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III.

Ginstermann verlebte die folgenden Wochen in gewohnter Zurückgezogenheit.

Wie früher ließ er sich des Mittags seine Mahlzeit auf das Zimmer bringen, um nicht genötigt zu sein, in einem lärmenden Lokal zu speisen und mit gleichgiltigen Leuten ein Gespräch führen zu müssen. Nur des Abends, wenn die Dämmerung herabsank, und es dunkler war, als wenn alle Lampen in den Straßen brannten, verließ er zuweilen das Haus, um einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Diese Spaziergänge benutzte er dazu, sich in Gedanken auf die Arbeit des Abends vorzubereiten.

Die Ereignisse jenes Abends hatten ihm zu denken gegeben.

Zu nüchterner Vernunft zurückgekehrt, hatte er mit Erstaunen wahrgenommen, mit welcher Schnelligkeit er die Herrschaft über seine Seele verloren. Wenn er sich daran erinnerte, wie er hinter der Pappel stand und auf das schlanke Mädchen am Fenster blickte, so sah er gleichsam einen Fremden vor sich, dessen Gebaren er kopfschüttelnd und mitleidig lächelnd beobachtete.

Er erklärte sich diese Erregung als eine Reaktion seines Gehirns, das sich seit Jahren in rastloser Tätigkeit befand, immer auf der Flucht vor alten und der Jagd nach neuen Gedanken, sich kaum die notdürftigste Ruhe und Zerstreuung gönnend.

Jenes unscheinbare Erlebnis war für ihn das gewesen, was für den Nüchternen ein Schluck Wein ist, es hatte ihn berauscht. —

Ginstermann hatte früher ein Leben ohne Maß und Ziel gelebt, teils von seinen lebendigen Sinnen getrieben, teils von dem Wunsche, den Hunger seiner Seele an möglichst vielen Eindrücken zu stillen. Erst seine reisende Erkenntnis gebot ihm eine Regulierung seiner Lebensweise, wenn er seine Seele nicht durch Erinnerungen überlasten wollte.

Sie riet ihm zur Vorsicht angesichts der Empfindsamkeit seiner Seele, die eine Leidenschaft in jungen Jahren noch gesteigert hatte.

Jahre der Einsamkeit und Verinnerlichung ließen Erkenntnisse in ihm reifen, die ihm Welt und Menschen in neuem Lichte zeigten.

Er erkannte, daß das, was man im allgemeinen Leben nannte, ärmlich und nüchtern war gegen ein Leben in der Phantasie, gegen die Beschäftigung mit den ewigen Ideen, die geheimnisvoll die Jahrtausende regieren, das Tun der Menschen bestimmen.

Nach und nach war er zur gänzlichen Unfähigkeit gelangt, mit den Menschen zu verkehren.

Er verachtete, er bemitleidete sie.

Sie waren ihm zu wenig Luxuswesen, zu wenig Dichter, ohne freie Gefühle, ohne den Wunsch nach Flügeln. Ihre Ziele waren klein und kläglich und reichten nicht über den Tag hinaus. Die gesicherte Existenz im Himmel hatte sie vergessen lassen, daß der Mensch auch auf der Erde etwas zu vollbringen hatte.

Seine Geschlechtsgenossen waren ihm nicht sympathisch. Ihre rohen Sinne, ihre Lüsternheit, ihre vergiftete Phantasie stießen ihn ab. Die Widerstandslosigkeit, mit der sie sich den von der Masse diktierten Gesetzen und ihren Trieben unterwarfen, machte sie ihm erbärmlich.

Das Weib schien ihm erst auf einer Durchgangsstufe zum Menschen angelangt zu sein. Das Unklare, Vorurteilsvolle, das Spekulierende, das wenig Schöpferische, seine Freude an glitzernden Dingen ließen es ihm als ein Wesen erscheinen, das um tausend Jahre hinter dem Manne zurück war und sich nicht Mühe gab, diesen Vorsprung einzuholen. Es lebte von den Erkenntnissen des Mannes, ohne dies einzugestehen und ihm Dank zu wissen, es lebte von seiner Seele, ohne ihm etwas dagegen zu geben.

