Читать книгу: «Eine Spur von Tod», страница 10

Шрифт:

KAPITEL ZWANZIG

Dienstag

Frühe Morgenstunden

Keri kämpfte gegen die Müdigkeit an, als sie zur West Venice High fuhr. Sie hatte gehört, dass dort eine Gedenkstunde abgehalten wurde, also parkte sie vor dem Eingang und stieg aus. Die Versammlung war nicht zu übersehen. Um die vierzig Schüler und Lehrer standen auf dem Rasen vor dem Gebäude, hielten sich an den Händen, zündeten Kerzen an und sprachen über Ashley. Mehrere kleine Gruppen standen etwas abseits. Einige weinten vor den Kameras der lokalen Fernsehsender. Ein paar uniformierte Polizisten standen auch herum, lehnten sich an ihre Einsatzfahrzeuge und beobachteten die Szene.

Keri mischte sich so unauffällig wie möglich unter die Leute. Vielleicht würde sie bei diesen zwanglosen Unterhaltungen etwas erfahren, das die Leute bei offiziellen Befragungen nicht zu sagen wagten.

Ashleys Geometrielehrer Lex Hartley, ein unsportlicher Mittfünfziger mit angehender Halbglatze, sagte, dass Ashley immer eine gute Schülerin gewesen sei, abgesehen von ein paar schwächeren Leistungen in der jüngsten Vergangenheit.

„Erzählen Sie mir etwas über Artie North.“

Hartley sah überrascht aus.

„Warum? Hat er mit der Sache etwas zu tun?“

„Ich habe das Gerücht gehört, dass er Ashley erpresst hat mit ihm ins Bett zu gehen.“

„Wie bitte? Das kann nicht stimmen. Ich kenne Artie seit fünf Jahren. Er ist ein guter Kerl. Vielleicht ein bisschen einsam. Aber er gibt sein Bestes, um diese Kids zu beschützen.“

„Wurde er vor etwa einem Monat verprügelt?“

„Ja. Er hat einen Zweitjob bei der städtischen Bahnverwaltung. Ein paar Obdachlose haben ihn bei der Nachtschicht angegriffen, als er sie vom Gelände schmeißen wollte.“

„Hat er Ihnen das erzählt?“

„Ja.“

„Wie schlimm war er zusammengerichtet?“

„Blaues Auge, aufgeplatzte Lippe.“

Keri fragte sich, ob sie von Artie North oder Walker Lee je die Wahrheit erfahren würde.

Sie redete auch mit anderen Lehrern und Schülern. Ein Mädchen namens Clarice Brown erzählte ihr, dass Ashley lernen wollte, wie man mit einer Waffe umgeht – zum Schutz. Ob sie allerdings sich selbst oder jemand anderen beschützen wollte, wusste Clarice nicht. Sie fügte leise hinzu, dass Ashley in letzter Zeit eine Menge Drogen nahm. Um genug Geld dafür zu haben, habe sie den Schmuck ihrer Mutter aus dem Safe geklaut und versetzt.

Miranda Sanchez, das Mädchen, das Ashley in den Van steigen sah, war auch dort. Sie sagte, dass viele Mädchen auf der West Venice auf Ashley neidisch waren. Sie hassten sie regelrecht, und setzten deswegen alle möglichen Gerüchte über sie in die Welt. Wenn man etwas über Ashley hörte, konnte man nie wissen, ob es stimmte, oder ob es ausgedachter Quatsch einer eifersüchtigen Mitschülerin war. Sie selbst sei immer gut mit Ashley befreundet gewesen.

Ein Junge aus der Unterstufe, Sean Ringer, behauptete, dass Ashley ihm vor ein paar Wochen anvertraut hatte, dass ihr Vater in Schwierigkeiten steckte. Genauer hatte sie es nicht ausgeführt, aber Ashley habe wirklich besorgt ausgesehen, fast als fürchtete sie sich.

