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Читать книгу: «Erinnerungen», страница 8

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An der Wiener Arbeitermittelschule unterrichtete unter anderen Otto Koenig, ein witziger und wortstarker Theaterrezensent. Das Theater war seine Leidenschaft, und als alter Sozialdemokrat wollte er auch gerne junge Arbeiter und Angestellte in diese Welt einführen. Das Fach nannte er »Dramaturgie«. Wegen dieser Dramaturgiestunden gab es bei den für die Arbeiterjugendbildung Verantwortlichen regelmäßig Verdruss. Der Arbeitermittelschule insgesamt stand man sehr positiv gegenüber, aber Robert Danneberg, eine der großen Persönlichkeiten der Partei, hat immer wieder gefragt: »Wozu braucht ein Arbeiterbub Dramaturgie?« Ich antwortete dann, dass das in Wirklichkeit qualifizierte Literaturgeschichte sei, die da auf besondere Weise vorgetragen werde. Ganz überzeugen konnten wir Danneberg wohl nicht.

Warum ich diese Episode erzähle? Weil aus dieser Arbeitermittelschule einer der bedeutendsten Dramatiker des modernen Österreich hervorgegangen ist: Fritz Hochwälder. Ich lernte ihn in den Dreißigerjahren kennen. Er war damals arbeitsloser Tapezierer – man soll über Tapezierer keine voreilige Meinung haben - und trug in den Jugendgruppen unter dem Titel Ernstes und Heiteres Stücke vor. Die Arbeiterbildungsbewegung zahlte für solch einen Abend fünf, manchmal sogar zehn Schilling. Das Niveau war sehr unterschiedlich. Viel Erfolg hatten diejenigen, die alte Kalauer vortrugen und damit besonders bei den älteren Leuten Anklang fanden, während die Jungen kritischer waren. Hochwälder war sehr geschätzt. Er trug Brecht, Tucholsky, Becher, Mehring, Kästner und andere vor. Eines der schönsten Gedichte, das ich bei einer solchen Gelegenheit zum ersten Mal hörte, war die Ballade von den Augen des Heizers von Jiří Wolker. Sie schildert die Tragik eines Mannes, der eine Dampfmaschine bedient, damals die übliche Energiequelle der Industrie. Mit jeder Schaufel Kohle warf er ein Stück seiner Augen in die Glut.

Wenn aus der Arbeitermittelschule mit ihrem Fach »Dramaturgie« auch nur ein Dichter oder Gelehrter vom Format Fritz Hochwälders hervorgegangen ist, dann hat sie sich gelohnt. Darüber hinaus aber gab die Arbeiterkulturbewegung den Menschen ein Gefühl für das, was man heute als »Lebensqualität« bezeichnen würde. Die Institutionen dieser Bewegung haben das Leben für sie erst lebenswert gemacht; Lebensqualität war also kein Luxus, sondern eine existentielle Frage. Die meisten waren arbeitslos, und wenn sie nur ein Stück Brot und eine Erbsensuppe hatten, waren sie zufrieden.

Glücklich waren sie, wenn wir ihnen am Sonntagvormittag in einem gemieteten Kino die Dreigroschenoper oder einen der großen Filme von G. W. Pabst vorführten; als Arbeitslose konnten sie sich eine Kinovorstellung nicht leisten. Wir haben große und kleine Arbeiterbüchereien aufgebaut, in denen Werke zur Verfügung standen, die die öffentlichen Bibliotheken gar nicht erst anschafften, und wir haben den Menschen die Möglichkeit geboten, mit den »Naturfreunden« hinaus in die Natur zu kommen. Dieser Verein – die Grünen von damals – wurde zum Kern einer gewaltigen Massenbewegung; »weg von den Wirtshäusern« lautete die Parole. Auch gesundheitspolitisch war diese Bewegung bedeutsam; Wien galt als die Stadt der Tuberkulose, die auch »Morbus Viennensis« genannt wurde.

