Читать книгу: «La Fidanzata», страница 3

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Nach dem Mord an dem sozialistischen Oppositionsführer Giacomo Matteotti am 10. Juni 1924 durch ein faschistisches Killerkommando forderte der Verleger und Senator Luigi Albertini den späteren Staatspräsidenten Luigi Einaudi auf, einen Artikel zu verfassen, »damit Zyniker wie Giovanni Agnelli mal darüber nachdenken, was sie anrichten.« Ungerührt unterstützte der Industrielle indes im Senat eine Regierung, die nun offen in Richtung Diktatur steuerte. Fiat produzierte zu dieser Zeit rund 25.000 Autos im Jahr, die Leistungs- und Profitkurve ging beständig nach oben. In so gut wie jeder Turiner Familie arbeitete jemand für das kontinuierlich expandierende Werk, das dem Patriarchen jede Messe wert war – auch das Requiem für die parlamentarische Demokratie. Zum Dank gewährte der Diktator dem Industriellen den Auftrag zum Bau der Autobahn Turin-Mailand.

Sicher, die persönlichen Beziehungen zwischen Mussolini und Agnelli blieben kühl. Man brauchte sich und verabscheute einander auf das Gründlichste, allzu unterschiedlich waren der temperamentvolle Egomane aus der Romagna und der soldatisch strenge Unternehmer aus dem Piemont. Der Duce ließ das Telefon des Fiat-Patrons abhören, er verdächtigte den Industriellen antifaschistischer Händel. Agnelli konnte nicht verhindern, dass einer der Hauslehrer seiner Enkel wegen umstürzlerischer Umtriebe verhaftet wurde. Als er Franco Antonicelli eingestellt hatte, wusste er genau, dass dieser Intellektuelle ein Antifaschist war. Antonicelli führte die Agnelli-Kinder an Kafka und James Joyce heran, bevor die Faschisten ihn zwei Jahre lang in die Verbannung schickten. Als die Deutschen Italien besetzten, wurde Antonicelli Anführer der Resistenza im Piemont. Und erinnerte sich daran, dass er im Hause Agnelli stets korrekt behandelt worden war.

Giovanni Agnelli war ein Patron der alten Schule. Gegenüber seinen Angestellten wollte er allein das Sagen haben, schließlich wurden sie ja nicht von Mussolini bezahlt. Dennoch musste der Industrielle, als 1939 zur Fertigstellung des riesigen Mirafiori-Werks der Duce wiederum Fiat einen Besuch abstattete, einen Kotau vollziehen. Fast 50.000 Arbeiter beschäftigte Agnelli damals, und doch konnte er es sich nicht mehr erlauben, den stolzen Patriarchen zu geben. Stattdessen bat er um staatliche Subventionen für Autos – und wurde nicht erhört. Mussolini weigerte sich, den Traum Giovanni Agnellis zu verwirklichen, aus Fiat die zweiten Ford-Werke zu machen und aus Turin ein italienisches Detroit. Zwar fuhren auf den Straßen des faschistischen »Imperiums« zusehends mehr Autos, aber davon, ein echtes Massenprodukt zu werden, waren die Fiat-Wagen immer noch genauso weit entfernt wie Italien vom Rang einer führenden Industrienation.

1940 trat das Regime in den Krieg ein. Agnelli machte weiter Profit, obwohl die Pkw-Produktion drastisch zurückging. Aber der Absatz von Nutzfahrzeugen verfünffachte sich, und so konnte die familieneigene Finanzgesellschaft IFI fortwährend Immobilien in Florenz und Land in Umbrien kaufen: Das Vermögen sollte so geräuschlos und beständig wie möglich gesichert werden. Je länger der Krieg andauerte, je geringer die Erfolgsaussichten schienen, desto entschiedener ging der Unternehmer auf Distanz zu Mussolini. Im Januar 1943 listete die US-Botschaft in Bern einflussreiche Italiener auf, die die Zusammenarbeit mit den Alliierten suchten, und »Commendator« Agnelli aus Turin wurde an erster Stelle genannt – vor einem einflussreichen Grundbesitzer aus Kalabrien und einem Camorra-Boss aus Neapel. Tatsächlich verbot Agnelli nach Mussolinis Entlassung durch den König seinen Managern, in die Partei des faschistischen Satellitenstaates »Republik von Salò« einzutreten, den der entmachtete Duce unter Hitlers Protektion in Norditalien eingerichtet hatte und zu dem Turin ursprünglich gehörte. In Mirafiori wurde Vollbeschäftigung vorgetäuscht, um die Verschleppung der Arbeiter in deutsche Lager zu verhindern. Die Werksführung pflegte Kontakte zur Resistenza.