Auf die Suche zu gehen nach einem Gefährten, einer Gefährtin, hatte er schon lange aufgegeben, da ihn die Erfahrung lehrte, daß in jedem neuen Menschen wieder der alte steckte, dem er mißmutig und gelangweilt den Rücken gedreht hatte.

Nicht als ob er in Zeiten geistiger Ebbe nicht unter seiner Vereinsamung gelitten hätte. Es geschah manchmal, daß er des Nachts mit fiebernden Augen in die wogenden Visionen seiner Phantasie starrte, und gleichzeitig sein Herz in ihm vor Hunger und Sehnsucht pochte.

Er war entstanden aus Mann und Weib und deshalb zerklüftet. Er hatte das empfindsame, lebensfrohe Gemüt seiner Mutter geerbt und den hochmütigen Verstand seines Vaters. Diese beiden, Gemüt und Verstand, lebten in ungleicher Ehe. Er pflegte über seine weichen Empfindungen spöttisch zu lächeln. Er stand skeptisch jeder Erscheinung gegenüber und entkleidete sie des Tandes, mit dem gutmütige Dummköpfe sie geschmückt. Im Grunde seiner Natur aber lebte das Bestreben, alle Dinge wiederum zu verklären und mit einem Schmucke zu versehen, wie ihn seine Seele liebte.

In den folgenden einsamen Abenden, die ihm eine ruhige Sammlung seiner Gedanken erlaubten, gelang es ihm, die Fremdkörper wiederum auszuscheiden, die seiner Seele gefährlich zu werden gedroht hatten.

Er machte Nachträge in sein Tagebuch, revidierte seine Aufzeichnungen, blätterte in alten Manuskripten, ließ wieder und wieder die ewigen Fragen Revue passieren, nach neuen Gesichtspunkten, neuen Perspektiven suchend.

Indem er die Entwicklung seines inneren Menschen überblickte, erkannte er mit Deutlichkeit, daß sein Weg in die Höhe führte. Abgründe lagen zwischen ihm und der Welt. Und alle Brücken waren gefallen. Er hatte ihre Irrtümer und Götzen überwunden.

Mit Genugtuung bemerkte er, daß er gewachsen war, seit er sich das letzte Mal sah, daß seine Seele fortfuhr, ihr Licht in die Finsternis zu schleudern.

Und mit dieser Erkenntnis kam frischer Mut über ihn und neuer Stolz. Ein ungestümer Schaffensdrang erfüllte sein Wesen. Fiebernd vor Schaffensfreude und Finderglück verbrachte er seine Tage und Nächte.

Draußen schneite und stürmte es. Es war ihm gleichgültig, ob das Jahr vorwärts oder rückwärts ging.

Der Vorfall von neulich entwich in weite Fernen und verlor an Leben und Bedeutung. Das schlanke Mädchen tauchte nur dazwischen in seinen Gedanken auf und versuchte ihn mit großen, schimmernden Augen zu bannen. Aber sie brachten ihm keine Gefahr mehr. Blick und Farbe erloschen, sobald er es wollte.

Und nur, wenn sein Gehirn müde war von langer Arbeit, stieg der Wunsch in ihm auf, das Mädchen wiederzusehen, sich zu erfreuen am Klange dieser Stimme, der Klarheit dieser Augen. Aber des Morgens erwachte er stets heiter, sorglos und ohne Wünsche.

Der Wert jenes Weibes verringerte sich keineswegs in seiner Vorstellung. Er war überzeugt, daß sie einen reiferen, höheren Typus repräsentierte, als ihre Schwestern, die er kannte.

„In seinem Herzen jedoch wohnte die Sehnsucht nach einem Weibe hinter den Sternen. Singe hieß sie, das ist: ich bin nicht.“

Seine Gefühle gehörten den Gestalten, die er schuf, seine Gedanken gehörten ihnen.

Seine Seele gehörte seiner Arbeit, seinem Ziele.