Die Arbeiterbewegung wurde für viele zur neuen, zur eigentlichen Heimat. Man vermittelte ihnen das Gefühl, dass ihr Leben trotz allen Elends menschenwürdig sei, und der alte Heimatbegriff verblasste immer mehr. Er hatte seine materielle Berechtigung verloren; das Leben in der »Heimat« wurde für Hunderttausende Arbeitslose immer schwieriger. Aus der Erinnerung an diese Jahre und aufgrund meiner Erfahrungen in Skandinavien war es eine zentrale Idee meiner Politik nach dem Krieg, den Begriff eines neuen österreichischen Patriotismus zu verwirklichen. Ich habe immer wieder gesagt: Was wir Sozialdemokraten wollen, ist, Österreich zu einer guten Heimat des Volkes zu machen. Mit diesem »Österreichischen Weg«– das war die Parole – haben wir immer wieder die Mehrheit gewonnen, und wenn ich vor älteren Leuten, die wussten, wovon ich redete, sagte: »Niemals ist es so vielen Menschen so gut gegangen wie jetzt in Österreich«, erntete ich immer stürmischen Beifall.

Verglichen mit heute war die Jugendbewegung meiner Zeit nicht nur zahlenmäßig stark, sondern genoss auch innerhalb der Partei eine sehr viel größere Wertschätzung. Da die Partei sich in Opposition befand und im Kampf gegen eine politische Übermacht stand, bedurfte sie zur Durchführung ihrer politischen Arbeit dringend der jungen Menschen. Heute vermissen viele in der Bewegung das Kämpferische. Es ist sehr schwer für junge, aktive Kräfte, in einer Partei zu wirken, die als Koalitionspartner Regierungsverantwortung mitzutragen hat. Regiert die Partei allein, wird sie immer unter dem Zwang stehen, ihre politischen Entscheidungen den kritischen jungen Leuten aus den eigenen Reihen zu erklären. In einer Koalition mit sogenannten bürgerlichen Parteien aber muss sie nicht nur ihre eigene Politik rechtfertigen, sondern auch die Politik des Koalitionspartners, und es ist schwer, jungen, politisch kämpferischen Menschen die diffizilen Manöver in einer Koalitionsregierung plausibel zu machen. Die Jungen legen dies schnell als politische Schwäche aus, berufen sich auf den einstigen Kampfgeist der Bewegung und üben härteste Kritik an der Partei, was aber nur dazu führt, dass diejenigen vertrieben werden, die sie durch diese Kritik zu gewinnen vorgeben. Die These, dass man junge Leute leichter gewinnt, wenn man sich kämpferisch zeigt, ist falsch; was soll einen jungen Menschen veranlassen, sich einer Partei anzunähern, von der er bestenfalls sagen kann, dass sie die Tätigkeit der Jungen toleriert.

Heute gibt es allerdings eine neue politische Situation, die es der sozialistischen Jugendbewegung leichter macht, den kämpferischen Geist der Jungen voll zum Einsatz zu bringen, ohne dabei den Zusammenhalt mit der Partei aufs Spiel zu setzen. Im Vordergrund steht das sehr berechtigte Interesse an der Erhaltung des Friedens. Ohne mich an dieser Stelle lange mit einer sehr komplizierten Materie auseinanderzusetzen: Es geht ganz einfach um das Leben auf diesem rollenden Planeten. Den tiefen Zukunftspessimismus der Jungen verstehe ich gut. Da ich in meinem Leben Zeuge furchtbarer Ereignisse war, sage ich mir, wenn nur ein Bruchteil dessen, was an sträflichem Leichtsinn, an grenzenloser Dummheit und an politischen Verbrechen zwischen den beiden Weltkriegen geschehen ist, wieder geschieht, dann ist das Unglück tatsächlich unaufhaltsam. Hier sehe ich die große Aufgabe der jungen Generation: Sie darf sich nicht irre machen lassen, auch nicht von Politikern, die sich aus sogenannten realpolitischen Erwägungen möglichst wenig Opposition wünschen. Das ewige Beschwichtigen und Beschwören, man möge doch die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nicht stören, darf uns nicht davon abhalten – als echte Freunde Amerikas –, wo es notwendig ist, unsere Meinung zu sagen. Es handelt sich ja in Wirklichkeit nicht um das Wohl Amerikas, sondern um die politischen Ansichten seiner herrschenden Administration. Die Einstellung, dass man um keinen Preis Kritik an dieser Administration üben dürfe, entspringt demselben Geist, mit dem man 1914 und 1938 in das Unglück rannte – nur mit dem Unterschied, dass dieser Geist damals als offizielle Politik Österreichs und Deutschlands galt. Gerade weil wir wissen, wie wenige es damals waren, die die Schuld an dem Unglück trugen, und dass es heute vieler Millionen bedarf; um eine ähnliche Entwicklung zu verhindern, dürfen wir die Auseinandersetzung nicht scheuen. In solchem Engagement sehe ich die Aufgabe der Jungen. Das Maß, in dem sich die Sozialdemokratie hier einsetzt, wird über ihre Zukunft entscheiden. Sie muss klare Fronten beziehen und darf keinen Zweifel aufkommen lassen, ganz gleich, ob sie in der Regierung oder in der Opposition ist. Es hat geradezu die Bedeutung einer Vision, sich vorzustellen, dass die Sozialdemokratie ein echter Faktor einer permanenten Friedensbewegung wird. Trotzki sprach einmal von der Notwendigkeit der »permanenten Revolution«. Wir müssen überzeugend dartun, dass wir für den permanenten Friedenskampf sind, dass wir durch unsere Politik das Leben in Frieden gewährleisten.