Wieder ging es um das Überleben der Fabrik, aber auch um das Fortkommen der Besitzerfamilie. Giovanni Agnelli hatte vom Faschismus in großem Stil profitiert. Die Löhne seiner Arbeiter waren von 1923 bis 1939 um 16 Prozent gefallen, seine Rendite war im selben Zeitraum ins Unendliche gestiegen. Als man ihn nach Kriegsende vor Gericht stellte, verstand der Patriarch die Welt nicht mehr. »Ich habe mein ganzes Leben der Arbeit gewidmet und denke nun, es könnte ein Fehler gewesen sein«, gestand er seinen engsten Mitarbeitern. Am 16. Dezember 1945 starb er als gebrochener Mann. Die von den Alliierten bombardierten Fiat-Werke lagen in Schutt und Asche. Und auch Juventus wartete auf den Wiederaufbau.

Gianni und Umberto
1947–2004

Von den sieben Geschwistern Agnelli übernahmen zwei Brüder die Juve, der Älteste, Gianni (1921–2003), und der Jüngste, Umberto (1934–2004). Der erste ein schillernder Charismatiker, der zweite ein zurückhaltender Pflichtmensch. Gianni und Umberto begleiteten den Klub sechs Jahrzehnte lang als Präsidenten oder Ehrenpräsidenten, vor allem aber stets als Besitzer und in ihren späteren Jahren schließlich auch wie Patriarchen. Der dritte Bruder Giorgio (1929–1965) litt an einer schweren Krankheit und starb früh, die Schwestern hielten sich vom Fußball fern – doch der Erste und der Letzte wurden die herausragenden Mäzene des Calcio in den Jahren des italienischen Wirtschaftswunders. Vorbilder und Konkurrenten für viele andere, kleinere »Feudalherren«, die sich ihre Klubs als teures Spielzeug leisteten, mit dem sie auf Kunden- und Wählerfang gingen. Solches kam den Gebrüdern Agnelli nicht in den Sinn. Sie hatten Juventus nicht gekauft, um damit höhere Ziele zu verfolgen, sondern waren als Erben mit dem Klub aufgewachsen. Er gehörte so selbstverständlich zu ihnen, dass sie gar nicht daran dachten, sich als Fußballbosse ins Rampenlicht zu drängen. Eher diente beiden die Erfahrung als junger Klublenker für spätere, wichtigere Aufgaben im Autokonzern.

Gianni Agnelli redete nicht über Fußball, wenn es um Geschäftliches ging. Er hielt das für unfein. Wenn ihn seine Gesprächspartner auf Juventus ansprachen, empfand er das als Anbiederei. »Man versucht da, eine Vertrautheit herzustellen, die nicht existiert.« Emblematisch aber ist die Episode um Michaíl Gorbatschow, der Turin besuchte, um Gespräche über Fiat und die Produktion in Russland zu führen. Da nahm ihn Gianni Agnelli am Morgen wie selbstverständlich mit zum Juventus-Training und fuhr wie immer selbst. Gorbatschow stieg also vor dem Trainingsgelände aus dem Auto und fragte vollkommen konsterniert den Dolmetscher: »Wissen Sie, was das soll? Was hat denn Agnelli hier auf einem Fußballplatz zu suchen?«

Anders war es mit den Arbeitern, da war Juventus die gemeinsame fidanzata, die Braut, von der beide Seiten träumten, der Fiat-Schlosser im Blaumann und der Industrielle im Kaschmirpullover. Juventus bescherte den Besitzern eine Popularität und eine »menschliche Komponente«, die sie als Industriebosse allein niemals erreicht hätten. Die Fußball-Leidenschaft schien Patron und Abhängige zeitweilig emotional auf eine Stufe zu stellen, litten und jubelten sie doch mit derselben Mannschaft. Für das Binnenklima war der Verein also wichtiger als für die Außenwirkung des Unternehmens.

Nach einem hauchdünnen Sieg seiner Juve beim AS Rom rammte der vom Spiel noch vollkommen benommene Gianni Agnelli einmal auf dem Parkplatz vor dem römischen Olympiastadion mit seinem Fiat 500 mehrere Autos. Die großzügig abgefundenen Geschädigten, allesamt Roma-Fans, zeigten Verständnis, war ihnen doch der damals mächtigste Mann Italiens als Mensch erschienen, geschwächt von jenen emotionalen Erschütterungen, die das spannende Fußballspiel, bei ihm genauso wie bei ihnen, ausgelöst hatte. Dass der Fußball alle gleich macht, ist natürlich eine Illusion, dass er das wirkungsvollste Identifikationspotenzial besitzt, war andererseits im Italien des 20. Jahrhunderts eine Tatsache. Und den Agnelli gelang noch etwas anderes. Sie übertrugen einen weit umspannenden Familiensinn etwa im Sinn einer altrömischen familia, zu der in der Antike auch die Leibeigenen gehörten, auf den Fußball. Sie »adoptierten« herausragende Spieler und vermittelten den Fans das Gefühl, ein Teil der wenn auch entfernteren Verwandtschaft zu sein. Vor allem Gianni Agnelli wollte als tifoso unter tifosi wahrgenommen werden, als »der einzige, der bezahlt«, wie er einmal betonte, aber deshalb noch lange nicht der Chef ist. Eher primus inter pares in einer Schicksalsgemeinschaft.