Dann bemerkte Keri einen Reporter von KTLA, der mit einer Kamera direkt auf sie zukam. Sie duckte sich, drehte sich um und setzte eine Baseball-Mütze auf, die sie für genau diesen Anlass dabei hatte. Schnell ging sie durch die Menge zu ihrem Wagen.

„Detective Locke, stimmt es, dass das FBI jetzt die Ermittlungen im Fall Ashley Penn übernommen hat?“, rief er laut und deutlich weit hinter ihr.

Keri hatte nicht vor, darauf einzugehen. Sie senkte den Kopf und lief noch etwas schneller.

*

Keri stieg in ihren Wagen und machte sich auf den Weg zu ihrem Hausboot. Dabei ließ sie sich alle Informationen der letzten Stunde noch einmal durch den Kopf gehen.

Hatte das FBI wirklich den Fall übernommen? Sie hätte am liebsten Hillman angerufen, aber es war 3:30 Uhr in der Nacht.

Also musste sie selbst entscheiden, was sie glaubte. Hatte Ashley eine Waffe gekauft? Hatte sie den Schmuck ihrer Mutter gestohlen und verkauft? Von wem wurde Artie North wirklich verprügelt? Und in welcher Art von Schwierigkeiten steckte Senator Penn?

Anstatt einer handfesten Spur hatte sie jetzt noch mehr Fragen, auf die es keine Antwort gab. Vielleicht hätte sie besser nicht zu der Schule gehen sollen. Wäre sie direkt nach Hause gegangen, würde sie jetzt womöglich schon schlafen. Stattdessen fuhr sie immer noch durch die Straßen von Venice, in denen nur noch Dealer, Nutten und ihre Zuhälter unterwegs waren. Sie war erschöpft und litt immer noch unter den Folgen des Zusammenpralls mit Auggie.

Als sie sich wieder der Stelle näherte, an der Ashley zuletzt gesehen wurde, dachte sie wieder an Evie. Wie sollte sie irgendeinem Teenager helfen, wenn sie nicht einmal ihrer eigenen Tochter helfen konnte?

Dann traf es sie mit voller Macht: Evie war jetzt selbst ein Teenager – wenn sie noch lebte.

Das darf ich nicht einmal denken! Sie verlässt sich auf mich! Wie soll sie stark bleiben, wenn ich selbst aufgebe? Ich werde dich finden, Evie! Gib nicht auf, Mama wird dich retten! Ich liebe dich so sehr!

Sie musste sich zusammenreißen, diese Gedanken halfen niemandem. Wenn dieser Fall gelöst war, würde sie sich mit Jackson Cave treffen und ihn dazu bringen, ihr alles über den Sammler zu erzählen. Sie war jetzt mehr als ein Universitätsprofessor, sie hatte die ganze Stärke des LAPD hinter sich und wollte diese auch nutzen. Sie würde diesen Sammler finden, koste es, was es wolle.

Plötzlich stand sie dort, direkt an der Hauptstraße – Evie!

Sie hatte genügend Computersimulationen gesehen, um die Ähnlichkeiten von Evie damals und heute zu erkennen. Das blonde Mädchen in dem engen schwarzen Minirock hatte die gleiche Statur und Hautfarbe wie ihre Tochter. Sie war stark geschminkt und musste Klamotten tragen, die für ein Mädchen ihres Alters unangemessen waren, aber sie erkannte sie.

Keri wurde schlecht, als sie den großen, blassen Mann neben ihr bemerkte, der seine plumpe Hand auf ihren schmalen Rücken legte. Er war weit über fünfzig Jahre alt, knappe zwei Meter groß und geschätzte hundertdreißig Kilo schwer. Er war offensichtlich ihr Zuhälter.

Keri machte eine Vollbremsung. Der Prius schlitterte über die Straße, direkt auf die beiden Gestalten zu. Sobald er zum Stehen kam, sprang Keri aus dem Wagen.

„Evie!“, rief sie.