Ein anderes großes Gebiet, auf dem die Jungen sich engagieren können, ohne dabei mit der Sozialdemokratie in Konflikt zu geraten, ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Der Anteil der Jugendlichen unter den Arbeitslosen ist überdurchschnittlich hoch. Es muss von Sozialdemokraten und demokratischen Sozialisten ein sehr viel gründlicheres und sehr viel wirksameres Eingreifen verlangt werden. Auch sollte man weniger beckmesserisch an die Probleme herangehen. Über John Maynard Keynes schrieb der berühmte österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter 1946, dass er am Anfang immer eine Vision gehabt habe. Selbst die Ökonomen kommen ohne Visionen nicht aus, nicht einmal die konservativsten; sie sprechen sogar von »monetaristischer Revolution«. Es ist schon bemerkenswert, dass, während man sich in Europa hütet, das Wort Revolution zu verwenden, es in den Vereinigten Staaten bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit gebraucht wird. Es scheint ähnlich einem Muttermal zu sein: Man wird es nicht los.

Wenn also selbst die Ökonomie ohne Visionen nicht auskommt, so müssen erst recht wir demokratischen Sozialisten im Hinblick auf die ökonomische Entwicklung den Mut zu Visionen haben. Wie anders sollten wir der Situation in unseren modernen Industriestaaten mit Mitte der 1980er Jahre über dreißig Millionen Arbeitslosen – in den OECD-Staaten – Herr werden? Wir müssen uns um die dauernde Aktualisierung des Problems bemühen und konkrete Vorschläge zu seiner Überwindung machen. Dabei dürfen wir uns vor einer phantasievollen Politik nicht scheuen. Für konservative Ökonomen ist die Arbeitslosigkeit ja nur mehr ein als Dauererscheinung akzeptiertes Phänomen, geradezu eine innere Notwendigkeit unseres Wirtschaftslebens.

Ein drittes Feld, auf dem es der politischen Vitalität der Jungen bedarf, betrifft die Umweltpolitik. Die Problematik ist durchaus neu: Man hat die Umweltpolitik bisher meist als kommunalpolitische Angelegenheit betrachtet, als Aufgabe von Naturschutzvereinen. Doch auch diese Frage ist für die Zukunft unserer Welt von entscheidender Bedeutung: Sind wir in der Lage, die Produktionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, vom reinen Profitdenken wegzubringen, ein neues Verhältnis von Ökonomie und Ökologie zu entwickeln und dadurch Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, wie es sie bisher nicht gab? Gelingt dies, dann wird man auch von dieser Seite der Arbeitslosigkeit zu Leibe rücken können.