IV.

Es war nun wirklich Frühling geworden.

Finsternis und Rauch des Winters waren verschwunden, und die Kälte vorüber, die einem wie eine Katze ins Genick sprang, wenn man das Haus verließ.

Über den Häusern wölbte sich ein wolkenloser Himmel gleich einer ungeheuren Flagge von blaßblauer Seide. Weiche, laue Luft hauchte durch die Straßen. Die Stadt erschien wie aus einem klaren, duftenden Bade gestiegen.

Die Trottoire waren reingefegt von Sand und Schlacke, erfüllt von Spaziergängern. Jeder, dem es möglich war, ging zu Fuß, um die herrliche Luft und die wärmende Sonne zu genießen. Man trug Kleider von hellerer Farbe, und aus den Herzen der Menschen war der Mißmut entwichen, den der zu Ende gehende Winter erzeugt. Aus ihren Augen spiegelte der junge blaue Himmel. Wagen, besetzt mit Frauen und Kindern in schmucken Frühlingsgewändern, flogen an den Spaziergängern vorüber, und aus den Gesichtern der Insassen strahlte die Freude, bald den Wald und die Wiesen zu sehen.

Ginstermann hatte den Entwurf seines Dramas beendigt und benutzte das verlockende Wetter, um sich zu erholen, neue Kraft und neuen Blick für die Ausarbeitung zu gewinnen. Er wanderte stundenlang in den Straßen umher, mit wachen Augen und Ohren für alles, was um ihn vorging.

Er trug einen hellen Sommeranzug, der ihn ganz veränderte. Mit seinen schwarzen Augen und Haaren, dem elfenbeingelben Teint seines schmalen Gesichtes erschien er wie ein Südländer. Die ewige Zigarette im Munde, schlenderte er einher, wie einer, der den ganzen Tag nichts zu tun hat, als spazieren zu gehen und Zigaretten zu rauchen.

Auf einer dieser Promenaden — es war gegen Abend — sah er sie. Fräulein Bianka Schuhmacher.

Und ein eigentümliches Erschrecken durchlief ihn, als er sie gewahrte.

Eine schlanke Dame ging mit einem Herrn über den Odeonsplatz. Gestalt und Gang dieser Dame riefen augenblicklich das Bild von Fräulein Schuhmacher in ihm wach.

Voller Spannung sah er sie näherkommen.

Sie trug ein graues Jackett, das ihr bis an die Knie reichte, einen kleinen schwarzen Hut mit silbergrauem Schleier herum.

Sie bemerkte ihn nicht, sie plauderte eifrig und vergnügt mit ihrem Begleiter. Dieser war schlank, schmalbrüstig, größer noch als sie, mit hübschem, für einen Mann zu hübschem Gesicht, dessen Teint an den eines Kindes erinnerte. Er trug einen dünnen blonden Schnurrbart, und über seine Wange lief ein haarfeiner Schmiß.

Kleidung und Bewegungen verrieten den Mann der feinen Gesellschaft, dem der Sinn für das Korrekte, Tadellose angeboren ist.

Sie gingen nun gegenüber von ihm, eine Straßenbreite entfernt.

Der blonde hübsche Herr schüttelte leicht den Kopf voller Vergnügen über eine Bemerkung seiner Dame.

Er hörte das Mädchen sprechen und den Herrn antworten. Er verstand nichts, nur, daß er „Du“ zu ihr sagte.

Da hielt sie plötzlich im Plaudern inne, und ihr Blick traf unvermittelt den seinigen. Groß, ruhig, mit einem verborgenen Lächeln in den Augen sah sie ihn an.

Er zog den Hut.

Sie dankte, aber mehr mit den Augen als dem Neigen des Kopfes, das kaum wahrnehmbar war.

Der blonde hübsche Herr grüßte hastig und tief, ja mit einem gewissen Respekte, wie um durch die Achtung, die er einem Bekannten seiner Begleiterin zeigte, ihr seine eigene Ehrerbietung auszudrücken.

Ginstermann überschritt unwillkürlich die Straße, um den beiden unauffällig nachsehen zu können.

Sie waren bei einer Kunsthandlung stehen geblieben, und er bemerkte, wie Fräulein Schuhmacher den Kopf nach ihm wandte, während sie plauderte. Er blickte aber im selben Moment weg und tat, als habe er es nicht bemerkt.

Das Merkwürdige war, daß ihre Blicke ihn nicht auf der anderen Seite der Straße gesucht hatten.

Eine Weile kämpfte er mit der Versuchung, den beiden zu folgen und ihnen nach geraumer Zeit wie zufällig wieder zu begegnen. Allein es kam ihm schülerhaft, seiner unwürdig vor, und er setzte seinen Weg fort. Er blickte sich auch nicht mehr um, obschon es ihm eine förmliche Anstrengung kostete, seinen Kopf gerade zu halten, den eine unsichtbare Hand zu drehen versuchte.

Aber seine Gedanken, die eben noch wie wohlerzogene Kinder gefolgt hatten, vermochte er nicht mehr zu lenken.

Sie gingen mit den beiden durch die Straßen, blieben mit ihnen bei den Auslagefenstern der Magazine stehen, lauschten auf ihre Gespräche und das vertrauliche „Du“ des hübschen Herrn.

Zu Hause angelangt, versenkte er sich in sein Manuskript, überzeugt, daß er sich dadurch zur Ordnung zwinge. Er sah sich getäuscht.

Seine Gedanken fuhren fort, neben den beiden einherzugehen, sie traten mit ihnen in die Geschäfte, beteiligten sich an der Auswahl des Gegenstandes und schlüpften zwischen ihnen und der Verbeugung des Kommis zur Türe hinaus. Sie stiegen mit ihnen in eine Droschke, sahen zu, wie sie an einem tadellos gedeckten Tisch, an dem noch einige andere Leute saßen, dinierten. Sie hörten sie plaudern, mit den Bestecken klappern, beobachteten, wie die Tafel aufgehoben wurde, und man sich zur Ruhe in Sessel niederließ. Das alles, während er Worte vor sich las, die nur zögernd blasse und unzusammenhängende Eindrücke erweckten.

Ärgerlich über sich sprang er endlich auf und nahm den Hut. Aber mitten auf der Treppe wandte er wieder um und kehrte in sein Zimmer zurück.

Er lächelte über sein Betragen.

Weshalb sollte er eigentlich fortlaufen, fragte er sich.

Was kümmerte ihn dieses Mädchen? Was kümmerte ihn ihr Verlobter?

Daß jener hübsche blonde Herr mit seinem rosigen Teint der Verlobte von Fräulein Schuhmacher war, erschien ihm außer Zweifel. Die respektvolle Vertraulichkeit, mit der er mit ihr plauderte und lachte, die ihr geltende Achtung, mit der er vor ihm den Hut gezogen, bewiesen ihm das zur Genüge.

Aber was kümmerte ihn das?

Sollte ihm das Mädchen deshalb begehrenswerter erscheinen, weil ein anderer seine Seele besaß?

Zudem hatte sie ihn ja kaum gegrüßt, als scheue sie sich, ihrem Verlobten merken zu lassen, daß dieser Mensch in seinem lächerlichen Sommeranzug sie kenne.

Unerklärt blieb allerdings, weshalb sie sich nach ihm umgewendet hatte.

Aber das war nicht von weiterer Bedeutung.

Vielleicht in Gedanken, vielleicht um zu sehen, ob er ihr und ihrem hübschen Kavalier nachgaffe. Vielleicht hatte sie zu ihm gesagt: Du guck, das ist der, der das Gedicht „Martyrium“ geschrieben hat.

Und der Blonde hatte geantwortet: Der mit den niedergetretenen Absätzen?

Und sie hatten gelacht.

Hatte er nicht deutlich ein Lächeln in ihren Zügen aufsteigen sehen, das sie Mühe hatte, so lange zu unterdrücken, als er herblickte?

