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Erst als ein zweites Geschoss dicht neben ihm in den Boden fuhr und den Beton aufspritzen ließ, realisierte er, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Wagner lebte und hatte noch immer, wenn nicht sogar noch entschlossener das Ziel, Shane zu töten.

Auf einer der Treppenstufen blitzte etwas auf: die Disc. Sie musste Wagner aus der Tasche gefallen sein, als ihn Williams attackiert hatte. Shane griff danach, sprang auf und rannte los.

Der schnelle Sprint und die Unterversorgung mit Sauerstoff forderten ihren Tribut. Shane begann zu keuchen. Er wurde langsamer. Verzweifelt warf er im Laufen kurze Blicke über die Schulter, doch von seinem Verfolger fehlte jede Spur. Dann sah er unter sich eine Bewegung. Wagner rannte genau unter dem Glastunnel zwischen den Solarkollektoren hindurch.

Kapitel 17

Schwer atmend erreichte Shane die massive Stahltür zum Hotel und hämmerte mit letzter Kraft dagegen. Unverzüglich wurde ihm geöffnet und ein Dutzend Augenpaare musterten ihn besorgt.

»Fritzsch ist verletzt, er braucht Hilfe!«, sagte Shane noch, bevor ihn ein Hustenanfall durchschüttelte.

»Was ist mit Williams?«, fragte ein Sicherheitsmann besorgt. »Er wollte nach Ihnen sehen, geht es ihm gut?«

Shane schüttelte den Kopf. »Holen Sie mir einen der Verantwortlichen, schnell!«, krächzte er. »Wir haben ein Problem.«

Die Betonung seiner Worte war eindeutig und der Sicherheitsmann eilte ohne weitere Nachfrage davon. Shane ließ sich japsend zu Boden sinken, wo ihm Wasser und ein Handtuch gereicht wurden, mit dem er sich den gröbsten Schweiß aus dem Gesicht wischte. Er zitterte. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte und die Schmerzen wurden zusehends intensiver. Das Adrenalin, das bis eben noch durch seine Blutbahnen gerauscht war, verflog und hinterließ nichts außer physischer Qual. Für eine gewisse Zeit konnte der menschliche Körper jegliche äußere Einflüsse ignorieren und Kraftreserven mobilisieren, von denen man sonst nur geträumt hätte. Was danach auf einen wartete, war jedoch umso unangenehmer.

»Wie konnten Sie nur? Sie sind als Gast hier und mischen sich in Angelegenheiten des Unternehmens ein«, fauchte Amaya Ling.

Shane glaubte, nicht richtig zu hören. Ihn überkam kalte Wut. Langsam hob er seinen dröhnenden Kopf und sah ihr tief in die dunklen Augen.

Sie zuckte erschrocken zusammen und setzte augenblicklich zu einer Entschuldigung an. »Ich, äh …!«

»Ihre Anlage fliegt in die Luft, Ihr Sicherheitschef wurde niedergeschlagen und einer der Sicherheitsmänner ist tot«, resümierte Shane mit kalter Sachlichkeit. Bei der letzten Bemerkung stöhnte der Mann, der Ling herbeigeholt hatte, geschockt auf. »Und Sie wollen mir Vorträge halten? Schieben Sie sich Ihre Belehrungen sonst wohin! Ich wollte Sie warnen, Ihnen berichten, was geschehen ist, Sie vor weiteren Dummheiten bewahren, aber ich sehe, meine Unterstützung ist nicht gewollt. Wenn nur Sie davon betroffen wären, würde ich einfach nur abwarten und Tee trinken und mich dann an Ihrem entsetzten Gesichtsausdruck weiden, wenn Sie herausfinden, was passiert ist. Aber nun stehen Menschenleben auf dem Spiel!«

Er hielt nichts zurück, ließ seinem Ärger freien Lauf. Shane wusste, dass er zu hart mit ihr umsprang, doch es war ihm egal. Sollte sie von ihm doch halten, was sie wollte.

»Williams ist tot, wie konnte das geschehen?« Es war der Sicherheitsmann, der Shane von Anfang an ernst genommen hatte. Er trug einen schwarzen Anzug und ein Headset, mit dem er mit der Zentrale verbunden war. Sein Namensschild wies ihn als Martin van Holder aus: Hotelsicherheit und darüber hinaus Niederländer. Shane mochte die Niederländer, hatte sie schon immer gemocht.

»Ich weiß nicht, warum er sterben musste, aber ich weiß, wer ihn umgebracht hat.«

Shane holte tief Luft. Konnte er die Wahrheit sagen? Würde man ihm glauben? Was, wenn Ling darin verwickelt war? Er erzählte es trotzdem, darauf bedacht, nichts von der Disc oder Yusuf Bagdshira zu erwähnen. Das konnte er später noch nachholen, wenn alles vorüber war.

Mehrere der verbliebenen Sicherheitskräfte stoben auf Anweisung Martin van Holders davon, um die verschiedenen Eingänge des Hotels zu überwachen und Wagner umgehend festzusetzen. Niemand konnte wissen, was er als Nächstes vorhatte. Es war nicht auszuschließen, dass er zurückkehrte, um zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte.

»Dann war es wirklich Sabotage, den Brand meine ich«, sinnierte Ling und riss Shane damit aus seinen Gedanken. »Fritzsch hatte die ganze Zeit über recht.«

»Und Sie haben nicht auf ihn gehört«, stellte Shane kühl fest.