Eine letzte Frage von entscheidender Bedeutung, die ich hier anschneiden möchte, ist die Frage nach neuen Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den Ländern der Dritten Welt. Wir haben auf diesem Gebiet einen totalen wirtschaftlichen und politischen Bankrott erlebt. Alles, was sich als unwirksam erwiesen hat, muss über Bord geworfen werden, vor allem auch die These, dass Entwicklungshilfe nichts mit der eigenen Wirtschaft zu tun habe. Entwicklungshilfe kann nur wirksam sein, wenn ihre Bedeutung für die eigene Wirtschaft erkannt wird. So wie wir heute bereits die Möglichkeiten unseres Produktionsüberschusses im Hinblick auf die Staaten der Dritten Welt überlegen, so müssen wir uns auch daran gewöhnen, den großen Überschuss an Intellektuellen, den uns die kulturelle Demokratisierung schafft, in Entwicklungsländer einzubringen. Die europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts haben Hunderttausende Bürger zu Soldaten gemacht, die der Eroberung und Erhaltung ihrer Kolonialgebiete dienten. Damit ist es vorbei. Und könnte uns eine schönere und nützlichere Aufgabe zufallen als die, Ärzte, Lehrer und Leute aus anderen Berufen, von denen wir bald viel zu viele haben werden, dazu zu bringen, in die Welt hinauszuziehen und dort zu helfen, wo an diesen Berufen Mangel herrscht? Wir haben oft von einem neuen Menschenbild gesprochen. Hier könnten wir es mitgestalten, und zwar im globalen Sinne.

Die Sozialdemokratie in den Zwanzigerjahren

Die österreichische Sozialdemokratie – zumindest ihre theoretisch denkende Jugend – träumte von einer Revolution, einer sozialdemokratischen Revolution, was für viele in der Welt draußen als Widerspruch in sich gilt. Was soll man sich darunter vorstellen, wie sollte die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus, noch dazu in einem bettelarmen Land, aussehen? Oder anders herum gefragt: Wie stellte sich dem 18-jährigen Aktivisten der SAJ diese Revolution konkret dar? Vor allem als ein eindeutiger Auftrag an die Sozialdemokratie, die Geschäfte des Staates zu besorgen, und zwar so, wie es im Linzer Parteiprogramm von 1926 mit der für mich nötigen Eindeutigkeit festgeschrieben war. Nur hatte das Linzer Parteiprogramm einen furchtbaren verbalen Fehler: den Satz von der »Diktatur des Proletariats«, der der Partei wie ein Brandmal anhaftete. Es hieß dort: »Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.« Es wird bestritten, dass dieser Satz von Otto Bauer stammt, aber ich schließe mich doch denen an, die meinen, dass die Dialektik, die sich um dieses Wort herum rankt, eine typisch Otto Bauersche gewesen ist. Es war eine gefährliche Formulierung, und sie stand im Gegensatz zu allem, was im Programm zu lesen war: Die Demokratie sollte gefestigt, am Proporzsystem sollte nicht gerüttelt werden. Die wesentliche Voraussetzung der Machteroberung war eine so starke Veränderung des Bewusstseins der Menschen, dass sie bei den Wahlen gar keine andere Möglichkeit hatten, als sich diesmal im Unterschied zu 1919 für die Sozialdemokratie zu entscheiden.

Einer der »Linkesten« der Linken in der österreichischen Sozialdemokratie, der bekannte Philosoph, Neokantianer und Marxist Max Adler, hat sich in seiner Staatsauffassung des Marxismus, einem der Standardwerke des Austromarxismus, große Mühe gegeben, den Begriff der »Diktatur des Proletariats« zu demokratisieren. Mir schien dieser Versuch nicht gelungen zu sein. Andererseits glaube ich, dass der »Verbalradikalismus« sehr dazu beigetragen hat, die Spaltung der österreichischen Sozialdemokratie zu verhindern. Dabei hat es sich nicht, wie man heute sagen würde, um ein semantisches Manöver gehandelt, sondern um echte Überzeugung. Indem Max Adler immer wieder die Irrwege des russischen Kommunismus schilderte hat er Tausende junger, theoretisch interessierter Sozialdemokraten daran gehindert, sich dem Kommunismus anzuschließen.

Um die Vorstellung von der sozialdemokratischen »Revolution« richtig zu verstehen, muss man wissen, dass die österreichische Sozialdemokratie in der Sozialistischen Internationale eine besondere Rolle gespielt hat. Die Spaltung in einen demokratisch-sozialistischen und einen kommunistischen Zweig, die für fast alle europäischen Länder bezeichnend war, hat in Österreich niemals wirklich stattgefunden. In Deutschland hat diese Spaltung zu einer großen kommunistischen Partei geführt; in der Tschechoslowakei waren die Kommunisten die stärkste Partei, weil in ihr alle Nationalitäten der neuen Republik vereinigt waren; und in Norwegen wollten Sozialisten und Kommunisten sogar geschlossen zur Komintern übertreten. Die damit verbundenen theoretischen Auseinandersetzungen haben natürlich auch die österreichische Sozialdemokratie stark beschäftigt, aber wir hatten das Glück, dass auf der Linken zwei Männer standen, die entschiedene Gegner des Kommunismus waren: Otto Bauer und Friedrich Adler.

Diesen beiden Männern vor allem ist es zu danken, dass sich in Österreich nicht wie in Ungarn oder München die Räterevolution ereignet hat. Sie haben es fertiggebracht, dass in der berühmten Sitzung des zentralen Wiener Kreisarbeiterrats vom 13. Juni 1919 nach heftigen Diskussionen die Ausrufung der Räterepublik nach dem Vorbild von München und Budapest mit großer Mehrheit abgelehnt wurde: Ein Wunder hatte sich ereignet. Otto Bauer und Friedrich Adler haben überzeugend dargelegt, dass man ohne die Kohle aus den Nachbarländern nicht länger als eine Woche überleben werde. Nicht nur Frankreich wollte seinen Sieg über Deutschland auskosten – England war hier viel zurückhaltender, wie man den Erinnerungen des Grafen Ottokar Czernin entnehmen kann –, sondern auch die neuen kleinen Sieger wollten ihren Triumph haben, und der sollte sich in Aktionen gegen das zerschlagene Österreich manifestieren. Auch wenn nach außen hin Staatskanzler Karl Renner als Exponent der sogenannten »Rechten« die führende Rolle gespielt hat, in der Partei selbst hat die Linke gesiegt. Und es war das historische Verdienst der Linken, dem Drängen von Béla Kun, dem Führer der Räterepublik in Ungarn, standgehalten zu haben. Die erste große Spaltung in der Geschichte der Sozialistischen Internationale war die Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Sie fand 1903 in Brüssel und London statt. »Bolschewik« ist ja historisch kein Schimpfwort, sondern so nannten sich diejenigen, die auf diesem II. Parteitag die Mehrheit errangen (von russisch bolschinstwo, »Mehrheit«). Zu ihnen gehörte vor allem Lenin. Die Menschewiken waren die Minderheitler; und zu ihnen zählten so gelehrte Marxisten wie Plechanow, Axelrod und Martow. Zwischen beiden Gruppierungen gab es zwar ein ständiges Hinüber und Herüber, aber vom Londoner Parteitag an war die russische Sozialdemokratie tief gespalten.

Lenin war kürzere, Trotzki längere Zeit in Österreich-Ungarn im politischen Asyl. Leo Trotzki hat in Österreich sogar Dauerasyl genossen und war ein häufiger Gast im Café Central, wo er hinter einem Berg von Zeitungen regelmäßig seinen Kaffee trank.

Es gibt Wissende, die meinen, wenn Trotzki in den Tagen der Revolution nicht zu Lenin gestoßen wäre, hätte sie einen anderen Verlauf genommen. Jedenfalls kann niemand bestreiten, dass es Trotzki war, der die Rote Armee geschaffen hat. Die Armee unter Kerenski war zerfallen, weil man den Soldaten, die vorwiegend kleine Bauern waren, befohlen hatte, weiterzukämpfen, und Trotzki ihnen durch seine Emissäre sagen ließ, dass bei ihnen zu Hause der Boden verteilt werde: Wollt ihr das den Weibern überlassen? Und da sind die Bauern einfach nach Hause gegangen, um dabei zu sein, wenn man die Gutsbesitzer enteignete und verjagte. So ist eine mächtige Armee in den Weiten Russlands versickert. Als dann die Bolschewiki die Macht erobert hatten, sie aber durch die »Weißen« und ihre Armeen bedroht sahen, hat Trotzki den Bauern abermals durch seine Emissäre sagen lassen: Hinter den weißgardistischen Generalen, den Koltschaks, Denikins und Wrangels, kommen die alten Gutsbesitzer zurück und werden euch das Land wieder wegnehmen. Das hatte einen gewaltigen Mobilisierungseffekt, und die Rote Armee hat gesiegt.