Auf- und abgehend, erfand er einen Dialog, in dem die beiden über ihn witzelten. Dadurch geriet er allmählich in eine heitere Stimmung, die ihm über den Vorfall hinweghalf.

Er setzte sich an seine Arbeit, und nun hatten die Repliken plötzlich Klang und Sinn. Er arbeitete bis spät in die Nacht hinein und legte sich zufrieden mit sich nieder, noch während des Einschlafens mit dem Schicksale seiner Gestalten beschäftigt. —

Am anderen Morgen fand er ein Billett im Briefkasten. Es hatte folgenden Inhalt: Weshalb sah man Sie denn solange nicht mehr? Ich vermutete, Sie seien erkrankt. Gruß, auf Wiedersehen, Bianka Schuhmacher.

V.

Die Leopoldstraße ist eine schöne Straße.

Jeder, der sie kennt, wird das zugeben müssen.

Zu beiden Seiten stehen Paläste und Villen in endloser Reihe, von Gärten umgeben, die ein geschulter Gärtner pflegt. Die Portale sind massiv, von kunstvoller Schmiedearbeit, vergoldet, jedes in seiner Art ein vollendetes Werk. Die Fassaden verraten das verfeinerte Auge des Architekten in Proportionen und Schmuck.

Das sind nicht Häuser, in denen die Menschen schlafen, kochen und sich vor Kälte und Nässe schützen, das sind Heime, in denen die Menschen leben.

Hier gibt es kostbare Gardinen mit verschwenderischen Falten, hier blickt das Auge in stilvoll eingerichtete Zimmer mit schimmernden Rahmen an den Wänden.

Feine Leute erscheinen an den Fenstern, feine Leute kommen die Stufen herab. Die Herren in Uniform, mit Seidenhüten, die Damen in süßfarbenen Toiletten mit geschmeidigen, wohltuenden Bewegungen, den Abglanz der Sorglosigkeit auf dem gepflegten Antlitze.

Die Pappeln stehen in geordneten Reihen, ehrwürdig, ein hundertjähriges Geschlecht, bilden sie Spalier, gleichsam um die Fußgänger vor den vorbeirollenden Wagen zu schützen und vor dem Anblick der rohen, schwitzenden Arbeit zu bewahren. Es ist, als ob die freie Natur, der Wald, das Feld hereingepilgert kämen. Sie sind der Anfang eines Weges, der auf die Wiesen führt, und man fühlt sich gleichsam entfernter von der fauchenden, surrenden, stauberfüllten Stadt.

Im beginnenden Frühjahr bot die Straße ein berückendes Bild. Die Bäume, die Sträucher schlangen ihre frischgrünen Zweige in zierlichen Tanzgesten um die harten Ecken der Häuser, so daß Paläste und Villen den Eindruck erweckten, als hätten die Maler sie ersonnen, nicht die Architekten gebaut. Die Pappeln begannen zu knospen, und ab und zu schlüpfte ein kleiner Vogel aus ihrem Geäste.

Ginstermann hatte an all dem Gefallen.

Schon früher war er gerne diese vornehme Straße hinabgegangen, in der letzten Zeit kam er öfter heraus. Wenn er gerade Zeit hatte. Des Mittags, um sich in der Sonne zu wärmen, des Abends, um die süße Luft zu schlürfen, die schon gewürzt war von dem Duft der Blumen und Sträucher, die noch gar nicht blühten. Und hier außen war die Luft auch klarer als in den Straßen der Stadt, die nach dem Dunste und Schweiße des Tages rochen.

Auch war es angenehm, hier zu gehen, wo man nicht von Vorbeieilenden angerannt wurde, wo nicht das ununterbrochene Rufen, Pfeifen und Klingeln jede Melodie ertötete, die leise aus dem Innersten des Empfindens sang.