Der Mann schob sich rasch vor das Mädchen.

Sie versuchte sich an ihm vorbei zu drängen, aber er packte sie unsanft am Handgelenk.

„Hast du den Verstand verloren?“

Keri beachtete ihn gar nicht, sie hatte nur Augen für Evie.

„Lass mich sofort los“, knurrte sie.

Er hielt ihr Handgelenk noch fester.

„Auch Frauen müssen für die Ware bezahlen, bevor sie ran dürfen“, sagte er.

Keri stellte fest, dass sie nicht einmal ihre Waffe zu fassen bekam. Das war vielleicht ganz gut so, ansonsten hätte sie ihn vielleicht direkt erschossen.

Sie hörte auf zu ziehen und er lockerte augenblicklich seinen Griff. Auch wenn er sie nicht losließ, hatte er sich wenigstens etwas entspannt. Sie lehnte sich dichter an ihn und trat ihren Absatz mit aller Kraft auf seinen Fuß. Er jaulte auf und krümmte sich, hielt sie aber weiterhin fest. Keri wirbelte herum und stieß ihren Ellbogen in sein Gesicht. Endlich ließ er los und taumelte rückwärts.

Sie wollte nach ihrer Waffe greifen, aber ihre Hand war schwach und taub. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hatte, sie zu halten, geschweige denn abzufeuern. Also machte sie einen Schritt auf ihn zu und trat ihm in den Bauch. Sie hoffte, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte, aber er bekam ihren Fuß zu fassen und zog sie mit sich zu Boden.

Noch einmal unterschätzte er sie nicht mehr und rollte sich mit seinem vollen Körpergewicht auf sie, drückte seine Knie in ihre wunden Rippen. Sie schrie auf. Dann lehnte er sich zu ihr herunter und legte seinen Arm um ihren Hals. Seine Augen leuchteten wütend und seine Spucke tropfte in ihre Haare.

Keri spürte, dass sie das Bewusstsein verlor und sah hinüber zu Evie, die entsetzt zusah. Dann verschwamm alles vor ihren Augen.

Nein! Das lasse ich nicht zu!

Sie zwang sich, wach zu bleiben. Der Mann auf ihrem Brustkorb war zwar stark, aber er war auch ein bisschen zu selbstsicher.

Das ist meine Chance!

Mit einer schnellen Bewegung riss sie beide Hände hoch und drückte ihre Finger in seine Augenhöhlen. Er jaulte auf und ließ sie sofort los. Mit voller Kraft rammte sie ihre Faust in seinen Adamsapfel. Er würgte und hustete. Sowie er den Mund öffnete um nach Luft zu schnappen, schlug sie mit der flachen Hand gegen sein Kinn. Sein Schrei verriet, dass seine Zunge zwischen Ober- und Unterkiefer eingeklemmt war.

Sie warf ihn um, rollte auf die Seite und stolperte auf die Beine. Noch bevor er reagieren konnte, trat sie ihm in den Rücken und er landete flach auf dem Boden. Keri ließ sich auf ihn fallen und stemmte ihr Knie in seinen Rücken.

Schnell zog sie ein paar Handschellen hervor und fesselte erst seine linke, dann seine rechte Hand. Dann stand sie auf und stellte einen Fuß in sein Genick.

„Keine Bewegung, Arschloch“, zischte sie, „sonst verbringst du den Rest deines Lebens im Rollstuhl.“

Sein Körper wurde sofort schlapp und sie wusste, dass er keinen Ärger mehr machen würde.

Keri atmete kurz durch, bevor sie über Funk Verstärkung anforderte.

Schließlich wandte sie sich Evie zu.

Doch im Schein der Laterne und aus der Nähe stellte sie schnell fest, dass das Mädchen nicht Evie war. Sie sah ihr nicht einmal besonders ähnlich, außer dass sie jung und blond war.

Keri spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Schnell senkte sie den Blick und gab vor, etwas auf ihrem Handy zu lesen, damit das Mädchen ihr die Verzweiflung nicht ansah. Erst als sie ihre Fassung wieder erlangt hatte, sah sie auf.

„Wie heißt du?“

„Sky.“

„Nein, wie heißt du wirklich?“

„Ich soll eigentlich nicht…“

„Sag mir einfach deinen Namen.“

Sie warf einen unsicheren Blick auf den Mann am Boden, als könnte er ihr jeden Augenblick an den Hals springen.

„Susan“, flüsterte sie schließlich.

„Und dein Nachname?“

„Granger.“

„Susan Granger?“

„Ja.“

„Wie alt bist du, Susan?“

„Vierzehn.“

„Vierzehn? Bist du von zu Hause weggelaufen?“

Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Ja.“

„Keine Sorge, meine Kollegen und ich werden dir jetzt helfen“, sagte Keri. „Ist das in Ordnung?“

Das Mädchen zögerte einen Moment. „Ja“, sagte sie nach einer Weile.

„Vor diesem Schwein brauchst du keine Angst mehr zu haben“, sagte Keri. „Er kann dir nichts mehr tun. Hat er dich gezwungen, Sex mit anderen Männern zu haben?“

Sie nickte.

„Hat er dich gezwungen, Drogen zu nehmen?“

„M-hm.“

„Das ist jetzt vorbei. Wir bringen dich in Sicherheit, verstanden?“

„Ja.“

„Gut. Vertrau mir, du bist jetzt sicher.“

Zwei Polizeiautos kamen um die Ecke.

„Die Polizisten werden dich jetzt an einen sicheren Ort bringen und morgen früh wirst du mit einem Berater sprechen. Außerdem gebe ich dir meine Karte. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du Fragen hast. Ich suche nach einem Mädchen, das etwa so alt ist wie du. Sobald ich sie gefunden habe, werde ich nach dir sehen. Ist das in Ordnung, Susan?“

Sie nickte und nahm Keris Visitenkarte.

Als die Polizisten zu ihnen kamen, lehnte Keri sich zu dem Zuhälter hinunter. „Du kannst von Glück reden, dass ich dir nicht dein armseliges Hirn weggeblasen habe. Hörst du mich?“

„Fick dich“, keuchte er.

Trotz ihrer Erschöpfung vibrierte Keri vor Zorn. Sie ging einen Schritt zurück, aus Angst ihm sonst doch noch etwas anzutun. Einer der Polizisten kümmerte sich um das Mädchen, zwei andere packten den Mann an den Armen. Keri wandte sich an den Vierten.

„Buchtet ihn ein und lasst ihn seinen Anruf erst in ein paar Stunden machen, wenn die Kleine in Sicherheit ist. Ich brauche eine Pause und werde meinen Bericht morgen früh schreiben.“

Kurz bevor der Mann im Polizeiwagen verschwand, ging Keri hinüber.

„Darf ich behilflich sein?“, fragte sie, griff ihn am Schopf und knallte seinen Kopf gegen das Autodach. „Ach das tut mir leid, ich bin abgerutscht.“

Sie ließ ihn fluchend zurück, stieg in ihr Auto und ließ den Motor an.

Als sie in ihrem Hausboot angekommen war, wählte sie eine Nummer, die sie schon lange nicht mehr gewählt hatte.

„Hallo“, meldete sich eine müde Frauenstimme.

„Keri Locke, ich muss mit Ihnen reden.“

„Jetzt? Es ist vier Uhr morgens.“

„Ja.“

Es folgte eine kurze Stille.

„Okay“, sagte sie schließlich.

KAPITEL EINUNDZWANZIG

Dienstag

Morgengrauen

„Ich verstehe.“ Keri stellte sich den resignierten Ausdruck vor, der sich jetzt auf Dr. Beverly Blancs Gesicht, die von ihrer Dienststelle zugewiesene Polizeipsychologin, breit machen dürfte.

