief zur Pantry. Old O’Flynn stieß indessen noch einen Ächzer aus. Dann legte er los: „Kutscher, halt jetzt die Klappe, verflucht noch mal, das genügt!“

„Ich berichte doch nur, was ich …“

„Davon will ich nichts mehr hören!“ tobte der Alte. „Schnickschnack! Warum hast du mir das mit den Geistern nicht schon auf Great Abaco gesagt?“

„Ich wußte ja nicht, ob es dich interessiert“, sagte der Kutscher gelassen.

Old O’Flynn stieß einen schnaufenden Laut aus. „Du wußtest es ganz genau, du Halunke! Du kennst mich lange genug, um es zu wissen! Wenn ich von diesen Chickcharnie-Dingern rechtzeitig was vernommen hätte, hätte ich mich geweigert, hierherzusegeln!“

„Man muß den Dingen wie ein Mann ins Auge sehen“, sagte der Kutscher ungerührt. „Was sollen uns ein paar Schattenwesen anhaben können? Wir sind erwachsene Männer. Und keiner von uns glaubt, daß die Biester richtig angriffslustig sind, nicht wahr?“

„Ach was“, entgegnete der Profos. „Wer glaubt schon sowas?“

„Ich“, sagte Old O’Flynn. „Und ihr habt alle keine Ahnung. Aber ihr werdet euch noch wundern. Ganz gehörig werdet ihr euch wundern.“

„Ist ja gut, Donegal“, sagte Nils Larsen. „Wir gehen eben gewissenhaft Wache und passen auf.“

„Nichts ist gut“, brummte der Alte. Er war nun doch zutiefst erschüttert. Daß die „Empress“ auf einer Sandbank saß, kratzte ihn nicht weiter, aber vor Geistern hatte er einen heillosen Respekt. Einen Heidenrespekt, wie man sagt. Und wenn schon ein Geistlicher solche Sachen über Chickcharnies und Flugdämonen verfaßt hatte, hatte die ganze Geschichte noch mehr Gewicht.

„Die Frage ist nur, wer die zweite Nachtwache übernimmt“, sagte Martin Correa. „Um Mitternacht ist schließlich Geisterstunde.“

„Ich melde mich freiwillig“, sagte der Kutscher.

„Und ich übernehme freiwillig die erste Wache“, sagte Old O’Flynn. Daß die anderen amüsiert grinsten – bis auf Carberry – störte ihn nicht weiter.

Eine Stunde vor Mitternacht setzten die Lucayaner vom Stamm der Arawaks in ihren Kanus zur „Empress of Sea II.“ über. Coanabo leitete das Unternehmen selbst, er saß in dem vordersten der fünf Kanus. Er hatte vor, das fremde Schiff auszuschlachten und die Weißen seinerseits als Sklaven zu nehmen – als Rache für das, was man ihm zugefügt hatte. Er war immer noch überzeugt, daß es sich um Spanier handelte. Wer sonst konnte wagen, mit einer Karavelle in das Inselreich von Andros einzudringen?

Das erste, was Coanabo an Bord der „Empress“ vernahm, als er mit seinem Kanu längsseits ging, war ein tiefes, sattes Schnarchen. Etwas verwundert hob er den Kopf. Dann stand er auf und spähte über das Schanzkleid. Eigentlich hatte er erwartet, daß der Wachtposten Alarm schlug und sie das Schiff im Kampf nehmen müßten. Doch der Wachtposten schlief. Es war der alte Kerl mit dem weißen Haar.

Old Donegal Daniel O’Flynn war auf Wache eingenickt. Das Mahl war zu üppig gewesen, und der Rum trug natürlich erheblich zur Müdigkeit bei. Schließlich war er nicht mehr der Jüngste – auch als werdender Vater. So schlief er denn und träumte von Elfen und Dämonen. Er sah nicht die Gestalten, die über das Schanzkleid an Bord stiegen, und er hörte auch nicht Plymmies Knurren.

Coanabo kniete sich neben den Alten und hielt ihm das Messer an die Gurgel. Die anderen Indianer huschten zu den schlafenden Gestalten, die sie nach und nach entdeckten. Plymmie sprang auf. Ihr Kopf war gesenkt, ihr Nackenhaar sträubte sich. Sie knurrte lauter, dann gab sie ein kurzes, scharfes Bellen von sich.

Old O’Flynn fuhr, unsanft geweckt, aus seinen Geisterträumen hoch. Er sah die Gestalt des Indianers neben sich und grunzte: „O Hölle, ein Chickcharnie!“

Daß es aber doch kein Chickcharnie, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut war, begriff er erst beim nächsten Lidschlag, so benommen und verbiestert war er noch.

Im Handumdrehen hatten die Indianer auch die anderen Schläfer überwältigt. Sie bedrohten sie mit Messern, Speeren, Pfeil und Bogen.

Carberry wollte aufspringen und seine Gegner packen, doch Coanabo stieß einen zischenden Warnlaut aus. Da sah der Profos, daß er Old O’Flynn als Geisel bedrohte, und er konnte nur noch „Ach, du dicke Eiche“, sagen.

Plymmie wollte sich auf die Indianer stürzen.

„Achtung!“ sagte Hasard junior, aber sowohl er als auch sein Bruder waren zu weit von der Wolfshündin entfernt.

Der Kutscher war es, der Plymmie gerade noch rechtzeitig genug packen konnte. Er hielt sie am Halsband zurück. Wäre sie vorgestürmt, hätte es zweifellos ein Blutbad gegeben. Sie knurrte immer noch und fletschte die Zähne. Schließlich aber näherten sich auch die Zwillinge – bedroht von den Arawaks – und halfen ihm, das wütende Tier festzuhalten.