Er wollte sich etwas erholen, sein Blut von den schädlichen Stoffen reinigen, die der dumpfe Winter und das ewige Zimmersitzen in ihm erzeugten. Deshalb gönnte er sich diese Spaziergänge. Zudem arbeitete er, während er ging. Er trug stets ein Notizbuch bei sich, in das er alles, was ihm bemerkenswert schien, verzeichnete. Und vielleicht würde er auch Fräulein Bianka Schuhmacher treffen. Ein Paar Worte mit ihr wechseln können, oder sie würde am Fenster stehen, und er konnte zu ihr hinaufgrüßen.

Jedesmal, wenn er sich ihrem Hause näherte, überschritt er die Straße und setzte auf der anderen Seite ebenso gemächlich seine Wanderung fort, als sei er ganz zufällig über die Straße gegangen, und stände dort drüben nicht eine Villa, deren Fenster man von hier aus unauffällig überfliegen konnte.

Dabei erfüllte ihn stets eine prickelnde Angst, der gefürchtete und ersehnte Moment könne eintreten. So sehr er sich freute, sie zu sehen, so unangenehm wäre es ihm auf der anderen Seite gewesen, von ihr gesehen zu werden.

Hie und da unternahm er auch noch des nachts einen Spaziergang hier heraus, um nachzusehen, ob das Eckzimmer beleuchtet war. Brannte Licht, so war er befriedigt. Er wußte, sie ist da droben, liest, schreibt oder träumt, verspotteten ihn aber die weißen Gardinen der dunklen Fenster, so wurde er unruhig und machte sich alle möglichen Gedanken.

Dazwischen wiederum vergingen Tage, ohne daß er sein Zimmer verließ. Hartnäckig blieb er zu Hause. Sein Betragen erschien ihm albern und kindisch. Sein Stolz erwachte. Sein wahnwitziger Stolz, der es für entwürdigend hielt, sich mit einer anderen Person zu beschäftigen als der eigenen.

Dieser Stolz rief ihm zu: Bist du es, Ginstermann? Bist du des Alleinseins schon müde?

Dann vergrub er sich wieder in seine Arbeit, grübelte er über seinen Problemen und wandelte er auf der freien, selbstherrlichen Höhe seiner Vernunft.

Aber da war eine Sehnsucht in ihm, die zuerst leise nagte, pickte, dann pochte, brauste, um endlich wie ein Sturm durch ihn zu fahren, der ihn vor sich hertrieb.

Er erschien wieder in der Nähe der Villa, morgens, mittags, nachts.

Er schrieb in Gedanken tausend Billette, um sich ihr zu nähern.

In trockenem, sachlichen Tone dankte er ihr darin für ihren Gruß und grüßte er sie wieder.

Hätte er nicht das Recht dazu? Hatte sie ihm nicht ebenfalls geschrieben?

Aber er zerriß sie auch alle wieder in Gedanken und warf die Schnitzel sorgfältig in den Ofen. Er, jener Ginstermann, der die dünkelhafte Flachheit des Weibes, sein halbtierisches Wesen in Aphorismen und Zynismen gegeißelt hatte, die die Runde in der Bohême machten, sollte ein Billet an eine junge Dame schreiben? Und wenn auch diese junge Dame zehnmal besser war als ihre Schwestern, lauerte nicht das Weib in ihr?

Was trieb ihn zu ihr? Weshalb hatte sie ihm geschrieben? Wer war sie?

Es waren stets die gleichen Gedanken, die in seinen Reflexionen wiederkehrten wie die Figuren eines mechanischen Theaters.

Seine Überzeugung ging dahin, daß es das beste sei, sich von diesen Ideen zu befreien, wenn er sich Klarheit über das Mädchen verschaffte. Würde er sie einigemal gesprochen haben, so konnte er sich ein sicheres Urteil bilden und demgemäß handeln.

Aber er vermochte sie nirgends zu finden. Vermutlich saß sie in einer Laube des Gartens, der über die Villa blickte, mit Büchern und Zeitschriften ihre Tage verbringend.

Zu Kapelli kam sie schon lange nicht mehr, die Büste war längst fertig. Ein paarmal hatte sie die Bildhauersleute besucht, aber stets zu einer Zeit, wo er abwesend war.

