Читайте только на ЛитРес

Книгу нельзя скачать файлом, но можно читать в нашем приложении или онлайн на сайте.

Читать книгу: «Ferdinand Lassalle», страница 14

Bernstein Eduard
Шрифт:

Schlußbetrachtung

So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles, seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so, vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt, war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben.

Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt.

Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte, ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel, geben?”

Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen, bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”, selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts geändert haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „… Ich muß noch vorher in Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel” von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck kommen. Sie lautet:

„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben.

Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel sähe, sie zu erobern – ein solches Mittel, das sich für mich schickt; denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!)

Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon!

Ach könnte ich mich zurückziehen!” —

In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die jene resignierten Sätze diktierten.

Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am 3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorläufigen Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph. Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung für „Mr. Ferdinand Lassalle professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk von der Hand des alten Freiheitsveteranen:

„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhängnisvollen Jahre 1864 hier mitteilte, er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische Bewegung in etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht hinreichend fühle, namentlich werde er die bevorstehenden Gefängnisstrafen nicht überdauern können. Hierauf gab ich ihm den Rat, sich unter bewandten Umständen irgendwo einen festen Wohnsitz zu gründen, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das Bürgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden hätte. In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige Reisen machen. Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11. August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.”

Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate.

Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den Arbeiterstand zum Siege führen”.

Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen, sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei, wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht darüber im „Nordstern” erschien.

In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten – so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte, er stets das Ich hatte vorangehen lassen.

Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus.

Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind, gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen, aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte, während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung, die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit.

Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, – ein verständiger Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben.

Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug, zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden, einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie getan.

Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb.

Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten, ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der Arbeiterbewegung.

Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung darunter litt, und darum sei es hier erwähnt.

Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht, und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich gefördert haben.

Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße, als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein.

Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft.

Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat, – so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen. Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen organischen Weg gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden Massenkampf vorzuziehen ist, – bleibt das große, das unvergängliche Verdienst Ferdinand Lassalles.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2017
Объем:
271 стр. 2 иллюстрации
Правообладатель:
Public Domain

С этой книгой читают