Sir John flatterte hin und her und krakeelte, daß es nur so hagelte. „Hurensöhne“ und „matschäugige Seegurken“ gehörten noch zu den nettesten Ausdrücken, mit denen er die Arawaks bedachte.

„He!“ rief Nils Larsen. „Was ist los? Warum werfen wir diese Kerle nicht einfach über Bord, Donegal?“

„Ich hab’ ein Messer am Hals“, sagte Old O’Flynn.

„Ja, leider“, sagte der Kutscher. Er behielt die Nerven und ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Laßt uns lieber die Flagge streichen. Es hat keinen Zweck, daß wir jetzt um uns schlagen. Bevor wir an unsere Waffen gelangen, haben sie mindestens zwei oder drei von uns umgebracht.“

„Keinen Kampf“, sagte Sven Nyberg. „Es ist wohl besser so. Wir wissen ja auch gar nicht, was sie von uns wollen.“

„Dreimal darfst du raten“, sagte Carberry grimmig. „Entweder hauen sie uns in ihre Kochtöpfe – oder sie braten uns am Spieß.“

Coanabo hörte die Worte der Fremden und war ein wenig verwirrt. Er konnte nichts verstehen. Welcher Sprache bedienten sie sich? Das war kein Spanisch. Auch kein spanischer Dialekt. Er hätte ihn verstanden. Also waren dies keine Spanier? Aber wer dann?

Interessiert beugte sich Coanabo über Old O’Flynn.

„Hau ab“, knurrte dieser. „Solange es noch nicht zu spät ist. Du weißt nicht, was du riskierst, du Laus! Ich bin Old Donegal Daniel O’Flynn, und das hier ist mein Schiff, die ‚Empress of Sea II.‘, verstanden?“

Coanabo betrachtete im Schein der Bordlampe, die jetzt fast ganz heruntergebrannt war, Old O’Flynns Holzbein.

„Du brauchst keine großen Sprüche zu klopfen“, sagte Carberry aufgebracht. „Du hast gepennt, Mister O’Flynn, das ist ja wohl klar. Sonst hätten diese Menschenfresser sich gar nicht erst nähern können, was, wie?“

„Sie sind keine Menschenfresser“, sagte der Kutscher.

Coanabo klopfte mit seinem Messer gegen das Holzbein.

„Ein Bein aus Holz“, sagte er verblüfft.

Die anderen Indianer umringten ihren Häuptling und Old O’Flynn. Jeder von ihnen wollte jetzt das Bein aus Holz betrachten. Sie staunten, denn nie zuvor hatten sie eine solche Prothese gesehen.

„Jetzt können wir sie erledigen“, sagte Carberry.

„Nicht“, sagte der Kutscher. „Sie wollen uns nicht töten.“

„Nein“, sagte der Profos wild. „Sie wollen nur mal eben guten Tag sagen. Oder gute Nacht.“

Old O’Flynn lief zur großen Form auf. Er erhob sich, zog sich die Hose aus und schnallte das Bein ab. Er zeigte seinen Beinstumpf.

„Das ist was, nicht?“ sagte er. „Und mit dem Bein kann ich euch alle verprügeln, wenn ich will.“

„Donegal“, sagte der Kutscher. „Sei vernünftig. Es hat keinen Sinn, daß wir uns grundlos mit diesen Eingeborenen herumschlagen.“

„Na, dann eben nicht“, sagte der Alte. Er schnallte das Holzbein wieder an. Die Indianer gaben beeindruckte, anerkennende Laute von sich.

„Das ist großer Zauber“, sagte Coanabo. „Eine große Medizin.“

„Was für Männer sind das?“ fragte einer seiner Stammesbrüder ratlos.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Coanabo. „Aber wir bekommen es noch heraus, woher sie stammen und was sie hier wollen. Wir nehmen sie mit.“

„Reicht das als Vorführung?“ fragte Old O’Flynn. „Oder soll ich’s noch mal abschnallen?“

„Sie können dich nicht verstehen“, sagte Martin Correa. „Gib dir keine Mühe.“

Old O’Flynn reichte Coanabo die Hand. „Also dann – auf Wiedersehen, Kamerad. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“

Coanabo wies auf die Kanus. „Dort hinein! Wir nehmen euch mit!“

„Was sagt er?“ fragte der Alte.

„Daß er dich zu einem Umtrunk einlädt“, erwiderte der Profos wütend. „Was denn sonst? Er will ganz groß mit dir feiern, bei sich zu Hause.“

Den Mannen der „Empress“ blieb keine andere Wahl. Sie mußten in die Kanus steigen. Auch Plymmie mußten sie mitnehmen. Die Kanus legten ab, die Indianer paddelten zum südlichen Ufer von Nordandros. Sir John begleitete sie schimpfend, doch von ihm waren die Arawaks keineswegs so beeindruckt wie von Old O’Flynns hölzerner Beinprothese.

Die Kanus stießen in den Creek vor, den der Kutscher am Nachmittag als Peilpunkt genommen hatte, und den ging es nun mit kräftigem Paddelschlag aufwärts.

In dem Gewirr der nun folgenden, weiteren Flußläufe verloren Old O’Flynn und seine kleine Crew die Übersicht. Das hatte Andros mit der Tropfsteinhöhle von Great Abaco gemeinsam: Auch hier war man in einem richtigen Irrgarten gelandet, aus dem man nicht wieder herausfand – nicht ohne Hilfe.

3 351,51 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
1892 стр. 21 иллюстрация
ISBN:
9783954399925
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают