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5 GABRIEL CALDENTEY

Ich trachtete nicht nach eigenem Wohlergehen, als ich mich für das Sanatorium und gegen eine Gemeinde entschied. Es wäre ehrlicher, zu sagen, dass ich mein Wohl zuletzt auch nicht fand. Eine anonyme Gemeinde, eine Gemeinde wie alle anderen, besitzt jene geschmierte, unzerbrechliche Routine einer Herde Viecher. Der Mensch der ländlichen Gemeinde ist iterativ und anhänglich wie Raben oder Fliegen. Es macht den Anschein, als sei er unbeweglich. Nur die Kirchenglocken zerren an ihm – wie jene einzige und kaputte Glocke, die wir im ersten Jahr meines Amtes so beherzt läuteten, dass sie uns fast zum Weinen brachte.

Nicht weil ich mich mit einem Priester aus einem Buch von Bernanos identifiziere, vermag ich über die Eintönigkeit des Alltags einer ländlichen Gemeinde zu reden, dessen Monotonie nicht einmal das tägliche Blut Christi zu verscheuchen weiß.

Während ich beim Kamin meines ersten Pfarrhauses saß und den Winter hinter den Fensterscheiben betrachtete, durchdachte ich die absolute Notwendigkeit der körperlichen Buße – selbstverständlich hat sich ein Diener Gottes die Haut mit einer Kette aufzureißen, sodass er sein Amt mit der angemessenen Inbrunst ausüben kann und die Gnade auf die abscheulichste Weise erhält. Danach schmerzte es mich, während der Messe die Arme auszubreiten, so sehr, dass mich der Schmerz an meine Mutter denken ließ und ich erkannte, dass die Monotonie nur durch Blut und Gebet überwunden werden kann.

In meinem ersten Pfarrhaus begriff ich endlich, dass Priesterschaft allein keine Karriere ist, für die Ausführung des Amtes sind Studien zwingend erforderlich. Ich besaß so viel priesterliche Erfahrung und wusste, dass die Monotonie der Gemeinde einer Nacht wie der in Getsemani schon sehr glich, samt den besten Gefährten, die eingeschlafen sind, dem reichlichen Blut auf der Bühne und dem allumfassenden und entsetzlichen Schweigen Gottes.

Im Seminar hätte man uns einen anderen Charakter einschärfen müssen, einen gewarnten und militanten, der uns das Amt hätte richtig annehmen lassen, nachdem wir so oft mit der Härte der Wirklichkeit Christi zusammengestoßen waren und uns vor dem grausamen Dilemma befunden hatten, zwischen der Gnade und der Hierarchie entscheiden zu müssen. Wo Gnade ist, ist Kirche.

Wir hätten diesen Charakter auf eine gewinnende Weise annehmen können, wenn die Studien der Kirchenfächer darin bestanden hätten, die Wahrheit, die in drögen Büchern niedergeschrieben wurde, zu leben und innerlich zu erfahren. Theologie zu studieren, ohne sie als lebendige Wirklichkeit auszuprobieren, ist absurd. Diese Absurdität ist die Quelle der Eintönigkeit in den ländlichen Gemeinden und ihrer Pfarrer.