Die Unbesiegbarkeit der Roten Armee hat natürlich die Idee der Weltrevolution beflügelt. In den Köpfen der Führer der bolschewistischen Revolution entstand eine neue Ideologie: Man müsse gleich bis Warschau weitermarschieren, um die neue polnische Armee unter Pilsudski zu schlagen, dann mit den sich solidarisch erklärenden Regimentern der polnischen Armee weiter nach Deutschland und von dort zusammen mit den revolutionären Soldaten des Spartakusaufstandes an den Rhein. Am Rhein sollte es dann zur welthistorischen Begegnung mit dem revolutionären Frankreich kommen. Aber dieser Traum war bereits vor Warschau ausgeträumt. Dort wurden die Russen von Pilsudski und seiner neuen polnischen Armee total besiegt. Nur war das längst nicht mehr die Rote Armee. Denn als die große Masse der Soldaten, die Bauern, merkten, dass sie nicht mehr auf russischem Boden kämpften, sondern für Ziele eingespannt wurden, die nicht die ihren waren, sind sie abermals in der Weite des russischen Raumes verschwunden und haben sich in ihre Dörfer durchgeschlagen. Besiegt wurden vor Warschau die Arbeiterregimenter, vor allem aus Petrograd und Moskau. Die Machtergreifung des Kommunismus mit den Mitteln des Krieges war gescheitert.

Noch einmal möchte ich sagen, dass die Niederlage vor Warschau im August 1920 die kommunistischen Arbeiterregimenter erlitten haben und nicht die Rote Armee, wie sie von Trotzki konzipiert worden war. An unseren Schulen wird diese Art Geschichte leider nicht unterrichtet, obwohl sie von folgenschwerer Bedeutung noch für unsere Zeit ist. Würde man sich mit diesen Fragen intensiver befassen, könnte man vieles besser begreifen, auch die heutige Entwicklung in China.

Alte Bolschewiken erzählten mir, dass im Entwurf der Gründungsstatuten der Kommunistischen Internationale ursprünglich gestanden habe, ihr Sitz solle in Moskau sein. Als Lenin das las, habe er ironisch gemeint: Und die Delegierten seien im Hotel Lux unterzubringen. Er habe den Kopf geschüttelt und gefragt, wie man denn so etwas Unsinniges festlegen könne. Wenn es eines Tages in Deutschland oder in einem anderen hochindustriellen Staat zur Revolution komme, dann wäre es doch zweckmäßig, das Zentrum der Internationale in ein fortschrittlicheres Land zu verlegen. De facto ist es natürlich bei Moskau geblieben. Die Komintern hat sich zu einem immer stärkeren ideologischen Zentrum entwickelt, und die kommunistischen Parteien Europas wurden ihre immer willfährigeren Werkzeuge – und damit zu Werkzeugen der Sowjetunion. Deutlichster Ausdruck war die Breschnew-Doktrin, die das Recht zur militärischen Intervention in jedem Land statuierte, in dem eine kommunistische Partei herrscht. Diese Doktrin diente als formale Rechtfertigung für den Einmarsch in die Tschechoslowakei.

Die Niederlage vor Warschau hat die Ideologie des Kriegskommunismus beendet. Lenin selbst beendete sie, indem er das Signal zur sogenannten »Neuen Ökonomischen Politik« (NEP) gab. Um es drastisch, aber adäquat zu formulieren: Er rief nicht mehr die Proletarier aller Länder zum Kampf auf, sondern die Kapitalisten aller Länder, nach Russland zu kommen, um sich dort zu bereichern. Und sie kamen aus allen Ländern: die Automobilfabrikanten aus Amerika, die Textilfabrikanten aus Europa, und auch die deutsche Wirtschaft, die sich vom Krieg noch kaum erholt hatte, war zur Stelle. Aber nicht nur die Konsumgüterindustrie kam in Schwung, auch zu essen gab es in Hülle und Fülle, und die sogenannten Kulaken – Bauern mit familienfremden Arbeitskräften – sorgten für ausreichende Ernährung.

Nach dem Tode Lenins wagte Stalin diese Politik nicht gleich zu verändern. 1928 war jedoch endgültig Schluss mit der NEP; der Machtkampf war zu Stalins Gunsten entschieden. Trotzki wurde ausgewiesen, auf die türkische Insel Büyük Ada (Prinkipo); von dort ging er nach Oslo und übersiedelte dann, offenbar aus klimatischen Gründen, nach Mexiko. Es dürfte allerdings nicht nur das Klima gewesen sein, das ihn dazu veranlasste, denn der Arm Stalins reichte weit, und Norwegen war ein offenes Land. Ich will die ideologischen Gegensätze zwischen Stalin und Trotzki nicht unterschätzen, aber sie scheinen mir nur der sichtbare Ausdruck dafür zu sein, dass, wie so oft in der Geschichte, derjenige den Kampf für sich entschied, der den Apparat beherrschte. Das war eindeutig Stalin, auch wenn er der weniger begabte Führer gewesen sein mag. Ich konnte mich nie zu dem Gedanken durchringen, dass es sich bei Trotzki um eine andere Art von Kommunismus, um einen »Kommunismus mit menschlichem Antlitz« gehandelt haben soll. Ich bin davon überzeugt, dass Trotzki als Sieger seine Gegner ähnlich brutal behandelt hätte wie Stalin.