Endlich löste sich das Rätsel.

Er hatte eine halbe Nacht im Café zugebracht, um mittels Lektüre diese wie Schildwachen in seinem Kopfe hin- und hergehenden Gedanken zu verscheuchen, und wollte vor dem Nachhausegehen sich — wie er es nannte — nach ihrem Befinden erkundigen.

Da bemerkte er noch Licht in ihrem Zimmer. Aber es war kein Licht, bei dem man liest oder schreibt, es war gedämpftes, sorgfältig gedämpftes Licht, wie es in Krankenzimmern brennt.

Er erschrak bei dieser Wahrnehmung, als sei etwas Übernatürliches geschehen.

Nun wußte er es: sie war krank.

Der Schmerz übermannte ihn augenblicklich. Er nahm den Hut ab, stand starr wie eine Säule und flüsterte: Sie ist krank.

Er trottete nach Hause, immer wieder stehen bleibend und wiederholend: Sie ist krank.

In seinem kahlen, trostlos toten Zimmer angekommen, nahm er einen Blaustift und schrieb mit großen, stumm-wehklagenden Lettern an die Wand: Sie ist krank.

Er blies das Licht aus. Ach, wozu brauchte er Licht.

Er schritt in seinem Zimmer auf und ab, immerzu.

Seine Schritte sagten: Sie ist krank. Seine Uhr sagte: Sie ist krank. Krank, krank, knarrte eine lockere Diele.

Draußen sang der Südwind. Der Tag graute. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Zwei Herren kommen die Granittreppe herab, gehen durch den Vorgarten hindurch.

Der eine ist alt, lächelt das Lächeln des Stoikers in seinen weißen Bart, der andere ist jung, hübsch und schmalbrüstig. Er hat die rosigen Wangen eines Kindes.

Ginstermann steht hinter einer Litfaßsäule und beobachtet sie. Er will aus ihren Mienen lesen, was in den Gehirnen dieser beiden vorgeht. Aber das Gesicht des Alten ist verschlossen und verbirgt alles hinter diesem stoischen Lächeln, das Gesicht des Jungen ist zu hübsch, um Gedanken verraten zu können.

Sie gehen an ihm vorüber. Der Alte sagt, mit dem Kopfe nickend, als sei er mit einer Stahlfeder am Rückgrat befestigt: Jawohl, jawohl, jawohl. Sein Handschuh entfällt ihm. Der Junge bückt sich rasch und gelenkig und hebt ihn auf.

Danke, sagt der Alte, — jawohl.

Sonst vernimmt er nichts.

Er folgt den beiden. Im Abstand von zwanzig Schritten. Aber ihre Gestikulationen sind korrekt und beherrscht, auch sie verraten nichts.

Hinter dem Siegestor ist der Junge plötzlich verschwunden, spurlos, als sei er in die Luft zerstoben. Der Alte aber geht langsam mit steifen Schrittchen die Straße hinauf. Er tritt in ein Haus, verläßt es nach einer Viertelstunde wieder. Er biegt in eine Seitenstraße, tritt abermals in ein Haus, verläßt es nach einer Viertelstunde wieder. Das wiederholt sich einigemal.

Endlich verschwindet er hinter einem Portale. Er kehrt nicht zurück. Ein großes Emailschild ist an dem Portale angebracht, darauf steht: Wirkl. Geheimrat Prof. Dr. von Gagstetter.

Ginstermann begibt sich in das nächstbeste Zigarrengeschäft.

„Pardon,“ sagt er, „ich will nichts kaufen, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit ersuchen. Das Adreßbuch, bitte sehr. Es ist da etwas vorgekommen, man braucht einen Arzt, einen Spezialisten.“

Eine Dame überreichte ihm das Buch. „Bitte schön,“ sagt sie höflich, ihn mit dem Interesse der Teilnahme betrachtend.

G, g — g — a b c d — g

Gagstetter — Spezialist für Krankheiten der Atmungsorgane.

„Danke, vielen Dank!“

„Bitte schön.“

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