Das Sanatorium ist der Gegenentwurf zur Eintönigkeit. Hier sündigt man auf die feine Weise, man sündigt und man redet über die Sünde, wie seinerzeit in der gehobenen Gesellschaft. In diesem Sanatorium sündigt man ausgeklügelt, nicht im Verborgenen, wie auf dem Lande. Die Insassen dieses Internats stammen aus bescheidenen Häusern. Der Komfort, die ganze Annehmlichkeit des Komplexes, die modernen Geräte, das uniformierte Personal vermitteln ihnen ein unbekanntes Gefühl des gehobenen Lebens. Sie sündigen mit Frivolität, mit dem Naturell dekadenter Menschen. Auf dem Brett in meiner Kabine sitzend lausche ich der Monotonie ihrer Sünden, die eilig und ruchlos ausgesprochen werden wollen, als ob das Wohlwollen Gottes und sein Tun von ihrer Schuld abhängen würde. Ich fordere sie nicht auf, nicht zu sündigen. Das wäre zu viel verlangt angesichts dieser tiefen Wurzeln des Bösen. Ich ersuche sie, gewahr zu werden, dass sie sündigen. Ihr Schweigen hinter dem Gitterfenster des Beichtstuhls, wenn ich auf sie einrede und sie bedränge, alles auszusprechen, zeigt mir, wie versteinert ihre Gleichgültigkeit ist. Allerdings spüre ich im Halbdunkel des Beichtstuhls, wenn ich den Stoff sehe, den ich über die löchrige Blechdose gezogen habe, in die sie ihre Sünden hineinsprechen, die Gewissensbisse meiner eigenen Angst, die Sünde in meiner Vorsicht. Meine Feigheit vor einer möglichen Ansteckung ist der Vorsehung Gottes unwürdig. Ich bin ungeeignet als sein Diener.

Sie kommen zu mir, erfüllt von Verachtung und getränkt mit Vernunft wie mustergültige Zöglinge des Französischen Gymnasiums.

Heute hatte ich kein Glück, als ich für Jaume Galindo eine Metapher erdachte, eine miserable Metapher. Ich sagte ihm, die Welt sei ein Fußballstadion und Christus der Ball (Ich bin ein miserabler Priester!), und dass die Menschen ihn sich auf skandalöse Weise, mit der Spitze ihrer Stiefel, zuspielten und nur der Torwart der perfekte Christ wäre, der ihn mit der Hand finge.

Jaume Galindo antwortete, dass der Torwart den Ball auffange, um ihn zurück ins Feld zu schießen, mit der Picke seines Stiefels.

In ihren Augen bleibt mir nichts anderes als für sie betend zu sterben und mein Gebet ihren zunehmenden Läsionen der Lunge anzugleichen. Ich beginne fast zu weinen, wenn ich die reine, duftende Nacht vor mir sehe, aufgespannt wie die Flügel eines Vogels in der Luft. Diese neue, seiende, wie Bäume im Frühling so durchlässige Nacht.

Kurz bevor sich die Dunkelheit der Nacht auf alles legt, flackert im Fenster der Schlussstein der Landstraße wie eine winzige Nacht, wie Kalk auf einer Wand auf. Mit dem Erzbischof in der Mitte, der die Hand auf seine Brust gelegt hat, sind wir vierzehn. Neben dem bischöflichen Thron – und neben mir – hat Ramon Duch die Hand auf die Kreuzblume des erzbischöflichen Stuhls gelegt. Ramon Duch, mein Gefährte im Patio und bei den Exkursionen, hat das Gesicht eines unverbrauchten, aseptischen, blassen Knabens, das Gesicht eines verbannten Engels. Auf dem Foto erkennt man, dass Ramon Duch prädestiniert war, die seidene Soutane zu tragen. Ramon Duch war weniger ein Mensch. Er verstand weder die Seele noch das Fleisch und schon gar nicht das Blut. Mehr als mit der Stille des Blutes Christi war Ramon Duch mit dem Kanonischen Recht und den synodalen Dekreten gewappnet. Er sagte nicht mehr Hosentaschen, sondern meinte die Tasche in der Soutane, jene Tasche in seiner tadellos sitzenden Soutane, die zusammen mit seinen Händen die Synthese zweier Jahrtausende Zivilisation war. Ich kann mich an das eine Mal erinnern, als ich ihn lachen sah; er wälzte sich zuckend auf dem Boden meiner Zelle. Das war während des ersten Theologiekurses und nachdem er sich das erste Mal seinen Schnauzbart rasiert hatte. Wir feierten das Ereignis auf meinem Zimmer, saßen auf dem Boden, auf der Truhe, auf dem Bett. Wir schenkten ihm einen Gilette-Rasierer, einen Pinsel und ein Stück Rasierseife. Später imitierte ich die Flötenstimme des Unterrichtspräfekten und erfand eine Lektion: «Die Dekadenz des Eselhaars in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts.» Ich erinnere mich an die Soutane Ramon Duchs – die ganz staubig war von den Fliesen, die nicht sehr gut gereinigt waren. Nun, da ich mich in meine Kindheitstage zurücksehne – als meine Mutter mit einer Schale dampfender Milch in mein Zimmer trat –, knie ich nieder. Ich stütze meine Ellbogen auf das Bett und weine und spüre die leisen Tränen auf der Haut, denn mein Leben und das Blut Christi sind Verlorene in der Wüste … weil ich für die Dinge, die mir aufgetragen wurden, ungeeignet bin … weil ich keinen Impuls spüre, die unerhörte Kraft der Sünder zu hassen.

Was mir geblieben ist, ich darf den schwarzen, wärmenden Schal spüren, den ich um meinen Hals gelegt habe, ich darf in die Nacht des Pavillons und dieser Berge schauen, auf das Foto vom Ende des Studiums, auf das Kästlein auf dem Tisch, die sorgfältig gebügelten Taschentücher obenauf, mit der kleinen Spitze und dem Digital darin, falls die Krise beginnt, jene Krise, die ich erwarte.


6 ANDREU RAMALLO

Joan Mercader und ich verließen die Lungenstation. Mit aufgeknöpftem Kittel und Händen in den Hosentaschen durchquerte Joan Mercader pfeifend und hart mit den Absätzen auftretend den Saal. Er ist jemand, der selbstsicher geht. Wie ein Korporal des Pionierregiments. Er hat etwas von einem Soldaten, der Ausgang erhalten hat. Wie er den Saal der Lungenstation verlässt, den Gürtel offen (den Bauchnabel fast kindlich zur Schau gestellt), wie er sich nicht zur Wand dreht, wenn er seine Hose herunterlässt, um das Hemd einzustecken. Jordi Mercader, der kein Unterhemd trägt, wie er mit dem Gesicht zu uns, als stünde er allein auf einem Feld, sich sein Hemd überzieht, sich im Kreuz streckend das Hemd vorne in die Hose stopft und kurz seinen gelbhäutigen Bauch zeigt. Danach bindet er seinen Gürtel zu und ordnet geistesabwesend und souverän mit zwei sanften Griffen seinen Schritt – wie das ordnende Herumfuchteln eines Matadors nach acht einfachen pases.

Beim Öffnen der Aufzugstür wandte er sich zu mir.

„Du hast feuchte Augen, beinahe wärst du in Tränen ausgebrochen, als dich der Direktor fragte, welchen Beruf du hast.“

Ich antwortete:

„Weil ich noch nie gearbeitet habe, darum. In meinem Dorf – Du hast keine Ahnung, wie die Leute in einem Dorf ticken! – würden die Leute Mitleid mit mir haben, wenn sie mich in einer Schreinerei arbeiten sähen oder im Steinbruch, wenn sie sähen, wie ich eine Schubkarre durch den Ort placke, mit Zement oder mit Kalk bis oben hin, wenn sie mich als Gepäckjungen auf dem Bahnsteig sähen oder bei Joan Martí, dem Barbier – du hast keine Ahnung, wie Spott auf dem Lande klingt. Einer wie ich dürfte nur in der Verwaltung arbeiten oder in einer Bank. Aber weder im Rathaus noch in der Bank hätte man mich gewollt, weil ich nichts besaß und mir Eugeni, der Kaufmann, manchmal etwas gab und mich in seinem Auto ins Theater in der Stadt mitnahm und ihn die Leute wegen mir schon «La Verònica» nannten.“

Joan Mercader sagte:

„Wenn du aus dem Sanatorium rauskommst, wirst du wie wir alle irgendwo schaffen. Der Direktor hat gesagt, dass du bereits gesund genug bist für Arbeit. Wenn du nicht arbeitest, wirst du wie vorher den ganzen Tag die Hände in die Hosen stecken. Man muss immer was in den Händen haben, ob Holz, Steine, Kalk oder Brot. Aber wenn du den lieben langen Tag die Wärme deiner Hosentaschen suchst, kommst du erst mittags aus den Federn. Du wirst sehen, wie du wieder fett wirst und dann traurig. Irgendwann reißen deine Arterien, und das Blut wird so heftig aus dir herausschießen, dass es den Spiegel vollspritzt, wenn du einen Spiegel in deinem Zimmer zu Hause hast. Du wirst wie Justo enden, der das Betttuch über den Spiegel am Waschbecken warf, damit er sein Blut nicht sehen musste. Du musst einen Ausweg finden, Ramallo. Einen Ausweg, hast du gehört …“

„Ich habe die Lösung. Sie ist mir gestern eingefallen. Im Bett.“

Und während er die Hand auf meine Schulter legt und mich mit seinen hellen Augen anschaut:

„Verzeih, was ich dir gesagt habe, Ramallo.“

„Sei ruhig, du hast ja recht, Mann.“


7 MANUEL TUR

Was ich denke: Es ist kalt auf dem Klosett.

Was ich spüre: Wenig Lust, Wasser zu lassen, eine Nervosität, so etwas wie den Vorwand, das Bett zu verlassen.

Ich setze mich auf und stütze mich kräftig links und rechts mit beiden Händen auf die Matratze.

Ich schaue auf das gelbe Mosaik der Galerie, auf die weißen Säulen, die grüne Landschaft, mit den Zehen suche ich nach den Pantoffeln unter dem Bett.

Auf den Füßen stehend. Ich. Der Kopf dreht sich mir und ich suche das Gleichgewicht, während die Augen schwindelig kreisen.

Warum gehe ich zum Spiegel? Ich weiß es nicht … natürlich, weil er sauber ist und ich mich in der Reinlichkeit des Spiegels begrüßen möchte.

„Hallo!“

Die grüne Dose Profidén-Zahnpasta auf dem weißen Waschbecken liefert mir den Anlass, hinzugehen. Meine Lippen sind voll und rot, meine Ohren groß und weit abstehend. Ich habe einen kurzen Hals und meine Augen waren schon immer glasig und wässrig. Schon immer. Es ist drei Uhr. Wie immer. Ich höre das Röcheln meiner Luftröhre. Das Röcheln der Luftröhre spiegelt sich nicht im Glas. Weil der Spiegel wie das Glück ist: Er wirft nur das Bild zurück, nie die Wirklichkeit. Wie der wunderbare Lichtstrahl eines Leuchtturms, der niemals das Petroleum mitsendet, niemals den Docht, der weder die Augen des Leuchtturmwärters noch dessen Frau mitsendet.

Der Rand des Waschbeckens reicht mir bis zur Hüfte. Ich lege meine Traurigkeit auf das Waschbecken, das weiß ist und aus Stein. Eine Traurigkeit wie aus jenen Tagen in meiner Kindheit, als draußen Sommer war und ich daheimblieb, allein, und die Tür schloss, um Vaters Rasierer hervorzuholen und mir in der Küche den Schnauzbart zu rasieren, heimlich, und mich freute, den feinen Geruch der Rasierseife in der Nase zu haben. Danach stellte ich mich im Schlafzimmer meiner Eltern vor den großen, gefasten Spiegel und freute mich zu sehen, dass ich ein Mann wie die anderen bin, die sich zur Wand drehen, wenn sie sich entkleiden.

Ich stelle mich an die Tür zum Korridor. Mein Kopf – er fühlt sich schwer an – drückt auf die Schultern.

Hinter der geschlossenen Jalousie stehen die grünen Eukalyptusbäume, sie wiegen sich in der kühlen Morgenluft. Die Bergkette ist nicht zu sehen, aber man spürt ihre Nähe, so wie Rheumakranke das Wetter fühlen.