Gianni

Der älteste Agnelli erfand die sogenannte partitella, jenes traditionelle »kleine Match« zwischen Erster Mannschaft und Amateuren, das noch heute kurz vor jedem Liga-Saisonstart auf dem winzigen Sportplatz von Villar Perosa stattfindet. In diesem piemontesischen Dorf in der Hügellandschaft nordwestlich von Turin residieren die Erben von Fiat-Gründer Giovanni wie Feudalherren in den heißen Sommermonaten in der schlossähnlichen Rokoko-Villa ihrer Vorfahren, umgeben von einem verschwenderisch angelegten Park mit exotischen Gewächsen. Zur Mittagszeit an einem Tag Mitte August fährt vor der Villa Agnelli der Mannschaftsbus der Profis vor, bestückt mit Spielern und Trainerstab. Im Park gibt es für die kickenden Mitarbeiter üblicherweise ein Buffet und eine Ansprache des Präsidenten in Hemdsärmeln, bevor es gleich nach dem Kaffee auf den Dorfplatz unten im Tal geht. Das winzige Stadion mit seinen knapp 5000 Plätzen ist nach Gaetano Scirea benannt, dem früh verstorbenen Kapitän der Juventus in den 1980er Jahren. Aber nicht Scirea wird am Eingang gehuldigt, wo die Fans sich an zahlreichen Ständen mit Trikots, Schals, Kalendern und anderen Devotionalien eindecken können, sondern den Gebrüdern Agnelli. Eine riesige Banderole mit ihren Porträts ist über den Stadioneingang gespannt, wie ein Gruß an die beiden Toten, die längst oben auf dem Dorffriedhof ruhen.

Ein normales Fußballspiel erwartet hier niemand, es handelt sich eher um ein Familientreffen, bei dem die Fans ihre Idole tatsächlich anfassen dürfen. Ach was – anfassen: sogar ausziehen. Es gibt keine Absperrungen, die meisten Zuschauer hocken direkt am Spielfeldrand und verlangen von jedem Ausgewechselten, dass er ihnen sein Trikot überlässt. Nach dem Schlachtruf Invasione, der traditionell am Anfang der zweiten Halbzeit ertönt, strömt das Publikum dann binnen Sekunden auf den Platz und beginnt, die Spieler bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Die sind auf diese rüde Art der Reliquienbeschaffung vorbereitet und geben auch noch im Feinripp stoisch Autogramme. Und so ereignet sich in einem kleinen Ort in den Hügeln des Piemont ein Fest, wie es im europäischen Fußball nicht mehr vorkommt, jedenfalls nicht bei den Spitzenklubs dieser gigantischen, weitgehend globalisierten Unterhaltungsindustrie: Die Profis auf Tuchfühlung mit ihrem Anhang, eine beachtliche Demutsübung und eine nostalgische Geste aus Zeiten, da Eigner und Spieler bei den großen Klubs noch nicht Lichtjahre von ihrem Publikum entfernt waren.

Gianni Agnelli pflegte zu Villar Perosa tatsächlich eine enge Beziehung. Als junger Mann hatte er das vom Vater gegründete Kugellagerwerk geführt – mit 2500 Arbeitern die größte Fabrik der Gegend –, vor allem aber wirkte Agnelli drei Jahrzehnte als Bürgermeister. Der Avvocato, dieser Jahrhundertitaliener, ein Idol des internationalen Jet-Set, als Dorfvorsteher im Piemont, auch das war möglich in einem Land, wo die Pflege der eigenen Wurzeln nicht nur im Fußball so viel bedeutete.


Im Schneidersitz auf dem blanken Rasen schaut Gianni Agnelli seiner Juve zu

Juventus und der Avvocato, der Avvocato und Juventus – vielen Italienern erscheint das zu Teilen einer Dreifaltigkeit verschmolzen, zu der auch noch Fiat gehört. Ganz so, wie wenn Gianni, der vom Großvater ausersehene Erbe und Clanchef der Agnelli, in der Art eines großkapitalistischen Gottvaters auch die Geschicke bei Juventus im Alleingang geführt hätte. Tatsächlich aber war die Juve niemals nur Geschöpf des Avvocato, der übrigens so genannt wurde, weil er ein Jurastudium abgeschlossen hatte, auch wenn er nie als Rechtsanwalt arbeitete. Seine Präsidentschaft währte sogar nur sieben Jahre, von 1947 bis 1954. Genügend Zeit, um 1950 und 1952 Meister zu werden, also zumindest ansatzweise an die Erfolge des Vaters Edoardo anzuknüpfen, um die Dänen John Hansen und Karl Aage Præst nach Turin zu holen, vor allem aber, um den Jahrhundert-Juventino Giampiero Boniperti zu entdecken. Doch auch wenn die Zeit seiner offiziellen Führungsposition begrenzt blieb, sollte Agnelli bis zu seinem Tod bei Juventus den Ton angeben und den Klub mit der ihm eigenen Mischung aus Weltläufigkeit und Bodenständigkeit prägen.

Trainer der ersten Meister-Mannschaft unter seiner Ägide war Jesse Carver, ein eigenwilliger Engländer, der zum Trainingsanzug wie zum Smoking grundsätzlich und bei jedem Wetter Sandalen trug, Bondscoach der Niederlande gewesen war und bei Juve die Raumdeckung einführte. Das war revolutionär für die damalige Zeit und wurde anders als das Metodo-System auch nicht überall kopiert. Die avantgardistische Carver-Juve wurde 1950 mit unerhörten 100 Toren Meister, eine Zahl, die sie im Folgejahr noch mit 103 Treffern toppte – zur Titelverteidigung reichte es da allerdings nicht. Auf der Bank saß beim nächsten Triumph 1952 der Ungar György Sárosi, die Tore waren immer noch Schwindel erregende 98, davon 19 vom jungen Boniperti. Der war als Fußballer ein harter Hund, als Präsident und Statthalter der Agnelli von 1971 bis 1990 sollte er später den Klub ohne einen Funken Glamour und Grandezza kommandieren. Effizient, durchsetzungsstark und ziemlich humorlos, blieb er stets treuer Soldat der von ihm grenzenlos verehrten Agnelli-Brüder. Dabei war Boniperti extrem erfolgreich. Unter ihm gewann Juve als erste Mannschaft des Kontinents alle Europacups – Landesmeisterpokal, Pokal der Pokalsieger und Uefa-Pokal – sowie neun Meisterschaften und zwei Pokale.

Boniperti fungierte als ausführender Arm, die Agnelli waren Kopf und Herz der Juve. Sie suchten die großen Spieler aus, manchmal auch gegen den erklärten Widerstand ihres Präsidenten. Boniperti examinierte hingegen die Wasserträger, führte knallhart die Verhandlungen und besiegelte die Verträge. Dem Triumvirat gemeinsam war, dass es sich nicht mit dem 2. Platz zufrieden gab. Sie machten Juventus zum Rekordmeister, aber auch zum vornehmsten Klub Italiens. Denn sie garantierten durch ihre Erscheinung jenen stile Juventus, der sich nach ihrem Tod auf dramatische Weise verflüchtigen sollte und der erst durch Umbertos Sohn Andrea seine Renaissance erlebte. Die zweite Agnelli-Generation, Besitzer der Mutterindustrie ihres Landes, schuf mit Juventus ein Aushängeschild des italienischen Familienkapitalismus. Oft sah man die Brüder Seite an Seite im Stadion (und es, ob aus Ungeduld oder aus Aberglauben, eine Viertelstunde vor dem Schlusspfiff verlassen), beim Training oder in der Kabine mit der Mannschaft scherzen. Gianni und Umberto waren mit dem Klub, den ihnen der früh verstorbene Vater hinterlassen hatte, ein Leben lang eng verbunden. Sie schrieben die weltweit einzigartige Saga von ihrer Familie, Fiat und dem Fußball weiter, und Gianni blieb dabei stets der Protagonist: Ein moderner Märchenprinz mit Cäsarenkopf, Adlernase und sinnlichem Mund, aufgewachsen in großer Strenge und noch größerem Luxus, wurde er der berühmteste Italiener seiner Zeit. Ein Großkapitalist als Trendsetter: die Armbanduhr über dem Hemdsärmel, die Krawatte über dem Pullover. Die Inkarnation der Lässigkeit.

Bei seinen Landsleuten besetzte Gianni Agnelli die Rolle eines Ersatzkönigs. Neben diesem schönen und eleganten Industriellen wirkte der bullige, allenfalls durchschnittlich intelligente »echte« Kronprinz Vittorio Emanuele von Savoyen (geb. 1937), Sohn des letzten Königs Umberto II. (1904–1983) und ein ziemlich windiger Geschäftsmann, wie ein Vorarbeiter bei Fiat. Vittorio Emanuele heiratete die Tochter eines Keksfabrikanten, ihr gemeinsamer Sohn Emanuele Filiberto (geb. 1972) machte im italienischen Fernsehen Werbung für saure Gurken, sang beim Schlagerfestival von San Remo und trat in einer Tanzshow auf. Allesamt Aktivitäten, zu denen sich ein Agnelli niemals herabgelassen hätte. Nur eines teilten sie mit der dekadenten Ex-Königssippe: die Leidenschaft für Juventus. Und Juventus entrichtete dann tatsächlich auch einen letzten Gruß an den unglücklichen Umberto II., der sich von seinem Sohn losgesagt hatte, als er 1983 in der Schweizer starb. Auf Geheiß von Gianni Agnelli spielte die Mannschaft zu Ehren des ExMonarchen mit Trauerflor am Ärmel. Die Empörung in Italien war groß, denn Umberto hatte nicht nur nach wenigen Wochen im Amt 1946 abdanken müssen – die Savoyer wurden ins Exil verbannt. Zur Strafe für ihre Verbandelung mit dem Faschismus durften ihre männlichen Nachkommen bis ins Jahr 2002 nicht mehr in die alte Heimat einreisen.

Die Erben der Könige waren also personae non gratae, als Gianni Agnelli, dessen römische Residenz sich auf dem Quirinal genau vis-à-vis vom ehemaligen Königspalast befand, sie quasi auf dem Fußballplatz rehabilitierte. Genau so wurde die Sache mit dem Trauerflor am Arm von Dino Zoff, Gaetano Scirea, Roberto Bettega und den anderen verstanden. Ein Ritterschlag vom Industrieprinzen Agnelli für den abgehalfterten Adel, eine Provokation für die Republik. »Nur eine Geste des Respekts und der Höflichkeit«, ließ Gianni Agnelli ausrichten, sozusagen von einem Turiner für den anderen. Er habe sich wegen einer Herzoperation in Amerika befunden und vom Krankenhausbett aus Weisung gegeben – in Absprache mit seinem Bruder Umberto, der ja auch nicht von ungefähr einen Savoyer-Namen trug. In Wirklichkeit war die Höflichkeitsadresse an den toten Ex-Monarchen vor allem eine Demonstration der Macht. Agnelli hatten allen gezeigt, dass nur einer darüber bestimmen durfte, was seine Angestellten anzogen: er selbst.

Für Giannis Leben galt, wie sein Biograf Italo Pietra schrieb, »die Regel X minus 1«. Soll heißen, Konventionen, Vorschriften und rote Ampeln galten für alle außer für ihn. Zu einer eleganten Hochzeit raste er in letzter Minute mit einem seiner schnellen Autos, alle anderen waren im Frack, er präsentierte sich mit nacktem Oberkörper: Keine Zeit gehabt, sich noch was anzuziehen. Paparazzi lichteten ihn ab, wie er ohne Badehose mit zugehaltener Nase von seiner Yacht ins Mittelmeer sprang, das Aushängeschild eines hedonistischen Kapitalismus, dessen Herren allem entrückt schienen, den proletarischen Mühen der Arbeit ebenso wie der kleinbürgerlichen Gier nach Geld. Mit vollen Händen gab der Avvocato aus, was seine Autobauer erwirtschafteten, mal kaufte er einen Matisse, mal einen Platini – beides stand übrigens für ihn auf gleicher Stufe. Und beides wurde von diesem schillernden Mäzen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. In Italien, dem angeblichen Mutterland des Individualismus, aber auch der Konformisten, wurde er für seinen Reichtum beneidet, noch mehr aber um jene Nonchalance, mit der er sein Dasein genoss.

Fiat hatte Italien mobil gemacht, und Gianni Agnelli war der beweglichste aller Italiener. Überall und nirgends zu Hause, zwischen seinen Wohnsitzen in New York, Sankt Moritz, Turin und Rom immer unterwegs, im Privatjet oder in schnittigen Autos, die er selbst steuerte, während der Chauffeur auf dem Rücksitz saß: Es war ja keiner rasant genug für diesen nach Leben und Geschwindigkeit süchtigen Mann, der mit der Segelyacht auslief, wenn andere aus Angst vor den Sturmwarnungen im sicheren Hafen blieben. Er flog mit seinen Freunden nach Afrika, um nach einer halben Stunde wieder umzudrehen und Kurs auf die Alpen zu nehmen. Zu warm dort unten, war sein Kommentar. Und zu langweilig, er langweilte sich rasend schnell. Hin und her, rastlos, immer auf der Flucht vor dem Stillstand.

Nur Dienstmädchen verlieben sich, vertraute er seiner Schwester Susanna an. Man sagte ihm Dutzende von Affären mit mehr oder weniger berühmten Frauen nach, woran sich nichts Wesentliches änderte, als er 1953 die sehr gebildete und sehr aparte neapolitanische Prinzessin Marella Caracciolo heiratete. Ein Urahn der Braut hatte einst gegen Lord Nelson gekämpft und war von dem Engländer am Mastbaum seines Schiffes aufgeknüpft worden. Marellas Vater war Diplomat, die Mutter Amerikanerin, der Bruder Carlo wurde einflussreicher Verleger des Wochenmagazins »l’Espresso« und der großen linksliberalen Tageszeitung »La Repubblica«. Kurzum: eine Familie, die ganz sicher nicht im Schatten der Agnelli stand.

Marella fotografierte für Vogue, entwarf Stoffe, publizierte Bücher über Gärten. Vor allem galt sie als eine der elegantesten Frauen ihrer Zeit, über die Truman Capote sagte: Wenn Marella als Juwel in Tiffanys Schaufenster läge, wäre sie sehr, sehr teuer. Mit dem Ersatzkönig Gianni bildete diese echte Prinzessin ein Traumpaar des internationalen Jet-Sets – attraktiv, weltläufig und jenseits aller Konventionen. Dass Marella unter der amourösen Rastlosigkeit ihres Mannes litt, gestand sie erst im fortgeschrittenen Alter dem Journalisten Enzo Biagi, natürlich indirekt: »Für Gianni müssen Frauen nicht geliebt, sondern erobert werden.« Eine Scheidung, in Italien ohnehin erst ab 1970 erlaubt, kam dennoch nicht in Frage. Marella arrangierte sich, wie so viele weniger privilegierte italienische Ehefrauen. Er hatte die Frauen, sie hatte die Blumen.

Nie hatte man einen Industriellen erlebt, der über mehr Sexappeal verfügte als die großen Schauspieler seiner Zeit, niemals einen Autobauer, der von Andy Warhol porträtiert wurde – und über dessen Frau die New Yorker Intellektuellen ebenso verzückt waren wie die Pariser Modeschöpfer. Agnelli eroberte die Welt und die Welt vergaß angesichts dieser strahlenden Erscheinung manchmal, dass im Hintergrund zehntausende von Arbeitern so viel Glamour überhaupt erst möglich machten. Anders als der Deutsche Gunter Sachs trennte sich Gianni Agnelli nie vom Unternehmen seines Großvaters. Zwar ließ er sich Zeit, bis er 45 Jahre alt war, um die volle Verantwortung bei Fiat zu übernehmen. »Es gab auch Möglichkeiten für meine Generation, sich zu amüsieren«, sagte er schlicht. »Und ich habe mich amüsiert.« Als er damit durch war, ging er täglich von 8 bis 20 Uhr ins Büro: »Wenn man älter wird, ist es einfach interessanter, sich selbst, seine Energie und Ideen zur aktiven Gestaltung der Weltwirtschaft einzusetzen.« Aus dem Playboy wurde ein engagierter Patron, ein umsichtiger Patriarch, trotz erbitterter Arbeitskämpfe respektiert, ja zuletzt sogar verehrt beim Volk von Mirafiori.

Dazu eine kleine Szene vor dem Fiat-Werkstor Nummer 6 in Turin, wenige Wochen vor Gianni Agnellis Tod im Januar 2003. Der Dezemberwind fegt die letzten Blätter von den Bäumen, es ist still und grau und kalt. Ein alter Mann, frierend und gebeugt, wartet vor dem Tor, viele Jahre ist er selbst hier hindurch zur Arbeit gegangen. Man kommt ins Gespräch, der Alte zückt die Brieftasche, zeigt ein Foto. Darauf nicht die Frau, nicht die Enkelkinder, auch kein Fußballer. Das Bild zeigt ihn, den kleinen, dunklen Süditaliener, neben dem schlohweißen Kopf des alten Agnelli. Der greise Cäsar tätschelt dem wenig jüngeren Arbeiter die Schulter. »Plötzlich tauchte er auf bei der Verabschiedung in die Rente, um uns allen persönlich Lebewohl zu sagen«, erzählt der Mann vor Werkstor 6. Auch als Rentner fährt er noch zwei-, dreimal pro Woche mit der Tram bis zum Corso Unione Sovietica. Um in Mirafiori, bei den alten Kollegen, nach dem Rechten zu sehen. Ist ja irgendwie Zuhause. Er lässt die Frau zwei belegte Brote in die abgewetzte Ledertasche packen. Er zieht seinen blauen Arbeitsoverall an. Der Avvocato im Portemonnaie ist immer dabei, wie die Familienmitglieder auf den anderen Brieftaschenfotos.

In Turin kursierte der Witz über einen Fiat-Arbeiter, der sonntags mit der Familie ins Restaurant geht und den obersten Boss an einem der Tische erspäht. Der Arbeiter nimmt seinen Mut zusammen und tritt an die Tafel des Avvocato. »Entschuldigen Sie die Störung, Avvocato, ich bin Rossi aus Syrakus, ich arbeite in Halle 7 in Mirafiori.« Guten Tag, antwortet höflich Agnelli, sagen Sie ruhig, was sie auf dem Herzen haben. »Darf ich Sie bitten, später für eine Sekunde zu uns zu kommen?«, fragt der Arbeiter verlegen. »Meine Frau und meine Kinder würden sich so freuen, Sie kennen zu lernen.« Kein Problem, entgegnet Agnelli, und nachdem er sein Mittagsmahl beendet hat, schaut er tatsächlich bei Familie Rossi vorbei. Formvollendet stellt er sich bei der Signora vor, deutet einen Handkuss an und will gerade seinem Arbeiter aus Halle 7 auf die Schulter klopfen, als der herausplatzt: »Avvocato, also wirklich! Noch nicht mal sonntags lassen Sie einen in Ruhe essen!«

Aus diesem Witz kann man vieles lesen: Die stolze Haltung der Fiat-Arbeiter, aber auch die enorme Popularität Agnellis und schließlich den Mutterwitz der Sizilianer, die zusammen mit anderen Süditalienern den Löwenanteil der Fiat-Belegschaft stellten und die den Benimmcode der Piemonteser Herrenklasse nutzen, um diese vorzuführen und einmal selbst König zu sein, wenn auch nur für wenige Minuten. Dass Gianni Agnelli niemals einen Arbeiter abwies, war eine Tatsache und diese leutselige Kommunikationsbereitschaft wohl ein Geheimnis seines Erfolgs. Dutzende Juventus-Profis berichteten, dass der Boss sie regelmäßig in aller Herrgottsfrühe anrief, um mit ihnen das Spiel zu analysieren. Gianni Agnelli liebte diese Fachsimpeleien mit seinen Angestellten, morgens um sechs. Und natürlich traute sich niemand, zu dieser nachtschlafenden Zeit den Hörer aufzulegen.

Agnelli blieb ein Leben lang an der Seite einer Firma, einer Frau und eines Fußballklubs, wobei er Juventus vermutlich die größte Treue hielt: »Wenn ich auch nur in der Zeitung den Großbuchstaben J sehe, bereitet mir das Herzklopfen.« Für ihn war der Verein mit dem in Italien nicht gebräuchlichen Buchstaben J nicht die Alte Signora, sondern la fidanzata – die Verlobte. »Sie verschafft mir große Gefühle«, sagte er über Juventus, als handele es sich wirklich um eine Frau. Legendär die Episode, als er der Gattin des Franzosen Michel Platini einen riesigen Rosenstrauß ins Hotelzimmer schicken ließ. Die Platinis waren soeben in Turin angekommen, und Agnelli ahnte, dass er das vor allem Christelle zu verdanken hatte, denn über die Karrierestationen der Fußballer bestimmten damals wie heute natürlich deren Ehefrauen mit. Also wollte er sich Madame gegenüber als Kavalier zeigen, Christelle Platini sollte sehen, dass es keinen eleganteren Fußballboss gab als Gianni Agnelli.

»Was macht Sie glücklich?« wurde Agnelli von einem Reporter gefragt, die Antwort kam prompt: »Platini zehn Minuten lang spielen zu sehen.« Der Franzose war für ihn »ein vollendeter Fußballer«, sein Lieblingsspieler in sieben Juve-Jahrzehnten. »Wir haben ihn für ein Stück Brot gekauft und er hat Foie Gras darauf gelegt«, feixte er, aber es war nicht das gute Geschäft, das ihn erfreute, sondern die Mischung aus Fantasie und Effizienz, die den Enkel eines nach Frankreich emigrierten Maurers aus Piemont in den Augen des Patrons zur Inkarnation des Juventus-Stils machte. Freundschaft gab es nicht zwischen dem Boss und seinem Spieler, zu groß war der Unterschied des Alters, der Klasse und der Position. Aber einen freundschaftlichrespektvollen Umgang, den gab es, und Platini, der vor seinem Engagement bei Juventus noch nie etwas über den Avvocato gehört hatte, bewunderte bald seinen Arbeitgeber mit der von Agnelli geschätzten, selbstbewussten Ironie des Profis, der weiß, dass er von seiner Sache mehr versteht als der Chef.