Natürlich war auch die bolschewistische Führung nicht frei von Gegensätzen. Es erfordert ja eine ganz besondere psychologische Struktur, für ein politisches Ziel zu kämpfen, das weit in der Zukunft liegt. Deshalb entzündet sich in der Anfangsphase interner Diskussionen oft der Streit um die Frage »Weg und Ziel« beziehungsweise »Ziel und Weg«. Viele Kommunisten sind mir deshalb oft politisch schizophren vorgekommen: Einerseits erklärten sie, dass das Endziel ihrer politischen Bestrebungen, die Verwirklichung des Kommunismus, in weiter Ferne liege, andererseits taten sie so, als ob es unmittelbar vor der Verwirklichung stehe. Das ist einer der Gründe, warum das Wort Sozialismus in der stalinistischen Ara »annektiert« wurde: nicht nur, um Verwirrung zu stiften, sondern vor allem, um den Sozialismus als den Weg und den Kommunismus als das Ziel zu postulieren. Aus dieser Schizophrenie heraus ist auch die politische Wanderung vieler Kommunisten zu verstehen. Wie viele haben nicht die kommunistische Bewegung verlassen – dort jedenfalls, wo sie sich das leisten konnten, ohne in ihrer physischen Existenz bedroht zu sein –, von Arthur Koestler bis Herbert Wehner, von Henri Barbusse bis Ernst Bloch. Sie mögen mancherlei Gründe angegeben haben, aber irgendwie sind sie sich doch ihrer schizophrenen Situation bewusst geworden, und einige haben sich denn auch in ein ganz unpolitisches Dasein zurückgezogen. So manche, die zu den Sozialdemokraten gegangen sind, haben bis zuletzt – jedenfalls in ihrer Agitation – nicht ganz verschleiern können, dass sie aus einem Lager kamen, in dem ein gewisses Maß an Intoleranz zur Grundausrüstung gehört.

Aus der Diskussion innerhalb der deutschen Sozialdemokratie am Ende des Ersten Weltkriegs geht eines klar hervor: Der eigentliche Grund für die Spaltung der Arbeiterbewegung war nicht die Russische Revolution, sondern der Krieg. So war es auch in Österreich; die Geister schieden sich nicht an der Frage, wie man die Ereignisse in Russland zu bewerten habe, sondern daran, dass 1914 eine der Grundpositionen der Internationale aufgegeben worden war.

Die Sozialdemokratie war die bis dahin größte und bedeutendste pazifistische Bewegung, die es in der modernen Geschichte gegeben hat, allein schon aufgrund ihres weithin hörbaren Internationalismus. Dieser Internationalismus hatte sich als erstes Ziel die Verhinderung eines Krieges vorgenommen. Vielleicht hatte man sich in dieser Frage allzu großen Illusionen hingegeben, denn am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist der Pazifismus der Arbeiterklasse wie ein Fluss im Karst verschwunden. Der Pragmatismus forderte aufgrund einer allgemeinen, unverständlichen Hochstimmung ein Bekenntnis zur Nation. Den katastrophalsten Beleg hat das in Deutschland an jenem 4. August 1914 gefunden, an dem die deutsche Sozialdemokratie geschlossen für die Kriegskredite stimmte, was Wilhelm II. zu der Feststellung veranlasste: »Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche.« Und der energische August Bebel hatte schon 1904 gesagt, dass in einem Krieg, »in dem es sich um die Existenz Deutschlands handelt«, die Sozialdemokraten »bis zum letzten Mann bereit seien, die Flinte auf die Schulter zu nehmen«.