Die Urinale sind weiß und abgetrennt, durch kleine marmorne Trennwände, die so grau sind wie das Gesicht Ramon Duchs, des Priesters und früheren Mitschülers von Pater Gabriel. Er starb in der 15. Alle gingen hin, um ihn zu sehen, bevor ihn Agustí Alcàntara in die Leichenhalle brachte. Sein Gesicht war wie mit Asche bestreut, die überweit aufgerissenen Augen waren grün, und wo sich sonst Tränen sammeln, war ein schwarzer Faden seines Blutes. Wer in der 15 stirbt, hat meist ein gefrorenes starkes Grinsen im Gesicht. Seines war ein rundes Lachen, als sei es ihm nach einem Witz ins Gesicht gesprungen. Als hätte ihm der Witz des Lebens gefallen, als hätte er, der aus der 15, den Witz des Lebens verstanden, als stünden das Lachen und die blutige Träne für die Weisheit und die Scham der 15.

Ein langer Pfiff gellt in mein Ohr. Wie das Pfeifen eines Zuges. Ich lege die linke Hand oben auf die Trennwand, die Augen schielen in die Tiefe, als hätten Sie keine Lust zu sehen. Der Kopf reckt sich über den aufsteigenden Dunst, mit dem Gesicht zur Wand. Ich uriniere, Tropfen für Tropfen, als weinte ich.

Wenn ich die Hand von der Trennwand nähme, würde ich zusammenklappen. Wie ein Toter. Wie jemand, der umfällt und stirbt. Mich mit den Händen an der Wand abstützend könnte ich zurück bis zum Korridor gelangen. Die paar offenen Meter vom Waschraum rüber zu meiner Tür werde ich nicht schaffen. Ich stütze mich von Trennwand zu Trennwand und gelange an das Waschbecken der Wand gegenüber, der entferntesten Wand. Ich beuge meinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Ich werde reagieren. Reagieren. Ich werde reagieren. Ich glaube an Gott. Ich glaube an Gott. Ich glaube an Gott. Eine Hand stütze ich auf das Waschbecken, denn trotz aller Vorsicht ist mir gerade eine Vene gerissen. Blut spritzt heraus. Heftig. Es spritzt gegen die gekalkte Wand. Es glänzt. Wie die Farbe auf den Werbetafeln, die nachts neben den Landstraßen aufleuchtet. Es schießt wieder hervor, diesmal ins Waschbecken. Ich kann nicht fort von hier, weil mich das Bluten hier festhält. Mit brutaler Kraft schießt es heraus. Wäre ich zu Hause, der Eimer wäre längst randvoll. Das Gesicht ist schweißnass und ich spüre – schon spüre ich – die Haut im Gesicht, wie sie sich strafft, wie ich austrockne, als wäre ich aushärtender Gips in einer Schale. Ich weine los, wie ein kleiner Junge, der sich verlaufen hat. Dann öffne ich die Augen. Der Stöpsel war im Ausguss und das Blut reicht im Waschbecken bis zur Hälfte. Ich ziehe an dem Kettchen, jetzt schließe ich die Augen – gluck, gluck, gluck –, als lauschte ich, wie einer meiner Freunde sein Leben aushaucht, ließe ihn kraft der Erinnerung nicht sterben und holte ihn mit all meinem Blut zurück.

Ich versuche zu schreien, aber ich öffne den Mund nur einen Spalt, wie Hühner, die in ihren Pferchen an der Sommerhitze ersticken.

Während ich mich mit der linken Hand am weißen, steinernen Waschbecken festkralle, schlage ich einige Male gegen die Wand, mit der Faust, mit den Knöcheln, gegen die Wand, mit dem Unterarm, gegen die Wand. Nach einer Weile begreife ich, dass die Wand die Wand des Waschraums ist, dass der Waschraum leer ist, dass es in diesem Waschraum nichts gibt außer dem sauberen, verständnisvollen, an der Wand hängenden Spiegel, während ich die Niederlage des Schuldlosen fühle.

Mutter, die du im Dorf geblieben bist, als du von der Fabrik heimgekehrt bist, abends, die Bluse und das Skapulier verschwitzt, hast du mich mit eingesunkenen, schwarzen Augen und mit ausgelaugtem, blassem Gesicht vorgefunden. Und während du mit der Hand durch mein Haar gefahren bist, hast du mich gefragt, was ich angestellt hätte, dass ich so totengleich aussehe. Ich habe auf die Fliesen des Patios gestarrt, mein Kopf von deinem Schatten verdeckt, und nicht bedacht, dass meine blutige Pubertät von dir abfließe wie jener bittere Schweiß, der aus deinen Achseln strömt. Für all das Salz, dass du auf unser Brot gestreut hast und für seine mit dem Kreuz gezeichnete Rinde, für all die Nachmittage, als wir am Ortsausgang Ausschau gehalten haben, weil wir in den Tagen nach dem Krieg kein Brot zum Kauen hatten, für die Brotscheiben, die es nicht gab, die du mir geschnitten hättest, für die zwei Brotscheiben, die so groß gewesen wären, wie Vaters Schuhe, flehe ich dich an, dass mir nicht wie Justo Pastor die Arterie platzt, denn dann brauchst du die gebügelte Wäsche nicht holen zu kommen, die nach meinem Leben hier liegen wird.


8 ANDREU RAMALLO

Heute Morgen bin ich nach dem Signal, das die Bettzeit beendet – der vorbeifahrende Zug ist das Signal –, auf die 38 gegangen.

Die 38 ist ein Zimmer für sechs: Esteve Padrón, Mateu Sureda, Jordi Rotger, Andreu Coll, Antoni Rosell und Jaume Galindo. Im Zimmer herrscht ein dicker, beißender Gestank. Die Luft stinkt nach schwefeligem Triom, reinem Alkohol, Schweiß und Kölnisch Wasser. Jaume Galindo lungert allein herum, seinen Kopf hat er auf die rechte Schulter gelegt. Die anderen sind auf der Galerie, halbnackt, nur den Kittel über den Pyjama geworfen. Mit rasierklingenscharfen Messern basteln sie wie Gefangene in einer Strafanstalt an filigranen Tabakdosen. Jaume Galindo, der seitlich auf dem Bett liegt, hat einen kleine Waschschüssel vor sich, eine grüne, saubere und mit Wasser gefüllte Schüssel.

„Wie geht’s, Galindo?“

„Hm … Du siehst doch.“

„War der Arzt schon da?“

„Ja.“

„Was hat er gesagt?“

„Dass sie mir, sobald es möglich ist, eine Thorakoplastik über neun Rippen verpassen müssen. Sobald es möglich ist.“

„Verdammt!“

„Dass ich es meiner Familie erklären soll, wenn sie mich besuchen kommt. Ich weiß schon nicht mehr, wie ich es ihnen beibringen soll.“

„Eine Plastik ist heute kein Problem mehr. Schau dir den Laborda an, den Martí, den Segú, die sind die Gesündesten des ganzen Pavillons. Ihre Tests waren negativ. Sie alle haben drei rote Kreuze … Sie hatten drei Kreuze schon vor mehr als einem Jahr.

„Die meisten von uns …“

„Ja?“

„Bei den meisten wird die Kaverne der Lunge vergrößert. Bei uns auch. Wir wissen, dass es uns umbringt und haben doch keine Wahl. Das ist wie eine Ekstase.“

„Weißt du, was mir aufgefallen ist?

„Was?“

„Wenn ich in die Kirche gehe, die heilige Kommunion empfangen, passiert mir genau das. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, als hätte ich eine Nacht lang durchschlafen können.“

„Mir hat ein Priester gesagt, dass man die Sünden des Fleisches mit dem Leben abbezahlt, solange man auf der Erde lebt. Das hat mich beeindruckt.“

„Das hat er gesagt?“

„Aber ja. Ich lag im Bett. Sechs Monate ist das her. Um Ostern herum. Die österliche Pflicht. Ich musste im Bett beichten.“

„Boah!“

„Eine Stunde etwas Horror. Nichts Außergewöhnliches eigentlich, aber er kommt in deinen Schlafraum; man küsst ihm die Hand; man müht sich, mehr oder weniger sympathisch rüberzukommen, weil man unbesorgt scheinen will, aber das schafft man nicht. Man fühlt, dass man es nicht schafft.“

„Ich könnte nicht im Bett beichten, was glaubst du?“

„Die ganze Schmach fällt auf die Familie zurück. Du weißt nicht, wie du es erklären sollst, aber … Die Familie geht hinaus, weil du beichtest. Man sieht hinterher, wie sie die Tür schließen. Sie warten im Eingang, schweigend, vermutlich mit überkreuzten Armen, und signalisieren den Frauen, die gerade vorbeikommen, mit Handzeichen durch die Fenster, dass ich hier hinten gerade beichte. Nachdem der Priester das Haus verlassen hat, herrscht zwischen einem und der Familie eine gewisse Anspannung. Jemand zieht den Stuhl, der beim Bett stand, etwas zur Seite, etwas langsamer als sonst … Man könnte sich daran gewöhnen, aber nicht, wenn die Familie zuschaut.“

„So was passiert mir auch, du. Vor allem mit meiner Mutter. Manchmal tritt sie in mein Zimmer, ohne zu wissen, dass ich dort bin und mich umziehe. Und wenn ich daran denke, dass sie mich nackt gesehen hat, meine staksigen Beine, hindert mich das den ganzen Tag daran, ihr in die Augen zu sehen. Weil man denkt – ohne zu wissen warum –, das letzte Mal, dass sie uns nackt sahen, war, als wir etwa acht gewesen sein dürften, und jetzt, wenn sie uns so hochgeschossen sehen, werden sie an all das Schlechte denken, das wir angestellt haben, seit sie uns das letzte Mal halfen, die Hose anzuziehen.“

Jaume Galindo hatte ein Säckchen mit Sand auf seiner linken Seite ruhen, gleich beim Schlüsselbein. Der Stoff dieses Säckchens war verschmutzt; siebenhundert Patienten dürften es für die Autokoagulation schon benutzt haben. Er hob es für einen Moment an («Dieser Sand beginnt doch schwer zu werden, du!») und legte es auf das Kissen. Ohne das Säckchen auf seinem Schlüsselbein sah Jaume Galindo nicht mehr so krank aus, er wirkte normaler, sympathischer, wie Militärs, wenn sie sich locker kleiden.

„Galindo.“

„Ja?“

„Hast du eine Verlobte in deinem Dorf?“

„Nein. Ich bin jetzt fünfundzwanzig und mit siebzehn war ich schon krank. Mädchen kamen mich besuchen. An Nachmittagen, im Sommer. Sie brachten mir Romane mit. Ich lieh ihnen meine Bücher. Nie hatte ich eine Verlobte. Ich bin immer allein ins Kino gegangen. Seit ich mich erinnern kann, vermisse ich solche Dinge.“

„Klingt nicht gut, du.“

Jaume Galindo legte sich das Säckchen wieder auf das Schlüsselbein. Er hatte roséfarbene Wangen, seine Ohren waren durchsichtig, die Lippen blass, die Haut darauf löste sich und er zog sie mit den Fingern ab. Wie beiläufig griff er mit einer Hand nach der Schale und legte die andere auf den Mund.

Die Hilfsschwester Carmen Onaindia kam, um die Schale zu leeren, dreimal bereits. Es war karmesinrotes, schimmerndes, warmes Blut, seines. Die Hilfsschwester leerte die Schale ins Waschbecken.

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1 321,47 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
17 июля 2023
Объем:
243 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783966750219
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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