„Ach ja?“

Keri begann zu reden. Sie ließ alles heraus.

Sie sah Evie überall. Sie ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht, weil der fünfte Jahrestag anstand. Klar war nur, dass es öfter geschah, als sonst. Fast so oft wie damals, in den ersten sechs Monaten nach der Entführung. Seit kurzem hatte sie sogar wieder Black-Outs, auch mehrere in den vergangenen zwölf Stunden. Schlimmer noch, sie wurde gewalttätig. Sie hatte einen High-School Jungen ins Gesicht geschlagen, sie hatte einem anderen Typen ein Mikrophon über den Kopf gezogen und sie war auf einen Zuhälter losgegangen.

Außerdem sie hatte einen Hinweis bekommen, dass ein gewisser Sammler Evie vielleicht entführt hatte. Ein örtlicher Anwalt, Jackson Cave, wusste vielleicht seinen echten Namen oder seinen Aufenthaltsort, aber freiwillig würde er nichts sagen. Sie dachte daran, ihn zu erpressen.

Zudem arbeitete sie an einem weiteren Entführungs-Fall.

„Ich weiß“, sagte Dr. Blanc. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.“

Sie hatte die Akte eröffnet, war abgezogen worden, dann sollte sie wieder daran arbeiten; Wie die Lage jetzt war, wusste sie nicht so genau.

„Sie können den ganzen Druck nicht verarbeiten. Sie sind wie ein Ballon, der immer weiter und weiter aufgeblasen wird. Passen Sie auf, dass Sie nicht platzen. Sie können sich im Moment nur um Ashley Penn oder um Evie kümmern. Sie sollten sich auf eine von beiden konzentrieren.“

Keri zögerte.

„Ich kann den Fall jetzt nicht abgeben.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht damit leben könnte, wenn ihr etwas zustößt und ich nicht alles versucht habe.“

Dr. Blanc atmete laut aus.

„Dann müssen Sie Evie für eine Weile auf Eis legen. Hören Sie auf, überall nach ihr zu suchen. Wenigstens bis der Penn-Fall gelöst ist. Das gleiche gilt für den Sammler.“

„Das kann ich nicht.“

„Hören Sie, wenn Evie tot ist…“

„Sie ist nicht tot!“

„Okay, aber falls sie tot ist, würde es nichts ausmachen, eine Weile nicht an sie zu denken. Wenn sie nicht tot ist, hat sie wahrscheinlich eine Strategie entwickelt, mit ihrem jetzigen Leben umzugehen. Die Angst und Verzweiflung, die sie in ihren Augen gesehen haben, als sie Ihnen weggenommen wurde, empfindet sie jetzt nicht mehr.“

„Das können Sie nicht wissen“, sagte Keri.

„Doch“, sagte Dr. Blanc. „Extreme Gefühle sind nicht von Dauer. Wenn sie noch am Leben ist, muss sie einen Weg gefunden haben, Tag für Tag zu überstehen. Sie muss in irgendeine Art von Routine gefunden haben. Es macht für sie im Großen und Ganzen also jetzt keinen Unterschied, wenn Sie diesen Anwalt eine Woche aufschieben. Wenn Sie sich jetzt aber in diese Entführer-Sache stürzen, machen Sie vielleicht Fehler, weil Sie keinen klaren Kopf haben. Vielleicht bekommt er mit, dass Sie ihn suchen und er geht Ihnen durch die Lappen. Verbannen Sie ihn und den Anwalt aus Ihren Gedanken und konzentrieren Sie sich auf Ashley Penn, wenn Sie das Gefühl haben, das jetzt tun zu müssen. Sobald das abgeschlossen ist, können Sie mit neuer Kraft und Konzentration wieder nach Evie suchen. Macht das Sinn?“

Jetzt atmete Keri laut aus. „Ja.“

„Ruhen Sie sich aus, Keri. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie wenigstens ein paar Stunden. Das ist eine ärztliche Anweisung.“

„Würden drei Stunden reichen?“

„Das wäre ein Anfang.“

*

Keri wohnte auf einem zwanzig Jahre alten Hausboot, das im Yachthafen Marina del Rey lag. Weiter westlich gab es auch einen schickeren Yachthafen mit Clubs und neuen Appartements, doch Hafenbecken H, wo Keri wohnte, war von der Arbeiterklasse bewohnt. Ihr Hausboot lag zwischen industriellen Fischerbooten und Oldtimer-Modellen, die kaum mehr seetauglich waren. Der Vorbesitzer hatte Keris Boot Sea Cups genannt und einen pinken BH auf die Seite gemalt. Das war zwar nicht gerade Keris Geschmack, aber sie hatte nie die Zeit oder Energie aufgebracht, ihn zu entfernen. Sie hatte Strom und fließend Wasser, eine kleine Küche und eine Toilette zum Auspumpen. Der einzige Nachteil war, dass sie keine Dusche und keine Waschmaschine hatte, dafür musste Keri die öffentlichen Einrichtungen des Hafens benutzen. Abgesehen davon bot die Sea Cups alle Freiheiten. Keri konnte jederzeit alles stehen und liegen lassen, um nach Alaska auszuwandern, wenn sie das wollte.

Viel Platz hatte Keri aber nicht. Wenn sie eine Sache erreichen wollte, musste sie vorher drei andere aus dem Weg räumen. Für die meisten Leute klang es abenteuerlich oder exotisch auf einem Hausboot zu leben, aber für Keri war es ganz normal.

Sie ging in die Küche, goss sich einen großzügigen Schluck Scotch ein und wollte es sich auf dem Deck gemütlich machen. Als sie zur Treppe kam, sah sie, dass ein gerahmtes Foto umgefallen war. Das Boot schaukelte eigentlich kaum, aber manchmal reichte die Bewegung aus, um Dinge zu verrutschen oder umzuwerfen. Sie stellte das Bild wieder auf.

Dann hielt sie inne und sah es sich an. Es zeigte ihre Familie – die es jetzt nicht mehr gab. Sie hatten am Strand posiert. Evie war damals vier Jahre alt gewesen. Sie saßen zusammen auf ein paar Felsen, im Hintergrund war das Meer zu sehen. Evie trug ein weißes Strandkleid und saß zwischen ihren Eltern. Ihre Haare waren mit einem leuchtend grünen Haarband nach hinten gebunden, das genau ihrer Augenfarbe entsprach.

Stephen trug eine khakifarbene Hose und ein weißes Hemd, Keri eine weiße Bluse und einen khakifarbenen Rock. Stephen hatte eine Hand auf Evies Schulter gelegt und den anderen Arm um Keris Hüfte. Wie das Relikt eines vergangenen Lebens kam es Keri jetzt vor. Es war lange her, dass jemand sie so vertraut und liebevoll berührt hatte.

Ihr fiel wieder ein, wie schwer es ihr gefallen war nicht zu blinzeln, weil die grelle Morgensonne ihr direkt in die Augen geschienen hatte. Auch Evie hatte sich deswegen beschwert, doch auf diesem Bild hatte sie die Augen weit offen. Bei dieser Erinnerung musste sie lächeln.

Keri wandte den Blick schließlich ab und ging die Stufen hinauf. An Deck setzte sie sich auf die Sonnenliege, die sie in einem schwachen Moment bei Amazon bestellt hatte. Sie schloss die Augen und genoss die kaum spürbaren Bewegungen des Hausboots. Das Foto kam ihr wieder in den Sinn. Die Keri Locke auf dem Bild würde sie jetzt kaum wieder erkennen.

Es wurde einige Jahre vor der Entführung aufgenommen. Rückblickend war ihr Leben damals eigentlich perfekt gewesen. Sie hatte eine Kindheit überstanden, die sie niemandem wünschte, sie war eine erfolgreiche Professorin für Kriminologie und Psychologie an der LMU und eine geschätzte Beraterin der LAPD. Sie hatte einen berühmten Anwalt geheiratet, der trotz seiner Karriere nie eine Schulaufführung oder eine Halloweenfeier verpasst hatte.