Irgendwann einmal erwischte Agnelli, der oft in der Kabine auftauchte, Platini in einer Spielpause mit einer Zigarette. »Ich muss doch sehr bitten!«, regte sich der Avvocato auf, »ein Sportler wie Sie kann doch jetzt nicht rauchen!« Platini paffte ungerührt weiter: »Hauptsache Bonini raucht nicht.« Massimo Bonini war die Säule des defensiven Mittelfelds. »Der muss rennen. Ich nicht. Ich bin Platini.« Diese Leichtigkeit gefiel dem Mann, der sich selbst über Regeln erhaben fühlte und ihre Einhaltung den Mittelmäßigen zuordnete. Platini revanchierte sich übrigens, indem er dem Avvocato seinen dritten Goldenen Fußball schenkte: »Den können Sie sich nicht kaufen.«

Platini war sein Alter Ego auf dem Platz, anderen Spielern gegenüber blieb Agnelli distanzierter. Seine Zunge konnte messerscharf sein, er war alles andere als ein Schulterklopfer. Typisch eine Episode aus dem fernen 1952. Juventus musste in Rom gegen Lazio spielen und war vorher zu einer Papstaudienz eingeladen, bei der Pius XII. sich als Juventino gab. »Ihr müsst dieses Spiel gewinnen«, sagte der Heilige Vater. Prompt verlor Juve 0:2. Der Däne Karl Aage Præst, ein skandanivischer Protestant, konnte sich gar nicht wieder beruhigen: »Um Gottes Willen, was soll denn jetzt der Papst von uns denken?« Bis es Boniperti irgendwann zu viel wurde. »Der Papst, der Papst … denk lieber darüber nach, was du dem Avvocato morgen sagen willst!«

Gianni Agnellis Kindheit war zu Ende, als 1935 sein Vater Edoardo starb. Da war er 14 Jahre alt. Von einem Tag auf den anderen war Schluss mit der Unbeschwertheit, der heilen Familienwelt. Mit Edoardos Tod war auch für seine Witwe Virginia plötzlich kein Platz mehr bei der Familie Agnelli. Sie wurde ausgestoßen, als ob sie nie dazugehört hätte. Ihr Schwiegervater Giovanni ließ ihr mit Hilfe willfähriger Richter das Sorgerecht für die sieben Kinder entziehen, zur Strafe für ihr Liebesverhältnis mit dem Schriftsteller Curzio Malaparte. Der Deutschitaliener Malaparte war 1949 mit dem Roman »Die Haut« international bekannt geworden, doch in Italien hatte er sich schon vorher einen Ruf als Dandy gemacht. In den Anfangsjahren des Faschismus war Malaparte ein glühender Anhänger des Duce, 1922 beteiligte er sich am »Marsch auf Rom«. Sieben Jahre später wurde der Exzentriker Chefredakteur der Tageszeitung »La Stampa«, dem Blatt der Familie Agnelli. Giovanni Agnelli konnte ihn nie leiden, ließ ihn jedoch gewähren, bis sein Angestellter 1931 die als regimekritisch interpretierte Essaysammlung »Die Technik des Staatsstreichs« veröffentlichte. Chefredakteur Malaparte wurde gefeuert, Agnelli wollte keinen Ärger mit dem Duce. Nach weiteren zwei Jahren, wurde Malaparte auch aus der Partei ausgeschlossen und nach kurzem Prozess auf die Insel Lipari bei Sizilien verbannt. Kaum begnadigt, freundete er sich mit Virginia Bourbon del Monte an, Edoardo Agnellis gerade zur Witwe gewordener Frau. Eine Liebesbeziehung begann und 1936 wollten die beiden sogar heiraten. Mit Mitte 30 war Virginia eine der schönsten Frauen der High Society – und in jeder Hinsicht eine glänzende Partie. Ganz anders als Malaparte, weshalb Virginias Schwiegervater alle Register zog, um die Mesalliance zu verhindern oder zumindest seine Enkelkinder und Erben herauszuhalten. Der Senator ließ einen Zug anhalten, in dem Virginia mitsamt ihrer Kinder auf der »Flucht« nach Rom saß, und seine Enkel unter Polizeigeleit nach Turin zurückbringen. Erst als Gianni dem Patriarchen entschieden klarmachte, dass er und seine Geschwister mit der Mutter leben wollten, gab der alte Agnelli nach. Angeblich soll er Malaparte für die Trennung von seiner Schwiegertochter Geld geboten haben. Tatsächlich hatte die Beziehung keinen Bestand.

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9783946334361
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