Und wie sah es in Österreich aus? Am 5. August 1914 erschien in der Arbeiter-Zeitung ein Leitartikel des Chefredakteurs Friedrich Austerlitz mit der Überschrift: Der Tag der deutschen Nation. Ein Beweis dafür, dass die österreichische Sozialdemokratie, soweit sie deutschsprachig war, von einer großdeutschen Grundgesinnung getragen war. In Deutschland haben sich die Gegensätze, wie gesagt, bald sehr nachdrücklich manifestiert, und am Ende des Krieges gab es zwei Parteien, die Mehrheitssozialisten und die USPD. Die Haltung zum Krieg ist also die wirkliche Ursache der Spaltung gewesen. Das hat nichts mit dem allgemeinen Gegensatz zwischen Radikalen und Gemäßigten zu tun. Es ist im Gegenteil eine Lebensvoraussetzung der europäischen Sozialdemokratie, dass sich in einer so mächtigen Bewegung sehr verschiedenartige Gesinnungen beheimatet fühlen müssen. Eine Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken hätte kaum zur Spaltung geführt, denn ein solcher Zwist kann immer wieder überbrückt werden. In der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie gibt es hierfür ein beredtes Beispiel.

Auf dem Parteitag im Oktober 1917 prallten die Gegensätze besonders hart aufeinander. Victor Adler mit Karl Renner in seinem Gefolge stand auf der Rechten, auf der Linken führten vor allem Otto Bauer und Robert Danneberg das Wort. Die Auseinandersetzung verlief durchwegs kultiviert, ohne jeden persönlichen Hass. Victor Adler, schon vom Tode gezeichnet, hat sich furchtbar müde und elend gefühlt. Als man für den letzten Tag verabredete, die gegensätzlichen Standpunkte in Resolutionsvorschlägen dem Parteitag vorzulegen, ging Adler zum Wortführer der Linken, zu Otto Bauer, dem er menschlich eng verbunden war, und forderte ihn auf, auch den Text der Resolution der Rechten zu schreiben. Und Otto Bauer hat in vollster Übereinstimmung mit den Forderungen der Rechten auch deren Resolutionsentwurf verfasst, so wie er den der Linken geschrieben hat. Das war keineswegs so, wie es seinerzeit nach Gustav Freytags Journalisten über den Schmock hieß: »Er kann schreiben rechts, er kann schreiben links.« Nein, es war Bauers Genialität, Gedankengänge anderer nachzuempfinden, zu verstehen und zudem auch überzeugend zu formulieren – besser vielleicht, als einer der ihren es hätte können.

Als der Krieg zu Ende war, hatten sich innerhalb der sozialistischen Bewegung sehr viele Richtungen herausgebildet. Die einen wollten die alte Internationale wieder errichten; diejenigen, die von Anfang an gegen den Krieg gewesen waren, bildeten die »Zweieinhalbte« Internationale; und dann gab es noch die Dritte, die Kommunistische Internationale. Die Diskussionen wurden von den besten Köpfen geführt, und sie waren von großem Gehalt. Dennoch sind die Ideen von damals irgendwo im ideologischen Weltall verflogen und spielen in der aktuellen theoretischen Debatte kaum mehr eine Rolle. Wer die Protokolle heute nachliest, hat das Gefühl, als ob uns Lichtjahre von damals trennten. Es war die große Zeit der eloquenten Intellektuellen. Ihre gewaltigen Rededuelle uferten immer mehr aus, bis man sich entschloss, die Zeit fur die einzelnen Redner zu beschränken. Und wieder möchte ich eine Anekdote aus dieser Zeit beisteuern, die mir der französische Sozialist Salomon Grumbach, ein Vertreter der Zweiten Internationale, erzählte. 1922, beim Berliner Kongress der drei Internationalen, nachdem fast alle Delegierten schon stundenlang geredet hatten, bekam Grumbach das Wort. Er war Elsässer und sprach in französischer Sprache, aber als er kaum bei der Hälfte angelangt war, bedeutete ihm der Vorsitzende, dass seine Redezeit abgelaufen sei. Grumbach wandte sich an den Vorsitzenden mit der Bitte, seine Rede ins Deutsche übersetzen zu dürfen. Das konnte ihm nicht verwehrt werden; aber statt zu übersetzen, hat Grumbach seine Rede auf deutsch einfach fortgesetzt. So hatte er als einziger die doppelte Redezeit.

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22 декабря 2023
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