Und sie hatte eine Tochter großgezogen, die ihr jeden Tag Freude und Liebe bescherte. Sie waren zusammen durch die Stadt gezogen oder hatten Schokoladenkuchen gebacken. Sie hatte mit ihrem Mann verstohlene Liebesabenteuer an regnerischen Sonntagmorgen erlebt, bevor kleine Schrittchen zu ihrem Schlafzimmer galoppiert waren. Das war die glücklichste Zeit gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte.

Die Keri von damals wäre entsetzt von der Keri heute. Sie trank Schnaps, als wäre es Wasser, wohnte alleine auf einem Hausboot, das nach einem pinken BH benannt war. Sie versuchte sich zu erinnern, wie ihr Leben zerbrochen war.

Es hatte mit dem Trinken begonnen, den lautstarken Auseinandersetzungen mit ihrem Mann, der sich immer weiter von ihr distanziert hatte. Sie wusste, dass es seine Art von Selbstschutz gewesen war, dass er nur so den Alptraum überleben konnte, den sie durchmachen mussten. Doch damals hatte es sie wahnsinnig gemacht. Sie hatte gedacht, dass es ihn kalt ließ, was mit ihrer Tochter geschehen war.

Als er sie nach einem Jahrschließlich verlassen hatte, war ihr Haus einsam und gleichzeitig voller Erinnerungen gewesen. Sie konnte es dort einfach nicht mehr aushalten. Sie hatte an der Uni einen Mann nach dem anderen benutzt, sich für ein paar Stunden abzulenken. Manchmal waren es Doktoranden, manchmal jüngere Studenten.

So ging es etwa ein Jahr lang, bis ein schwer verliebter, naiver Neunzehnjähriger wegen ihr die Uni geschmissen hatte. Seine Eltern hatten damals mit einer Klage gedroht und die Uni musste zu einem schnellen und stillen Vergleich kommen. Dazu gehörte, dass Keri gefeuert wurde.

Zu dieser Zeit hatte Stephen ihr eröffnet, dass er eine seiner Klientinnen, eine junge Schauspielerin, heiraten wollte. Sie bekamen ein Baby, einen kleinen Jungen.

Keri hatte eine Woche lang nur noch getrunken. Wenig später war ein Mann von der Pacific Einheit mit einem Arbeitsangebot auf dem Hausboot erschienen.

„Ich habe gehört, dass es bei Ihnen in letzter Zeit nicht nach Plan gelaufen ist“, hatte Ray Sands damals gesagt. Sie waren auf demselben Deck gesessen, auf dem Keri jetzt lag. „Wären Sie an einem Neuanfang interessiert?“

Er hatte ihr von seiner eigenen Odyssee erzählt, wie er sich zusammengerauft hatte, um seinem Leben wieder einen Sinn zu geben.

„Haben Sie je daran gedacht, sich bei der Polizei zu bewerben?“, hatte er gefragt.

Es war jetzt still im Hafen, nur die sanften Wellen leckten am Bug des Bootes und ein Nebelhorn ertönte irgendwo in der Dunkelheit. Keri spürte, wie sie langsam in den Schlaf hinüberglitt und wehrte sich nicht. Sie stellte ihr Glas ab, zog die Decke über sich und schloss die Augen.

*

Das Handy klingelte. Keri sah auf das Display. 5 Uhr 45. Sie hatte keine zwei Stunden geschlafen.

„Ich bin endlich eingeschlafen“, sagte sie gereizt.

„Sie haben den schwarzen Van gefunden!“, rief Ray aufgeregt.

Возрастное ограничение:
16+
Дата выхода на Литрес:
10 октября 2019
Объем:
221 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9781640290051
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают