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»Tag, Herr Volk. Der Arzt ist noch da, er wird wohl gleich fertig sein. Die Tote heißt Marianne Schmidt, 62 Jahre alt, wohnte allein, keiner im Haus kannte sie, außer einer Nachbarin hier nebenan auf dem Flur. Der Briefkasten von Frau Schmidt ist leer, ihr Papierkorb ebenso. Sie hat keine weiteren Verwandten.«

»Wie lange sind Sie schon vor Ort?«

»Etwa ’ne halbe Stunde.«

»Und in dieser Zeit haben Sie das alles herausbekommen?«

»Äh, ja.«

»Gut, Pascal, das haben Sie gut gemacht!«

Sein Mitarbeiter grinste.

Der Kriminalhauptkommissar nickte dem Arzt zu und blieb vor der Leiche stehen. Der Anblick von Toten bereitete ihm nach all den Jahren keine Schwierigkeiten mehr. Frau Schmidt lag rücklings auf dem Wohnzimmerteppich und sah hinauf zur Zimmerdecke. Sie hatte einen entspannten, fast zufriedenen Gesichtsausdruck. Für Richard Volk war das gleichbedeutend mit einem schnellen Tod, bei dem sie nicht gelitten hatte. In der Hand hielt sie eine Zahnbürste. Er wusste, dass viele ältere Menschen durch Blutgerinnsel starben, die sich durch die Erschütterungen des Körpers beim Rasenmähen, beim Bohren oder eben beim Zähneputzen lösten und zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führten.

»Todeszeitpunkt?«, fragte er den Arzt, der bereits dabei war, seine Sachen einzupacken.

»Noch nicht lange her. 12 Uhr plus/minus eine Stunde.«

Volk sah auf. »Sicher?«

»Sicher!«

»Sind Sie Gerichtsmediziner?«

»Nein, aber Pathologe.«

Richard nickte ihm zu. Ein Zeitfenster von 11 bis 13 Uhr passte nicht zu der Zahnbürste. Ein Todeszeitpunkt in den Morgenstunden wäre logischer gewesen. Es sei denn, Frau Schmidt hatte sich auch nach dem Mittagessen die Zähne geputzt – möglich, aber unwahrscheinlich.

»Keinerlei Anzeichen für einen gewaltsamen Tod«, sagte der Arzt.

»Okay, danke!«

Wieder eine Frau in den 60ern. Wieder zu früh verstorben.

Pascal Simon riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Flurnachbarin hat ausgesagt, dass sie gegen 12.30 Uhr eine Wohnungstür gehört hat, sehr wahrscheinlich die von Frau Schmidt.«

»Sehr wahrscheinlich? Was heißt das?«

»Sie war sich ziemlich sicher. Die beiden kennen sich und ihre Wohnungstüren.«

»Gut, Sie warten auf die Kollegen von der Kriminaltechnik, die sollen nach Fingerspuren auf der Zahnbürste suchen!«

»Auf der Zahnbürste?«

»Ja, wir müssen davon ausgehen, dass …« Sein Mobiltelefon klingelte. Er nahm ab.

»Hier ist Dr. Bergen, Uni Gießen, Rechtsmedizin.«

»Ach, gut, einen Moment bitte …«

Volk gab Simon ein Zeichen, verließ die Wohnung und ging ins Treppenhaus. Das Gespräch dauerte nicht lange. Dr. Bergen war sehr hilfsbereit. Auch die Nachricht, dass es sich inzwischen um die Obduktion von zwei Frauenleichen handelte, schockierte ihn nicht. Richard Volk konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass zwischen Almuth Feller und Dr. Bergen eine besonders gute Beziehung bestand. Er lächelte. Dann rief er Pascal Simon zu, dass er dringend zum Oberstaatsanwalt müsse, und verabschiedete sich.

*

Sebastian Bergen

Gießen, Samstag, den 11. Oktober, morgens

Dr. Sebastian Bergen war ein Mann, den man im modernen Sprachgebrauch durchaus als smarten Typ bezeichnen konnte: 38 Jahre alt, 1,90 Meter groß, dunkles, wild fallendes Haar, kein übermäßig präsenter Vollbart, sportliche Erscheinung. So weit alles in Ordnung. Aber wenn er einer Frau erklärte, dass er in der Rechtsmedizin arbeitete, und die Frage, ob er »Leichen aufschnitt«, bejahte, dann war es meistens vorbei mit dem Interesse. Einmal hatte er sich selbst als »Aufschneider« bezeichnet, in der Meinung, das sei lustig. Die entsprechende Dame hatte jedoch nicht gelacht, sondern sich verabschiedet.

Bei Almuth Feller war das anders gewesen. Sie war einige Jahre älter als er, erfahren und abgeklärt. Ihr auffallend schönes, gewinnendes Lächeln faszinierte ihn. Und als Krönung dieses Lächelns präsentierte sie ihre makellos geformten weißen Zähne. Zudem hatte sie selbst in der Rechtsmedizin gearbeitet, zwar im Verwaltungsbereich, dennoch waren alle Vorgänge im Institut für sie alltäglich gewesen, und sie hatte sich nicht gescheut, ihn ab und zu im Sektionssaal zu besuchen. Leider hatte sie vor einem halben Jahr Gießen verlassen, um ihre kranken Eltern in Kelsterbach zu pflegen. An der Universität Frankfurt hatte sie eine Halbtagsstelle gefunden. Obwohl die Entfernung nicht allzu groß war, hatte sich ihre Beziehung seitdem abgekühlt, sie sahen sich nur noch selten.

Für Dr. Sebastian Bergen bestand kein Zweifel, dass er Almuth den Gefallen tun würde, die beiden toten Frauen zu obduzieren. Voraussetzung war, dass er dies am Wochenende erledigte, wenn der Sektionssaal nicht belegt war. Nachdem Dr. Bergen die Freigabe seines Institutschefs erhalten hatte, teilte er die Entscheidung dem ermittelnden Beamten, Kriminalhauptkommissar Richard Volk, mit. Volk wiederum hatte den Frankfurter Oberstaatsanwalt von einer Obduktion überzeugt, ohne Bergen mitzuteilen, wie ihm das gelungen war. Der Oberstaatsanwalt hatte sich daraufhin mit der Offenbacher Staatsanwaltschaft verständigt, auch die Leiche von Elisabeth Müller zur Obduktion freizugeben. Danach hatte der Hauptkommissar eine ausführliche E-Mail an Dr. Bergen geschrieben. Darin enthalten waren die Informationen zum aktuellen Ermittlungsstand der Kriminalpolizei, insbesondere zur jeweiligen Auffindesituation der Toten. Angehängt waren die Totenscheine des Frankfurter Pathologen und des Offenbacher Allgemeinmediziners sowie die Ergebnisse der Blutuntersuchungen.

Es war 7 Uhr am Samstagmorgen, als Dr. Bergen mit der Obduktion von Marianne Schmidt begann. Er hatte sich einen jungen, wissbegierigen Kollegen dazugeholt, denn eine Obduktion musste – sollte sie als gerichtsverwertbar gelten – von zwei Rechtsmedizinern durchgeführt werden. Zunächst untersuchte Bergen die Hautoberfläche des Leichnams ausführlich Zentimeter für Zentimeter. Sein Tablet lag neben ihm, er diktierte alle Befunde direkt in das Spracherkennungsprogramm. So weit keine Unregelmäßigkeiten, keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod. Dann öffnete er den Mundraum des Leichnams. Dort steckte etwas zwischen den Zähnen: ein Fremdkörper. Dr. Bergen nahm eine Pinzette, justierte seine Arbeitslampe und griff nach dem unbekannten Gegenstand: ein dünner Holzspan, etwa drei Zentimeter lang. Er legte das Fundstück auf einen Objektträger und betrachtete es unter dem Mikroskop. Helles Holz, Buche, Eiche oder Ähnliches, keine Besonderheiten. Doch was machte ein Stück Holz im Mundraum der Frau?

Nach einer kurzen Diskussion mit seinem Kollegen entschied er, den Leichnam ins Röntgenlabor zu fahren. Gern hätte er eine CT-Aufnahme ihres Kopfes gehabt, um sich das Innere schichtweise anzusehen. Das konnten sie jedoch nur mit einer MTA bewerkstelligen und den Wochenenddienst wollte Bergen nicht dafür beanspruchen. Als er die Röntgenaufnahme am Schaukasten befestigte, glaubte er zunächst, seinen Augen nicht zu trauen. Seinem jungen Kollegen schien es ebenso zu gehen. Vom Genick aus zog sich ein dünner Strich quer durch den Kopf bis hin zum Mund. Sie untersuchten erneut die Haut am Hinterkopf, dann wussten sie, wie Marianne Schmidt ums Leben gekommen war. Schon war Dr. Bergen versucht, zum Telefon zu greifen, doch schnell erinnerte er sich selbst daran, die Obduktion vorschriftsgemäß abzuschließen, bevor er sich ein Urteil erlaubte. Er öffnete den Körper, entnahm der Reihe nach alle inneren Organe, sein Kollege wog sie, begutachtete sie und legte sie zurück in den Leichnam. Die Ergebnisse dokumentierte Bergen über seinen Tablet-Computer. Zwei Stunden später griff er zum Telefon.

»Bergen hier, guten Morgen, Herr Volk!«

»Doktor, so früh schon? Wann haben Sie denn angefangen?«

»Um 7 Uhr, für zwei Obduktionen braucht man schon mal den ganzen Tag. Und zur Sportschau möchte ich zu Hause sein.«

»Klar«, sagte Volk. »Ich danke Ihnen. Und?«

»Den ersten Situs habe ich obduziert, Frau Marianne Schmidt. Sie wurde erschossen.«

»Waaas? Sicher?«

»Ganz sicher. Sie wurde durch einen Genickschuss getötet, schwer zu erkennen, schon gar nicht am Tatort. Der Schuss wurde im Genick angesetzt, direkt am Haaransatz, ich habe es bei der äußerlichen Inspektion selbst erst nicht bemerkt. Laut Schusskanal, den ich im Röntgenbild sehe, ist das Projektil durch den Mund wieder ausgetreten. Falls das Absicht war, muss es ein Profi gewesen sein.«

»Puh!«

»Den Durchmesser des Schusskanals konnte ich nicht exakt bestimmen, dazu bräuchte ich ein CT, wahrscheinlich Kaliber .22.«

»Aha. Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«

Sebastian Bergen schüttelte den Kopf, obwohl Volk das nicht sehen konnte. »Nein, nach fast zwei Tagen ist das nicht mehr möglich, da sollten wir den Kollegen vertrauen, die vor Ort waren. Aber ich habe den Mageninhalt untersucht, Rindfleisch, Kartoffeln und Erbsen.«

»Sie hat also zu Mittag gegessen?«

»Genau.«

»Verdammt, dann hat der Mörder ihr die Zahnbürste in die Hand gedrückt, um uns glauben zu machen, sie sei am Morgen zu Tode gekommen.«

»Sag ich ja, Profi. Und übrigens, Herr Volk, zwischen Frau Schmidts Backenzähnen linksseitig fand ich einen schmalen Holzspan, Buchenholz, etwa drei Zentimeter lang. Was das zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen.«

Stille. Bergen wartete. »Herr Volk?«

»Ja, ich bin noch da. Wissen Sie, ich habe eine … Theorie. Der Täter hat ihr vor dem Schuss ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt, um mehr Platz für den Austritt des Projektils zu haben. Damit wurde eine sofort erkennbare Austrittswunde vermieden und die Wahrscheinlichkeit, eine Fremdeinwirkung zu entdecken, stark reduziert.«

»Klingt plausibel.«

»Das heißt, wir müssen am Tatort nach dem Projektil suchen, das muss ja irgendwo eingeschlagen sein. Bisher sind wir ja von einem natürlichen Tod ausgegangen.«

»Ich sehe, nicht nur der Täter ist ein Profi, sondern auch der Ermittler!«

Richard Volks Lachen klang durch die Leitung. »Danke. Sie melden sich bitte, wenn Sie mit Elisabeth Müller so weit sind?«

»Klar. Ach, eine Frage noch: Wie haben Sie den Oberstaatsanwalt eigentlich davon überzeugt, einer Obduktion zuzustimmen?«

»Ich habe ihn gefragt, ob er bei Prostatabeschwerden zu einem Orthopäden gehen würde.«

Dr. Bergen brummte zufrieden und legte auf.

*

Wilhelmine Becker

Frankfurt a. M., Samstag, den 11. Oktober, nachmittags

Die Herbstsonne hatte erstaunlich viel Kraft und brannte auf den Main und das Ausflugsschiff »Johann Wolfgang von Goethe« nieder. Hendrik Wilmut vermisste eine Kopfbedeckung. Siegfried Dorst, von seinen Freunden Siggi genannt, schien es ähnlich zu gehen. Er hatte besonders zu leiden, da er die Haare als natürlichen Sonnenschutz komplett verloren hatte. Seine glänzende Kopfhaut war empfindlich gegen zu viel UV-Strahlung. Er hatte sich so gesetzt, dass Richard Volks breiter Körper ihm Schatten spendete. Richard war der einzige der drei Freunde, der vorgesorgt hatte. Er trug eine Baseballkappe.

Sie waren am Eisernen Steg an Bord gegangen und fuhren Richtung Westen. Hendrik und Richard als Frankfurter Lokalmatadoren hatten Siggi überredet, einen »Sauer Gespritzten« zu probieren, Apfelwein mit Sprudelwasser. Siggi sah damit nicht glücklich aus. Gerade hatten sie den Westhafen passiert, der kein Hafen mehr war, sondern ein Wohngebiet für Gutbetuchte.

»Jungs, ich muss mich entschuldigen!«, sagte Hendrik. »Ich dachte, Hanna wäre schon so weit, aber …«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen«, antwortete Siggi. »Hannas Gesundheit geht vor. Wahrscheinlich weiß keiner von uns wirklich, wie sie sich fühlt. Ich hatte trotzdem Lust auf ein Bier mit euch beiden Chaoten!«

Das ist Freundschaft, dachte Hendrik.

»Ich soll euch übrigens von Ella grüßen«, ergänzte Siggi. »Sie hatte eine anstrengende Arbeitswoche, deswegen ist sie in Weimar geblieben. Ich als Rentner habe es da einfacher.« Er grinste. »Außerdem meinte sie, wir sollten mal einen richtigen Männerabend machen.«

»Tolles Mädel!«, sagte Richard.

»Und hier ist ein Geschenk für Hanna.« Siggi überreichte Hendrik eine Pralinenschachtel.

»Vielen Dank!«

»Ella bat mich, zu fragen, wie es Hanna geht, sie hat ein paarmal versucht, sie anzurufen …«

»Derzeit geht sie nicht ans Telefon«, sagte Hendrik. »Sie hat gestern gemeint, dass es wohl besser sei, mit ihren Mitmenschen nicht über die Zeit vor ihrem Winterschlaf zu sprechen, sondern nur über die Zeit danach. So oder so ähnlich hat sie es ausgedrückt.«

»Meint sie damit auch ihre Freunde?«, fragte Richard. »Also uns?«

»Ja, ich denke schon. Ich vermute, damit möchte sie vermeiden, sich an die Zeit davor zu erinnern. Besser gesagt, ihr Hirn möchte das oder ihr Unterbewusstsein. Ich denke nicht, dass sie das willentlich steuern kann.«

»Gilt das genauso für dich?«, fragte Siggi.

Hendrik hielt sich die Hand über die Stirn, um die Sonne abzuschirmen. »Ich fürchte, ja.«

»Macht es das nicht einfacher?«

»Ja, Siggi, momentan schon. Irgendwann werde ich allerdings mit ihr über die Ereignisse des 13. September reden müssen.«

»Stimmt«, sagte Richard. »Aber wie schon gesagt: Lass ihr Zeit!«

»Ja, du hast recht. Immerhin isst sie inzwischen zweimal am Tag ein paar Löffel Hühnersuppe. Sie hat total abgenommen. Keine empfehlenswerte Diät.«

An der Backbordseite entschwanden gerade die Unikliniken, auf der Steuerbordseite erschien das alte Druckwasserwerk im Gutleutviertel, inzwischen eine angesagte Eventlokalität.

»Ich wollte übrigens auch Eddie einladen zu unserer Schiffstour«, sagte Hendrik. »Aber er befindet sich derzeit in Marokko.«

Richard legte seine Stirn in Falten. »Was macht er denn in Marokko?«

»Hochzeitsreise mit Karla!«

»Ach, wunderbar!«, sagte Richard. »Ich freu mich für die beiden. Letztes Jahr in München hat er ein Riesenglück gehabt, dass Nadine Moder ihn mit den beiden Schüssen verfehlt hat.«

Hendrik nickte.

Unvermittelt wechselte Siggi das Thema: »Mal was anderes, Richard, du hast am Telefon zwei tote Frauen erwähnt.«

Hendrik erschrak. »Was …? Zwei Tote schon?«

»Ja, allerdings wollte ich heute eigentlich nicht mehr über dienstliche Dinge reden, habe nämlich den ganzen Vormittag gearbeitet.«

Siggi legte den Kopf nach links, dann nach rechts. »Sorry, ich wollte dich eigentlich nicht damit behelligen …«

»Mit was?«

»In Jena ist vergangenen Mittwoch eine 77-jährige Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«

»Okay, nicht schön, aber was hat das mit mir zu tun?« Richards Stimmung hatte sich gedreht, er wirkte gereizt.

