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Kapitel 13
Ungerechtigkeit
Wernher und Lene
Als Lene seine Geschichte hörte, spürte sie, wie eine unbändige Wut in ihr hochkroch. „Wie gemein, von deinen Ziehbrüdern! Mit denen müsste grad das Gleiche gemacht werden, damit sie wüssten, wie das ist, was sie dir antaten!“ Wernher zuckte gleichmütig die Achseln. „Diese Welt ist ungerecht und nur die Reichen haben alle Rechte. Die Armen sind Habenichtse und müssen sich den Reichen fügen im Leben. Damit muss man sich abfinden. Sie wollen nur ein Stück vom Kuchen!“ Lene konnte seine Gleichmütigkeit nicht verstehen, es brachte sie nur noch mehr auf. „Du musst dich wehren, Wernher!“ „Wehren? Wie denn? Ich habe keine Möglichkeit.“ „Wir werden Nachforschungen anstellen, wie du zu deinem Recht kommen kannst“, rief Lene leidenschaftlich aus. „Ach du, meine wilde Rose“, lächelte Wernher glücklich. „Jetzt sehen wir erst einmal zu, dass wir dir helfen, bevor wir bei mir weitermachen. „Oma fehlt mir sehr“, murmelte Lene nun mit gesenktem Kopf. „Können wir einmal ins Ort gehen und schauen wo ihr Haus heute steht? Vielleicht ist da ja schon ein Haus.“ Wernher sah sie mitleidig an. Er konnte sich vorstellen, dass es für Lene schlimm war in dieser für sie fremden Zeit zu sein und sich zurechtfinden zu müssen. Dass sie da ihre liebe Großmutter vermisste, war ganz normal. „Also gut“, erklärte er sich einverstanden. „Wir gehen los, wenn es noch dunkel ist und halten uns in den Maisfeldern auf. Momentan steht der Mais hoch, das ist gut für uns.“ Sicher machte sich Oma große Sorgen. Sie war Lenes wichtigster Mensch im Leben geworden, seit sie ihre Eltern mit 12 Jahren bei einem Autounfall verloren hatte. Lene war auch im Fahrzeug gewesen und dabei schwer verletzt worden. Die Oma hatte ihr geholfen, wieder ganz gesund zu werden und mit ihr geübt und trainiert, bis sie ihre Beine wieder kontrollieren konnte. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sie auch glücklich war. Sie war glücklich, obwohl sie Heimweh nach ihrer Oma hatte und sich Sorgen um sie machte. Hin und hergerissen fühlte sie sich. Dieser Mann weckte die merkwürdigsten Gefühle in ihr, wie sie bisher noch keine gefühlt hatte. „Also, werte Dame“, lächelte er ihr zu, um sie auf andere Gedanken zu bringen: „Was ist euer Begehr, womit kann ich euch glücklich machen?“ Wernher lächelte sie anzüglich an und Lene schaute frech zurück und zeigte mit ihrem Kopf auf ein gewisses Körperteil. „Was, schon wieder?“ Er lächelte glücklich und selbstgefällig. „Gell, in eurer Zeit gibt es nicht mehr so gute Männer wie mich.“ „Weiß ich nicht, ich habe noch keinen es wert gefunden, mit ihm meine Zeit zu verbringen.“ Lene brummte zufrieden, als Wernher zart an ihrer Schulter knabberte. Versunken sahen sie sich in die Augen und Wernher zog Lene zurück auf seinen Bauch und sie liebten sich mit so viel Gefühl und Glück, dass es ihr ganz schummrig wurde. Wie war das nur möglich? Sie dachten nicht länger nach, sondern genossen, das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Da, wo sie schon immer hingewollt hatten, ohne es zu wissen. Ganz unverhofft hatten sie nun das Glück gefunden und waren beide ganz erstaunt darüber. Ein Geschenk des Lebens, einfach so – kaum zu glauben. „Was möchtest du heute tun, mein Lieb?“ fragte Wernher liebevoll. „Ich würde gern sehen, wie es in Mömlingen aussieht, Ob da ein Haus steht, wo in meiner Zeit Omas Haus ist.“ „Ah, das kann ich verstehen. Die Heimat fehlt dir sehr, gell?“ Wernher nickte verständnisvoll. „Ja, hauptsächlich meine Oma, vielleicht spüre ich von ihr dort etwas, auch wenn sie nicht da ist.“ „Gut, wenn wir gegessen haben, laufen wir los. Unterwegs kommen wir an meiner Waschstelle vorbei, da können wir uns ein wenig pflegen und dann gestärkt, den Ort besuchen.“ „Bist du da nicht in Gefahr?“ Lene wollte nicht ängstlich erscheinen, andererseits aber wollte sie keinesfalls, dass Wernher durch sie in Gefahr geriete. Wernher sah sie freundlich an. „Doch mein Schatz, aber ich werde aufpassen und wir werden uns nicht auf freiem Feld sehen lassen. Das ganze Dorf ist momentan von Mais und Frucht umgeben - der Mais steht fast mannshoch und wir können uns gut darin verbergen.“ „Einverstanden“, Lene war es zufrieden und so machten sie sich daran, die Vorräte von gestern zu verzehren. Gelberüben machten zwar nicht direkt satt, aber sie füllten den Magen und waren gesund. Nun werde ich ganz ohne Mühe abnehmen, dachte Lene zufrieden. Es gab ja nichts das dick machen könnte.
Kapitel 14
An der Mümling
Einträchtig wanderten sie kurz darauf los. „Wo ist denn dein Bach?“ Lene konnte es wieder einmal nicht abwarten und Wernher zog eine Augenbraue hoch. „Geduld, Geduld, mein Lieb. Weiter unten im Tal ist das Flüsschen. Mal sehen, ob du es kennst!“ Es ging ganz schön steil abwärts, über die Wiesen und durch Hecken, und an Bäumen vorbei. „Vorsicht“, rief Wernher, das sind Brombeerranken. Die können ganz schön verletzen und richtige Hautfetzen rausreißen!“ Lene ließ sich dankbar an die Hand nehmen und Wernher half ihr, so gut es ging, hinunter. „Au, meine Knie tun schon weh!“ Lene schnaufte laut. „Gleich sind wir unten, mein Lieb“, beschwichtigte Wernher und fing sie auf, als sie stolperte. „Hoppla! Sieh, schon sind wir unten! Da ist das Flüsschen, wenn wir ein Stück rechts gehen, hinter diesen Hecken, da sieht uns keiner und es gibt eine kleine Sandbank, wo wir ins seichte Wasser waten und uns waschen können.“ „Schön!“ strahlte Lene und folgte Wernher voll Vertrauen. Sie arbeiteten sich durch eine verwachsene Hecke auf einen kaum sichtbaren Pfad, bis sie ans Ufer der Mümling gelangten. „Die Mümling - wie schön!“ rief Lene. „Sieht sie noch so aus, wie in deiner Zeit?“ wollte Wernher neugierig wissen. „Fast!“ rief Lene verhalten. „In der heutigen Zeit ist alles ein bisschen gerader, aber sie ist noch so tief und so breit wie hier und mir gefällt sie so, wie sie von Natur aus ist, am besten.“ meinte Lene und fing schon an, sich auszuziehen. Hand in Hand gingen sie vorsichtig ins Wasser. „Ist es auch nicht so tief?“ Lene war ängstlich. „Nein, es ist nicht sehr tief und die Strömung ist zwar da, aber nicht zu stark. Ich halte dich, dann wird dir nichts passieren.“ „Schade, dass wir keine Seife haben“, meinte Lene. „Aber wir haben doch welche!“ rief Wernher belustigt und zog ein Stück Kernseife aus der Hosentasche. Aha, deshalb war sein Haar so weich und deshalb roch Wernher so angenehm, obwohl er so primitiv lebte. Er seifte Lene ein, von Kopf bis Fuß, auch die Haare vergaß er nicht einzuschäumen und danach nahm ihm Lene das Seifenstück aus der Hand und tat bei ihm das gleiche. Schön seifig sahen sie aus und kicherten wie kleine Kinder. Hand in Hand tauchten sie immer wieder unter, wo das Wasser tief genug dafür war. Das tat gut, wenn das Wasser auch eiskalt war. „Weißt du, dass später einmal genau hier ein Stadion stehen wird?“ rief Lene lachend aus. “Ein Stadion? Was ist denn das?“ Wernher sah sie neugierig an. „Ein Stadion ist ein großer Platz, der oval angelegt ist, für den Sport. Außen herum geht eine Laufbahn, die Aschebahn, da laufen die Kinder um die Wette gegeneinander, um fit zu bleiben. Sie haben Sport als Schulfach im Unterricht.“ „Sport? Schulfach? Unterricht? Ich hatte nicht viel Unterricht. Nur ein paar Stunden im Winter, bei einem alten Pfarrer und bei meiner Ziehmutter. Die war sehr belesen und wusste vieles, aber Sport hatten wir nicht. Was ist das eigentlich?“ wollte er wissen. „Sport ist nichts anderes, als Bewegung. Die Kinder lernen Bewegungsübungen, sie rennen und springen, um ihre Muskeln zu trainieren und den Körper zu ertüchtigen.“ Wernher sah sie verständnislos an: „Wir hatten genug Bewegung bei der Arbeit und beim Laufen! Ich denke, mehr brauchten wir nicht.“ „Das ist wahr“, grinste Lene. „Aber heute haben die Kinder kaum Bewegung, sie sitzen viel und das ist nicht gut.“ „Das verstehe ich nicht. Haben die Eltern nicht so viel Arbeit, dass die Kinder mithelfen müssen? Ich kann mir das nicht vorstellen“, meinte Wernher erstaunt. „Das glaub ich dir gerne“, verstand Lene ihn, „weißt Du, heutzutage hat kaum noch jemand Landwirtschaft, bei der die Kinder helfen könnten.“ Das konnte sich Wernher nun überhaupt nicht vorstellen, sah ihm Lene an und lächelte in sich hinein. „Hinter der Kurve ist eine kleine Mühle“, murmelte Wernher leise. „Brunnenmühle heißt sie. „Zeigst du sie mir später?“ Lene sah ihn fragend an. „Von weitem, es ist zu gefährlich“, erklärte Wernher. Dann legten sie sich ein wenig in die Sonne auf die Sandbank und waren nach kurzer Zeit trocken. Außer Lenes Haaren versteht sich, die brauchten immer lange. Aber das war nicht schlimm, es war ja warm. Sie zogen sich an und liefen weiter. „Siehst du, hier!“, deutete Wernher nach links, „dort liegt Momlingen! Wir werden uns vorsichtig durch den Mais arbeiten. Das merkt niemand, wenn wir leise sind und nicht zu sehr an die Stängel geraten, damit sie nicht wackeln!“ „Gut, Wernher!“ Lene folgte ihm im Gänsemarsch und sie liefen vorsichtig von einem Maisfeld ins andere. Es waren viele kleine Felder, nicht nur ein paar riesige Äcker, wie es Lene kannte. Die Flurbereinigung lag noch in weiter Ferne. Gott sei Dank, fand sie. Aber das war trotzdem kein Problem, die Äcker lagen rings um den Ort und so liefen sie vorsichtig von einem in den anderen, wenn einer zu Ende war - nicht ohne sich vorher sorgsam umzuschauen. Wernher nannte ihr alle Flurnamen, aber Lene konnte sich nicht alle merken, es schwirrte ihr der Kopf. Dennoch bemerkts sie erstaunt, dass sich einige der alten Namen, fast unverändert, bis in ihre Zeit gehalten hatten.
Kapitel 15
In Mömlingen
„Schau“, flüsterte Lene. „Da ist die Stelle, glaube ich, wo heutzutage ein Kreisel ist.“ „Ein Kreisel?“ verwunderte sich Wernher. „Ja, da fahren die Autos im Kreis hintereinander in rechter Richtung und biegen da ab, wo sie hinwollen. Entweder zum Königswald hoch, nach Mömlingen hinein, in den Odenwald oder nach Eisenbach.“ „Das gibt es noch?“ Wernher war froh, dass nicht alles anders war in Lenes Zeit. „Ja, das gibt es alles noch.“ „Aber was sind Autos?“ Wernher sah sie verwirrt an. „Autos? „Das sind Kutschen ohne Pferde, die von einem Motor betrieben werden, mit Benzin als Treibstoff.“ Auf Lenes Erklärung hin, sah er nur noch verwirrter aus. Lene lächelte, nahm seine Hand und sagte: „Das erkläre ich dir ein anderes Mal, wenn wir mehr Ruhe dafür haben.“ Jetzt stand hier anstelle des Kreisels eine winzige, offene Kapelle. „Ist das schon die Wendelinuskapelle? Ich kannte nämlich noch eine Kapelle, die früher hier stand, als ich ein Kind war - die Wendelinuskapelle. Jetzt steht sie auf dem Berg, über der Schule.“ Lene sah ihn fragend an. Wernher betrachtete das Kapellchen nachdenklich. „Das ist das Wendelshäuschen. Hier beten die Menschen für eine gute Ernte und gesundes Vieh. Der Wendel ist ein guter Heiliger, ein Hirte, der die Tiere geliebt hat. Darum habe ich ihn auch gern“, antwortete Wernher. „Komm, wir gehen Richtung Ort.“ Lene lächelte, weil sie sich freute, in dem Häuschen ein kleines Stück Vertrautheit gefunden zu haben. „Da vorne wohnt meine Oma!“ rief Lene aufgeregt und deutete auf eine alte Scheune. „Ganz am Ortsrand?“ Wernher deutete in Richtung heutige Hauptstraße. „Ja“, Lene zog ihn voran. „Da, am Amorbach. Er fließt ja mitten durch den Ort. Heute sieht man ihn leider nur noch teilweise, weil das größte Bachstück unterirdisch gelegt wurde - also unter der Straße fließt.“ „Das geht?“ Wernher war ganz erstaunt. „Ich möchte nur wissen, wofür das gut sein soll. So ist es doch viel einfacher, man hat immer das Wasser parat, wenn man es braucht und die Tiere können direkt daraus saufen.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Dann wollen wir mal, komm!“ Auch hier fanden sie ein Maisfeld als Unterschlupf und vorsichtig setzten sie ihren Weg fort, bis Lene abrupt stehen blieb. „Hier ist es!“ „Was?“ meinte Wernher erschrocken. „Na, Omas Haus!“ Da war jedoch nur die Scheune, die sie von weitem gesehen hatten. Gegenüber erhob sich eine Ziegelei. „Das wird wohl erst noch gebaut.“ meinte Wernher trocken. „Oh je“, - Lene traten die Tränen in die Augen. „Es sieht alles so fremd aus. Gar nicht, wie ich es kenne und es gefällt mir kein bisschen so. Zum Beispiel diese Ziegelei, die steht heute gar nicht mehr, dafür steht dort das Haus meiner Freundin Jo.“ Sie schluchzte leise auf. „Dann komm!“ Sanft nahm Wernher ihre Hand und zog sie den Hang hoch, zum Kühtrieb hinauf. „Hier sind wir schneller!“ Flink huschten sie den Weg zwischen hohen Hecken hoch. Hier konnte sie niemand von der Seite aus sehen, es sei denn, jemand kam ihnen des Wegs entgegen. Lautes Muhen machte dem Kühtrieb-Weg alle Ehre und sie sahen den Hirten vor sich laufen, der ein paar Kühe und Rinder den Weg hochtrieb. „Da oben weiden die Kühe immer?“ Fragend sah Lene Wernher an. „Ja, die Kühe grasen da oben, begleitet von Kuhhirten, meist sind es ein oder zwei Kinder. Die Schweine werden an einem anderen Ort gehütet. Es gibt dafür einen extra Sauhirten. Er führt die Schweine in den Wald, wo sie Eicheln fressen und noch so einiges, was sie finden und mögen. Die Leute sind arm und könnten die Schweine sonst nicht mästen.“ „Das verstehe ich“, nickte Lene. „Und die Gänse und Hühner?“ „Die laufen überall frei herum“, sagte Wernher. „Sie wissen ganz genau wohin sie gehören. Sie sind nicht dumm. Besonders Gänse sind sehr intelligent. Sie sind sogar besser als jeder Hofhund, weil sie fremde Leute vertreiben, indem sie zischen und ihnen in die Beine zwicken. Das tut ganz schön weh - kann ich dir aus Erfahrung sagen.“ Lene grinste, das konnte sie sich lebhaft vorstellen. Trotzdem war sie nicht scharf darauf, mit einem Gänseschnabel Bekanntschaft zu machen. Sie erzählte Wernher von ihrem Vater, der aus Aschaffenburg stammte und dort als Kind die Gänse gehütet hatte und sogar mit ihnen im Main geschwommen war. Wernher war gehörig beeindruckt und Lene freute sich darüber. Mit dem Erzählen verging die Zeit wie im Flug und ehe sie sich versahen, waren sie oben angekommen und sahen unter sich, auf der anderen Seite, den Buchberg vor sich liegen. Übermütig spielten sie Fangen und waren schnell unten angekommen. „Halte dich dicht hinter mir“, bestimmte Wernher und zog Lene hinter sich über den schmalen Holzsteg, der die Mümling überspannte. Nun waren sie bald bei der Hütte angekommen und rechtschaffen müde. In der vorigen Nacht hatten sie alles, außer Schlafen im Sinn gehabt, aber nun waren sie erschöpft. Hungrig waren sie auch geworden und hatten sich daher ein paar Maiskolben abgemacht, die sie nun hungrig verzehrten und Wasser dazu tranken. „Wenn man richtig Hunger hat, schmeckt alles gut!“ lächelte Lene zufrieden, während Wernher sie glücklich betrachtete.
Kapitel 16
Auf der Suche nach Hilfe
Begierig hörte Wernher die Geschichten aus der Zukunft, von den Fahrzeugen ohne Pferde, die so schnell fahren konnten, wie der Wind und so viel Kraft hatten wie 80 Pferde, oder sogar noch mehr. Er konnte sich das nicht vorstellen, wollte aber alles wissen. Lene zeigte ihm ihr Handy, die Bilder darauf und ihr Auto, das sie zufällig einmal fotografiert hatte - einen Opel. Wernher konnte nicht genug davon bekommen. Aber Lene schaltete es wieder aus. Wenn der Akku leer wäre, könnte sie es nicht mehr anschalten, sie hatte kein Ladegerät dabei. Wernher ließ sich neugierig erklären, was es damit auf sich hatte. Unverständlich eigentlich für einen Menschen seiner Zeit, war er doch wissbegierig und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Lene hatte das Gefühl, dass er mehr verstand, als sie anfangs gedacht hatte. Sie waren beide sehr glücklich, wussten aber, dass es so kein bleibender Zustand sein konnte. Sie mussten etwas tun. Sie konnten sich nicht für alle Zeit in der Hütte verstecken. Spätestens wenn der Winter kam, mussten sie woanders hin, sonst würden sie erfrieren. Sie beratschlagten den ganzen nächsten Tag und kamen beide zu der Ansicht, so bald wie möglich Hilfe suchen zu müssen. Wernher wollte als erstes seine Verwandten aus Erlenbach - eigentlich waren es die Verwandten seiner Ziehmutter, um Hilfe bitten. Langsam packten sie ihre wenigen Habseligkeiten in den Rucksack und schlossen die Tür hinter sich. Lene sah sich wehmütig um. Hier waren sie so glücklich gewesen, obwohl sie nur sich gehabt hatten, aber genau das war es! Noch nie hatte sie so empfunden. Mit keinem Menschen bisher dieses tiefe, reine Gefühl erlebt und noch nie, war sie so von Herzen glücklich gewesen. Wernher nahm ihre Hand und sie liefen los. „Vorsicht Lene, hier gibt es viele Dornen!“ Sie setzte ihre Füße vorsichtig und folgte ihm mit schnellen, aber nicht zu hastigen Schritten. Als sie eine halbe Stunde so gegangen waren, kamen sie an den versprochenen Brunnen. Sie glaubte, sich dunkel an den Bubenbrunnen zu erinnern. In der späteren Zeit würde daran eine Tafel angebracht sein und der Brunnen schön in Sandstein gefasst. Der Wald war hier sehr dicht und der Brunnen nicht einsehbar aus der Ferne. Man musste schon nahe herankommen, um sie dort sehen zu können. Das Wasser schmeckte köstlich und sie füllten die Flasche, nachdem sie ihren Durst gelöscht hatten. „Komm Lene, hier geht es lang!“ Wernher nahm wieder wie selbstverständlich ihre Hand und Lene ließ sich bereitwillig von ihm führen, über Stock und Stein, nach Erlenbach, welches sie gut kannte. Aber wie würde es in dieser Zeit aussehen? Sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken und folgte Wernher vertrauensvoll.
Kapitel 17
Fremde Welt
Nach einer Stunde hatten sie den Main erreicht. Vertraute Gegend und doch ganz fremd. Ein Glück, dass Wernher dabei war. Wo war denn die Brücke? Lene sah mit panischem Blick nach links und rechts, vergeblich. Es gab keine Brücke über den Main. Wie sollten sie dann hinüberkommen? Erlenbach lag auf der anderen Mainseite! „Wernher, wie kommen wir da hinüber, es gibt ja gar keine Brücke hier?“ Wernher strich ihr beruhigend über den Handrücken. „Natürlich nicht. Es gab hier noch nie eine. Wir fahren mit der Fähre!“ „Mit der Fähre? Hast du denn Geld?“ „Nein, das habe ich nicht, aber der Fährmann ist mir noch etwas schuldig. Ich habe ihm letztes Jahr geholfen, als er nichts mehr zu essen hatte für seine Kinder, er wird uns sicher umsonst hinüberbringen.“ „Also gut.“ Lene folgte Wernher bis ans Mainufer, wo die lidschäftig aussehende Fähre an einem Strick am Ufer lag. „Oh je, sieht die wacklig aus!“ „Keine Angst!“ Wernher schob die widerstrebende Lene auf die Fähre und folgte ihr auf dem Fuße. „Wir werden sicher auf der anderen Seite ankommen, du wirst sehen!“ Der Fährmann hatte gedöst, schrak jedoch hoch beim Klang ihrer Stimmen und beim Schwanken der Fähre. „Wer seid ihr und was ist euer Begehr?“ „Ludwig, ich bin es, der Fronhof-Wernher“ „Ach du bist es!“ beruhigt sank der Fährmann zurück auf die Sitzbank. „Bitte seid so gut, bringt uns und auf die andere Seite hinüber, Ludwig.“ Dieser kratzte sich am Bart, legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. „Und was bekomme ich dafür? Suchen sie dich etwa? Nicht, dass ich Schwierigkeiten bekomme!“ „Sie denken ich sei tot, Ludwig.“ Wernher klang bitter. „In ein Loch haben mich meine sauberen Brüder geworfen und meinem Schicksal überlassen. Dieses Mannsbild hat mich gerettet!“ Wernher hatte Lene eingeschärft, ihr Haar zu verstecken und hatte ihr seine Kappe zu tragen gegeben. Mit den Hosen würde sie jeder für ein Mannsbild halten. Es war sicherer so. Einem Weibsbild konnte alles Mögliche passieren. Als Mann war sie (hoffentlich) sicherer. Ludwig sah die beiden nachdenklich an. „Gut Wernher, weil du es bist. Du hast noch etwas gut bei mir. Wärst du nicht gewesen, hätte ich nun keine Frau und Kinder mehr. Sie wären elendiglich verhungert.“ Der Fährmann fing an, die Fähre vom Ufer los zu staken. Lene machte ängstlich die Augen zu. Da spürte sie, wie Wernher verstohlen nach ihrer Hand griff und sie beruhigend drückte. Sogleich fühlte sie sich sicherer und öffnete die Augen wieder. Der Fährmann sah arm aus, fand sie. Sein Hemd war vielmals geflickt, das sah sie sogar im Dunkeln und er war sehr dünn. Impulsiv nahm sie die Tafel Schokolade aus dem Rucksack und brach ihm eine kostbare Reihe davon ab. „Hier, Fährmann, habt ihr etwas für euere Kinder. Viel ist es nicht, aber ein wenig und besser als nichts. Sicher wird es ihnen schmecken.“ Neugierig leckte der Fährmann daran, bevor er die Reihe in seinem Säckel verschwinden ließ. Verzückt lächelte er Lene an. „Danke mein junger Herr! Meine Frau und die Kinder werden sich freuen und Gott wird es dir lohnen in der anderen Welt.“ Wie leicht man jemanden glücklich machen kann, dachte Lene verwundert. Und bei uns hat jeder so viel Schokolade wie er will, zu viel sogar, so dass wir krank davon werden können und dieser arme Mann hier ist halb verhungert und überglücklich, seinen Kindern und seiner Frau eine winzige Kleinigkeit schenken zu können. „Soll ich noch eine Reihe?“ flüsterte Lene. Wernher sah sie bedauernd an. „Lieber nicht, wer weiß, wann wir etwas zu essen bekommen. Die Schokolade wird uns bei Kräften halten, wenn wir nichts finden sollten.“ Das sah Lene ein. Ohne dass sie es bemerkt hatte, waren sie schon auf der anderen Seite angekommen und stiegen vorsichtig aus. „Man könnte meinen, der junge Herr sei ein Weib, so ängstlich ist er“, brummelte der Alte. „Er hat noch nie einen so breiten Fluss gesehen Ludwig und deshalb gesunden Respekt davor“, rief Wernher und die beiden Männer lachten grölend. Ludwig war stolz auf „seinen“ Fluss und glaubte unbesehen, dass es Menschen gab, die noch nie einen solch breiten und prachtvollen Fluss gesehen hatten. Wernher zog Lene die Böschung hinauf und sie waren bald hinter den Büschen verschwunden, die den Flussrand säumten. „Komm Lene, es ist nicht mehr weit. In einer Stunde haben wir es geschafft.“ „Eine Stunde nur? Im Dunkeln? Das glaube ich nicht“, knotterte Lene. Doch Wernher gab nicht nach und zerrte sie weiter. Der Weg wurde breiter und man konnte durch den Vollmond einigermaßen sehen, wohin man trat. Sie kamen gut vorwärts. Wernher hatte recht gehabt. In der Ferne sah man bereits Erlenbach liegen. „Wir werden nicht gleich ins Ort gehen. Es wird schon hell. Ich kenne eine kleine Höhle, dort werden wir rasten. Ich werde später erst einmal alleine zu meinen Verwandten gehen und du bleibst in der Höhle versteckt.“ Lene nickte, was Wernher zwar nicht sehen, aber am Luftzug spüren konnte. So wanderten sie einträchtig weiter. In ruhigem Tempo, aber gleichmäßig, so dass sie gut vorankamen. Als sie fast dort waren, wollte Lene wissen, wo die Höhle sei und Wernher führte sie in einen kleinen Steinbruch. „Hier haben früher schon die Römer Steine geschlagen. Da hinten im Wald, ist unser Versteck, komm!“ „Ja, ich komme ja schon!“ Lene trottete weiter an Wernhers Hand hinter ihm her. Ihre Füße mochte sie gar nicht sehen. Die sahen sicher lustig aus. Mit Blasen und Schwielen vielleicht sogar schon. Hinkend ging sie weiter, sie konnte kaum noch laufen. Wernher nahm es gar nicht zur Kenntnis und zog sie in ein Dickicht, das auf den ersten Blick undurchdringlich wirkte. „Au, da sind Stacheln!“ schimpfte Lene leise. Wernher kam zu ihr, befreite Lene aus der Brombeerranke und zog sie vorsichtig um eine kleine Kurve. Schon standen sie auf einer kleinen Lichtung und sie sah, dass der Eingang der versprochenen Höhle direkt vor ihnen lag. „Ist da auch kein Viehzeug drin?“ wollte Lene mit ängstlichem Gesicht wissen. „Nein, es gibt keine Bären hier und Wölfe hat man auch schon länger keine mehr bei uns gesehen“, antwortete Wernher. „Was?“ Ich meinte doch Spinnen und Käfer! Gibt es hier etwa auch große, gefährliche Tiere? Dann gehe ich nicht hinein!“ „Wo willst du denn dann hin, Weib?“ Wernher war leicht ungeduldig. „Es gibt sonst nichts hier, wo du nur halbwegs sicher wärest, außer dieser Höhle und du wirst jetzt dort hineingehen und wenn ich dich hineintragen muss!“ Das wollte Lene nun überhaupt nicht, dass er sich auch noch mit ihrem Gewicht plagen müsste, wo er schon so weit gelaufen war mit ihr und morgen wieder weiterlaufen musste. Also trippelte sie gehorsam hinter ihm her, als er sie weiter voran zog, bis in die Höhle hinein. Vorsichtig sah sie sich um, die Arme ausgestreckt, um nicht in ein Spinnennetz zu laufen. Aber es war alles sauber. Sicher wurde diese Höhle öfter als Unterschlupf benutzt. Sie schüttelte sich - nur hoffentlich nicht heute Nacht und erst recht nicht von Räubern oder dergleichen Gesindel. Wernher öffnete den Rucksack und nahm die Decke heraus, die er am hinteren Rand ausbreitete. Dieser lag um eine kleine Biegung, so dass von draußen nichts zu sehen war. Sehr praktisch, dachte Lene und ließ sich sogleich darauf nieder. Wernher tat es ihr nach und stellte den Rucksack ab. Sie nahm die Flasche Wasser heraus und beide tranken nacheinander, mit durstigen Schlucken. Dann kramte sie im Rucksack herum und hielt kurz darauf die Schokolade in der Hand. „Wollen wir jeder ein Rippchen essen?“ Sie hielt Wernher eines hin. „Ja, eins für die Nacht, dass der Magen nicht so laut knurrt!“ Wernher ließ das Rippchen im Mund zergehen und Lene tat es ihm nach. Wortlos genossen sie die Süße und ließen sie noch, so lange es ging, nachwirken. Dann tranken sie noch einen Schluck Wasser und legten sich nieder. Ihre Notdurft hatten sie bereits draußen erledigt. Lene kuschelte sich wohlig brummend in Wernhers Arme und dieser meinte belustigt: „Ich glaube ich werde dich mein Kätzchen nennen, so wie du dich schnurrend in meine Arme schmiegst!“ „Von mir aus“, meinte Lene schläfrig und war auch schon eingeschlafen. „Nun denn“, meinte Wernher und suchte sich eine bequeme Lage. Lene hatte ihr Bein über seine Hüfte gelegt und er registrierte im Halbschlaf, dass es sich gar nicht schlecht anfühlte. Ein Gefühl, an das er sich glatt gewöhnen konnte. Eng umschlungen schliefen sie ein und erwachten erst, als ein Vogel genau vor der Höhle sein Morgenlied anstimmte. Schön, aber laut! Sicher eine Amsel. Die konnten sehr laut singen. Lene sah Wernhers Gesicht direkt vor sich und seine geschlossenen Augen, die entspannten Gesichtszüge. Er gefiel ihr immer besser. Sein Gesicht war ihr inzwischen fast so vertraut wie ihr eigenes. Sie folgte zärtlich mit ihrem Finger den Konturen seiner Nase, seiner Augen und der Lippen und hörte ihn müde murmeln: „Was ist, mein Kätzchen? Schlaf doch noch ein wenig, es ist noch früh und ich bin müde.“ „Ja, Wernher, ich versuche es.“ Lene legte sich bequemer hin, doch sie spürte, dass sie nicht mehr würde schlafen können. Egal, dann würde sie eben ruhig liegen bleiben. Das war so eine Sache bei ihr. Wenn sie ruhig liegen bleiben wollte, strengte sie sich so an, ruhig zu liegen, dass alles an ihr angespannt war. „Was ist los Weib?“, brummte Wernher schläfrig. „Du bist so steif wie ein Stecken, wie soll ich da schlafen? Oder soll ich etwa nicht schlafen und du möchtest etwas anderes?“ Prüfend fuhr seine Hand über ihre Brust und zwischen ihre Schenkel. „Ah, mein Täubchen, das ist noch besser als schlafen“ und schon konnten die beiden wieder die Hände nicht voneinander lassen, genossen die gegenseitige Nähe und liebten sich mit vollem Herzen. Danach sah Lene ihn liebevoll an. „Dass ich dich gefunden habe! Dafür musste ich durch Raum und Zeit reisen, ich habe keine Mühen gescheut - aber ich habe dich gefunden!“ Wernher grinste selbstgefällig. „Ja so etwas wie mich findest du nicht an jeder Ecke und erst recht nicht bei euch in der Zukunft.“ Lachend kuschelten sie sich wieder aneinander und kitzelten sich gegenseitig, bis sie es nicht mehr aushielten. „Jetzt habe ich einen Bärenhunger“, rief Lene erstaunt. „Ach, du auch?“ Wernher strich über seinen knurrenden Bauch. „Ich könnte einen ganzen Ochsen vertilgen!“ „Der arme Ochse. Ich habe noch einen Apfel gefunden. Tut er es auch?“ Lene zog den Apfel aus dem Rucksack und sie aßen ihn brüderlich teilend bis zum Stiel auf. So schön saftig und süß, er machte Lust auf mehr. „Gibt es hier irgendwo Apfelbäume?“ Lene sah Wernher hungrig an. „Es gibt schon welche, aber stehlen ist streng verboten und außerdem sind sie noch nicht reif. Es ist noch zu früh. Und meine Hand möchte ich eigentlich auch nicht so gern hergeben. Auf Stehlen steht Hand abhacken oder Kopf, wenn sie schlecht gelaunt sind.“ „Was?“ entsetzte Lene sich. „Dann will ich lieber keine Äpfel!“