»Sie war auf der Bundesstraße 7 unterwegs, einer vollkommen geraden Straße durchs Isserstedter Holz, stadtauswärts Richtung Weimar. Hendrik, kennst du die Strecke?«

»Ja, kenne ich. Vor oder nach der Linkskurve?«

»Davor. Deutlich davor. Und keinerlei Bremsspuren. Absolut nichts. Ich hab davon in der Zeitung gelesen. Hab dann meinen jungen Kollegen – na ja, Ex-Kollegen – Kommissar Täntzer angerufen. Er ist manchmal ganz froh, Tipps von mir zu bekommen. Auch er ist skeptisch. Wilhelmine Becker, so hieß die Frau, fuhr einfach gegen einen Baum, ohne erkennbaren Grund. Andererseits konnte nichts gefunden werden, was für Fremdeinwirkung spricht.«

»Na, siehst du, Siggi, das sind doch völlig unterschiedliche Sachverhalte. Ihr habt da einen Verkehrsunfall und ich zwei Morde!«

»Wie bitte?«, rief Hendrik entsetzt.

Die Leute auf dem Oberdeck drehten sich nach ihnen um, am Südufer glitt die Niederräder Maininsel mit dem Licht- und Luftbad vorüber.

Richard sah ihn gequält an. »Das wollte ich dir sowieso noch sagen. Ich konnte den Oberstaatsanwalt überzeugen, einer Obduktion zuzustimmen. Dr. Bergen von der Rechtsmedizin in Gießen hat sich bereit erklärt, sie zu übernehmen.«

»Aha, gut gemacht!«

»Und der Rechtsmediziner hat heute beide obduziert.« Richard fasste das Obduktionsergebnis von Marianne Schmidt mit wenigen Sätzen zusammen.

»Ein Genickschuss?« Plötzlich fror Hendrik trotz der Hitze. »Und das hat man von außen nicht erkennen können?«

»Ich habe mich auch gewundert. Aber nein, es gab keine äußerlichen Anzeichen. Der Schuss war so angesetzt worden, dass die Einschussöffnung vom dichten Haaransatz verdeckt war und das Projektil aus dem Mund austrat. Der Arzt vor Ort hatte natürlich kein Röntgengerät.«

»Und die Frau aus Offenbach?«

»Elisabeth Müller. Der Fall ist noch mysteriöser. Dr. Bergen hat keinen Grund für ihren Tod gefunden. Keinen! Versteht ihr? Das ist eigentlich unmöglich. An irgendetwas muss sie ja gestorben sein, egal ob auf natürliche oder unnatürliche Weise.«

»Kein Herz-Kreislauf-Versagen?«

»Jedenfalls nicht nachweisbar. Sie litt zwar an einer Herzinsuffizienz, die jedoch weit weniger ausgeprägt war, als in der Presse beschrieben. Ihr Herz war leicht vergrößert und die Herzwand etwas dünner als üblich, dennoch weit von einer tödlichen Dimension entfernt. Sie könnte theoretisch an normaler Altersschwäche gestorben sein, gegen diese Theorie spricht allerdings ihr recht guter Allgemeinzustand, ebenso die Aussage der Tochter zu Frau Müllers Befinden in den vergangenen Wochen. Das Einzige, was Dr. Bergen auffiel, ist eine Einstichstelle am Oberschenkel. Er meint, da habe sich ein leichtes Hämatom gebildet, so als habe der Arzt ein wenig unvorsichtig gehandelt. Aber das klären wir noch.«

»Hm«, machte Hendrik.

»Ja, seht ihr, genauso mysteriös ist auch unser Todesfall in Jena«, sagte Siggi.

Das Schiff wurde langsamer, sie hatten die Staustufe Griesheim erreicht. Hier wurde gewendet.

Hendrik sah Richards düstere Gesichtszüge und beschloss, das Gespräch von den toten Frauen wegzulenken. »Okay, dann machen wir uns einen schönen Männerabend, wie von Ella vorgeschlagen. Wie wäre es hiermit: zuerst ein leckeres Essen im ›Luginsland Skyline Restaurant‹, sozusagen ganz oben, mit Blick über die Stadt, danach ins Orange Peel, Blues und Soul im Keller unter der Stadt?«

»Klingt gut«, antwortete Richard. »Aber von den Toten will ich heute Abend nichts mehr hören, klar?«

»In Ordnung!«, sagte Siggi.

*

Sonntag

Hendrik kämpfte gegen eine leichte Übelkeit von den zahlreichen alkoholischen Getränken am Vorabend, insofern kam ihm ein gemütlicher Tag mit Hanna ganz recht. Die beiden beschlossen, einfach nur zu »wohnen«.

Siegfried Dorst fuhr nach Weimar zurück, während seine Freundin Ella einen Spaziergang durch den Ilmpark unternahm, um ihre Kopfschmerzen loszuwerden.

Dr. Bergen wollte sich gern mit Almuth Feller verabreden, doch sie musste sich um ihre Eltern kümmern. Stattdessen verbrachte er ein sportliches Wochenende, hörte die Radioübertragung der Fußball-Bundesliga, las den Zeitungsbericht zu einem Basketballspiel der Gießen 46ers und besuchte ein Handballspiel in der Rittal Arena Wetzlar.

Richard Volk saß vor dem Fernseher in seiner Wohnung im Frankfurter Nordend und versuchte, die beiden toten Frauen aus seinen Gedanken zu verbannen. Doch es gelang ihm nicht. Am Montag würde er seine Kollegen zusammentrommeln und Aufgaben verteilen. Einmal dachte er sogar an Wilhelmine Becker, die im Isserstedter Holz zu Tode gekommen war.

2. Woche

Lotte Schneider

Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, morgens

Hendrik Wilmut erwachte um halb sieben. Zu seinem Erstaunen saß Hanna bereits in der Küche. Er stand an der Tür und lächelte.

»Kannst du mir bitte einen Espresso machen?«, fragte sie.

Hendrik stutzte. Bisher hatte sie Espresso nie sonderlich gemocht und schon gar nicht danach gefragt. Cappuccino, ja, oder Latte macchiato, aber nichts ohne Milch. Gerade wollte er eine flapsige Bemerkung loslassen, denn früher hatten sie darüber oft gescherzt – die Schöne und das Espresso-Biest oder Ähnliches. Doch dann merkte er, dass Hannas Wunsch ernst gemeint war und ihrem momentanen Seelenzustand entsprach, über den er besser keine Späße machte.

»Natürlich, gerne!« Er schaltete seine italienische Espressomaschine ein.

Sie hatte sich ihren Bademantel übergezogen, trotzdem schien sie zu frieren.

Hendrik sah auf ihre nackten Füße. »Soll ich dir die Hausschuhe holen?«

Sie nickte, er ging in den Flur, kehrte mit den dicken Puschen zurück, kniete vor ihr nieder und nahm ihren Fuß in die Hand. Er konnte nicht anders, als vorsichtig über ihre Haut zu streichen. Die Füße waren kalt, trotzdem genoss er es. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Vorsichtig streifte er ihr die Hausschuhe über.

Als die Maschine aufgewärmt war, nahm er den Doppel-Siebträger, hielt ihn unter die Kaffeemühle und ließ die voreingestellte Menge Kaffeepulver hineinrieseln. Tamper andrücken, kurz flushen, Siebträger eindrehen, los ging’s.

Zu seinem Erstaunen schien Hanna den Espresso wie ein besonderes Erlebnis zu genießen. War das die »neue« Hanna? Sie kannten sich seit langer Zeit, seit ihrer Jugend. Er überlegte kurz: Damals musste er 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. Er hatte die Sommerferien bei seinen Großeltern in Weimar verbracht. Hanna Büchler hatte nebenan gewohnt. Etwa 45 Jahre war das her. Füreinander bestimmt waren sie schon immer, so jedenfalls Hendriks Ansicht, aber ein wirkliches Liebespaar wurden sie erst vor 12 Jahren, kurz vor den stürmischen Ereignissen, die sie zwangen, Weimar zu verlassen.

Hendrik stand mit seiner Espressotasse neben dem Kühlschrank, er wollte sich nicht setzen. Er warf einen Blick auf die Zeitung, die ungelesen und zusammengefaltet auf dem Küchentisch lag. Immerhin hatte Hanna sie aus dem Briefkasten geholt. Er schielte auf die Titelseite und dachte an die junge Frau aus Wetzlar, die sich das Leben genommen hatte. Er durfte nicht abschweifen, Hanna war der Fokus seines Daseins.

»Möchtest du etwas essen?«, fragte er.

»Nein, danke!«

»Ella hat dir Pralinen geschickt.«

Sie nickte.

Er öffnete die Pralinenschachtel und stellte sie neben Hanna. Sie rührte keinen Finger.

»Du kannst ruhig ins Büro gehen«, sagte sie.

Meine Güte, dachte Hendrik, welche Aufmerksamkeit. Sein unruhiges Herumstehen hatte sie als Aktivitätsdrang interpretiert. Er war froh, dass sie ihre Empathie nicht verloren hatte.

»Danke, Schatz, ich will kurz etwas nachsehen. Dann muss ich los in die Uni.«

Sie lächelte.

Hendrik schlürfte seinen Kaffee, stellte die Tasse ab, verließ die Küche und fuhr den PC hoch. Es handelte sich nur um eine vage Idee, eine Ahnung, eine Befürchtung, die sicher schnell geklärt war. Er öffnete den Internetbrowser und gab in das Suchfeld »Wetzlar, Unfall, Tod« ein. Mit zitternder Hand drückte er die Entertaste.

Junge Frau von Zug getötet

Die 28-jährige Lotte S. wurde am 2. Oktober früh um 5.35 Uhr vom Regionalexpress in Richtung Gießen überrollt. Der Zug hatte wenige Minuten zuvor den Bahnhof Wetzlar verlassen und befand sich in den Lahnauen bei Garbenheim. Warum sich die Frau dort aufhielt, ist unklar. Der Zugführer konnte Lotte S. wegen der Dunkelheit und ihrer schwarzen Kleidung erst im letzten Moment erkennen und den Zug trotz eingeleiteter Notbremsung nicht rechtzeitig zum Stehen bringen. Die Polizei geht von einer Selbsttötungsabsicht aus.

Lotte S. – er spürte einen Schwindel aufkommen. Lotte aus Wetzlar. Der Zweifel an einem Suizid sprang ihn förmlich an. Schnell suchte er nach Todesanzeigen und fand sie sofort: »Unsere geliebte Tochter …« Ihr Name war Lotte Amelie Schneider. Sie stammte aus dem Wetzlarer Stadtteil Blasbach.

Es fiel Hendrik schwer, sich vom Computerbildschirm zu lösen. Er erhob sich, um nach Hanna zu schauen. Sie stand im Bademantel auf dem Balkon und bewegte sich nicht. Auch Hendrik wagte kaum, sich zu bewegen, jedoch eher gedanklich als körperlich.

*

Benzodiazepine

Weimar, Montag, den 13. Oktober, morgens

Siegfried Dorst betrat die Kriminalpolizeistation Weimar. Schon eilte ihm Kriminalkommissar Julian Täntzer mit schnellen, kurzen Schritten entgegen. Er wirkte so jung und unbedarft, als sei er gerade vom Schulhof herübergekommen, um ein Praktikum bei der Polizei zu absolvieren. Täntzer wedelte aufgeregt mit einem Blatt Papier. »Guten Morgen, Herr Dorst! Hier ist der Laborbericht, Frau Becker hatte bei ihrer tödlichen Fahrt keinen Alkohol im Blut, null Komma null!«

Dorst sah sich verstohlen um. »Langsam, Täntzer, lassen Sie uns in Ihr Büro gehen, es muss ja nicht jeder wissen, dass ein pensionierter Polizeibeamter Sie unterstützt!«

»Das ist mir egal, aber gut, kommen Sie rein. Kaffee?«

»Ja, gerne.«

Täntzer schloss die Tür hinter ihnen und riss die Kanne so heftig aus der Kaffeemaschine, dass die braune Brühe auf den Teppich schwappte. Er verteilte den Fleck großzügig mit seinem Schuh, goss beiden ein und setzte sich.

»Da, schauen Sie!«

Siegfried Dorsts Augen flogen über den Bericht. »Das heißt, im Labor wurde nur der Alkoholgehalt im Blut bestimmt?«

»Nein, auch Aufputschmittel, die üblichen Substanzen, auf der Rückseite.«

Dorst drehte das Blatt um. Kein Nachweis von auffälligen Substanzen im Blut von Wilhelmine Becker.

»Sie brauchen noch einen Test auf Benzodiazepine.«

Täntzer hob den Kopf. »K.-o.-Tropfen?«

»Genau. Und Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken. Beides könnte zum Unfallhergang passen.«

»Stimmt, aber mehr hat er nicht freigegeben.«

»Der Herr Kriminaldirektor?«

»Ja. Germer sitzt in seinem Büro in Jena, ich soll hier die Arbeit machen und er wirft mir Äste zwischen die Beine oder wie das heißt.«

Dorst lächelte. »Sie meinen ›Knüppel‹. Ruhig Blut, Täntzer. Warum ermitteln Sie eigentlich von Weimar aus und nicht Ihre Kollegen in Jena?«

»Die Kollegen dort arbeiten gerade an einem anderen Fall, der laut Germer höchste Priorität hat. Außerdem meint er, ich könne noch etwas Erfahrung sammeln. Wie er das gesagt hat, so … abschätzig.«

»Ich denke, das ist tatsächlich eine gute Gelegenheit, Erfahrung zu sammeln, vor allem, wenn Sie die Ermittlungen leiten. Egal, wie Germer es sieht, und egal, wie er sich ausdrückt. Betrachten Sie es als Chance!«

»Na gut. Wahrscheinlich haben Sie recht. Wegen der Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken können, werde ich Frau Beckers Hausarzt fragen. Dann wüssten wir zumindest, ob sie solche Präparate regelmäßig eingenommen hat. Eine Überdosierung käme ja auch infrage.«

»Gut so!«

»Nur wegen der K.-o.-Tropfen …« Täntzer zögerte. »Ich weiß nicht …«

»Welches Labor?«

»Das in der Uniklinik Jena, wie immer.«

»Okay, ich kümmere mich darum.«

»Was meinen Sie damit, Herr Dorst?«

»Das sollten Sie besser gar nicht wissen, Täntzer. Ich melde mich wieder!«

*

Spurensuche

Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, vormittags

Etwa zur gleichen Zeit betraten Richard Volk und Pascal Simon zum zweiten Mal die Wohnung von Marianne Hermine Schmidt im Frankfurter Stadtteil Oberrad. Hinter ihnen lauerten zwei Kollegen von der KTU. Alle vier hatten nur eine Aufgabe: das Projektil zu finden, das Marianne Schmidts Kopf durchschlagen hatte. Gemäß der Rekonstruktion des Tathergangs konzentrierten sie sich auf die Couch und die Wand dahinter. Zwei Kollegen nahmen das Sitzmöbel auseinander, die anderen beiden suchten die Wand zentimeterweise mit einem Metalldetektor ab. Richard überließ es Simon, auf dem Boden herumzukriechen. Dessen Jeans sah sowieso aus, als sei sie vor 20 Jahren aus der Altkleidersammlung gerettet worden.

Inzwischen wussten sie, dass die Flurnachbarin tatsächlich Frau Schmidts Wohnungstür gehört hatte. Richard hatte sie noch einmal befragt, ihre Aussage war glaubhaft. Außerdem war mittlerweile klar, dass Frau Schmidt um die Mittagszeit erschossen worden war, da sie das Mittagessen bereits im Magen hatte und die Mahlzeit immer pünktlich um 12 Uhr zu sich nahm. Der Türknall konnte auf 12.25 Uhr festgelegt werden, denn die Flurnachbarin hatte zu dieser Zeit ein Telefonat ihres Sohnes angenommen, das sie daran gehindert hatte, hinaus ins Treppenhaus zu gehen oder zumindest durch den Türspion zu schauen. Den Beginn des Gesprächs konnte Richard Volk der Anrufliste ihres Telefons entnehmen. Wenn man annahm, dass Frau Schmidt etwa 15 Minuten zum Mittagessen gebraucht hatte, war somit klar, dass der Todesschuss zwischen 12.15 Uhr und 12.25 Uhr erfolgt sein musste. Dem Attentäter waren also nur rund zehn Minuten geblieben, der bedauernswerten Frau Schmidt ein Stück Holz zwischen die Zähne zu schieben, einen exakten Schuss auszuführen und mit einem wahrscheinlich nicht beabsichtigten Türknall wieder zu verschwinden. Damit hatte er kaum Zeit gehabt, das Projektil zu suchen, was die Chancen der Polizisten erhöhte, selbiges zu finden.

Es dauerte fast eine Stunde, bis sie Erfolg hatten. Das Einschussloch befand sich nicht in der Wand, sondern im Bodenbelag vor der Wand. Um nicht zu lange am Tatort zu verweilen, hatte der Täter sich offensichtlich entschieden, es nicht herauszuholen, und stattdessen eine Bodenvase auf die Öffnung gestellt. Richard schüttelte den Kopf. Nicht mit uns! Natürlich fehlte ihnen noch die Tatwaffe, aber sobald sie sie gefunden hatten, konnte über die jedem Lauf eigenen Kratzspurenmuster ein gerichtsverwertbarer Zusammenhang mit diesem Projektil hergestellt werden. Richard Volk ging in die Hocke und strich mit den Fingern über den Bodenbelag. Er nickte und stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, dass es sich um einen modernen Vinylboden handelte, der weicher war als Parkett oder Laminat. Dies war wichtig, denn das Eindringen des Projektils in Holz hätte möglicherweise die spezifischen Kratzspurenmuster durch Fremdspuren verfälscht. Eine Hülse entdeckten sie nicht, die hatte der Mörder offensichtlich mitgenommen.

Während die beiden KTU-Kollegen begannen, vorsichtig den Vinylboden zu öffnen, gab Richard Volk seinem Jungkommissar einen Wink und sie verließen gemeinsam die Wohnung.

Im Wagen sitzend führte Richard ein Telefonat, in dem er nach dem Hausarzt des Offenbacher Opfers, Elisabeth Müller, fragte. Nach mehreren »Hm« und »Ja« und »Okay« legte er auf.

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22 декабря 2023
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9783839269121
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