»Nein, doch, ja … ich wollte ihm glauben, aber es klang so haltlos. Ich wollte das Zusammentreffen nicht gefährden, weil es doch von so großer Bedeutung ist. Es stimmt, ich hätte mehr darauf eingehen müssen.« Sie ließ resigniert den Kopf hängen.

»Das hätten Sie Miss Ling, das hätten Sie«, brummte Shane.

***

Allmählich erholte sich sein Körper von den Strapazen des Kampfes mit Wagner. Sein Schädel brummte nur noch unterschwellig und das Brennen in seinen Lungen ließ langsam nach. Gemeinsam mit Ling, van Holder und dem Rest des Personals wartete er geduldig auf die Rückkehr der Gruppe um Estella. Es war ihnen gelungen, die Kollektorfläche zu durchqueren und die offene Wüste zu erreichen. Rettungstrupps hatten die völlig verstörten Gäste aufgegriffen und waren nun mit drei Jeeps auf dem Weg zurück zum Hotel.

Das Gesicht der jungen Forschungsleiterin erschien plötzlich vor Shanes innerem Auge. Hoffentlich geht es ihr gut, dachte er. Der Kampf auf Leben und Tod und die Ermordung Williams’ hatten sie vorübergehend aus seinen Gedanken verbannt, doch nun kehrte die Sorge um sie zurück.

Aus der Ferne hörte man Motorengeräusche, die immer näher kamen. Ein bis zwei Minuten noch, dann waren sie da. Sobald Estella versorgt war, wollte er mit ihr sprechen, und dann würde sich hoffentlich alles klären. Wagner würde gefasst und die Sabotage aufgedeckt werden. Um die weiteren Verstrickungen konnten sich die lokalen Behörden kümmern – sofern sich in einem Staat wie der Arabischen Republik Sahara jemand um die Belange eines multinationalen Energiekonzerns scherte.

Von der rätselhaften Disc hatte Shane noch niemandem erzählt. Ihr Inhalt würde hoffentlich Aufschluss über Wagners Ziele geben. Die Daten mussten höchst brisant sein, so brisant, dass Menschen bereit waren, dafür zu morden. Shane verschob alle weiteren Überlegungen, er würde sich später damit befassen, sobald die Verletzten in Sicherheit waren.

Das unverkennbare Rattern von Dieselmotoren drang zu ihnen herüber. Wäre die Situation nicht todernst gewesen, hätte Shanes Zeitungsartikel an dieser Stelle einen ironischen Unterton angenommen. Umweltverpestende Motoren machten sich nicht so gut für ein Unternehmen, dessen vorrangige Ziele dem Umweltschutz verschrieben waren. Indes bezweifelte Shane ernsthaft, dass er überhaupt noch einen Artikel schreiben würde, zumindest solange nicht, bis er alle Einzelheiten kannte.

Schlagartig wurde ihm etwas bewusst, an das er bisher nicht gedacht hatte. Seine Hand fuhr zu van Holders Schulter und rüttelte ihn durch. »Kontaktieren Sie die Männer in den Jeeps, schnell!«

»Was? Wieso?« Van Holder wirkte irritiert und seine Stimme wurde von dem einsetzenden Freudengeschrei der Hotelangestellten übertönt.

»Wagner könnte in einem der Jeeps sein!«, schrie Shane direkt in van Holders Ohr, um sich über das Geschrei hinweg verständlich zu machen. »Niemand von den Gästen weiß, was in der Zwischenzeit passiert ist«

Ling hatte ihren kurzen Wortwechsel belauscht und redete nun ebenfalls auf van Holder ein. »Tun Sie doch etwas! Wenn auch nur einem der Gäste etwas zustößt, werde ich Sie persönlich für …«

Gerade als der Sicherheitsmann sein Funkgerät zücken wollte, kamen die Jeeps um die Ecke geschossen und hielten mit quietschenden Reifen vor dem Hoteleingang. Den erschöpften Gästen wurde umgehend aus dem engen Innenraum geholfen. Allen stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Keiner lächelte, ja nicht einmal Erleichterung über die Rettung war aus ihren Augen zu lesen.

Während die wenigen Sanitäter und die beiden Hotelärzte sich unter die Leute mischten, versuchte Shane fieberhaft, Wagner in der Menge auszumachen.

Gemeinsam mit van Holder drängte er sich zwischen den anderen Gästen hindurch. Es herrschte das reinste Chaos. Shane blickte in verstörte, sonnenverbrannte Gesichter. Von überall her waren klagende Laute und empörte Äußerungen zu hören; jeder redete wild durcheinander. Unsanft stieß Shane Thalia Morgan beiseite, die sich nicht von dem bemühten Hotelpersonal beruhigen lassen wollte. Es wurde mit Schadensersatzklagen und geplatzten Investitionen gedroht. Inmitten des Getümmels erblickte Shane Estella. Sie stand ein wenig abseits von den anderen und starrte apathisch in die Wüste. Direkt hinter ihr befand sich David Meier, der verzweifelt versuchte, seine schweißnassen, zusammengeklebten Haare wieder in Form zu bringen.

Wo zum Teufel steckte Wagner? Shane wusste, dass er hier war; er konnte es spüren. Jeden Moment könnte er … da tauchte er wie aus dem Nichts auf, keine drei Meter von Meier entfernt, die provisorische Pistole erhoben. Er musste sich hinter dem letzten Jeep versteckt und auf den richtigen Moment zum Zuschlagen gewartet haben. Blitzschnell war er hinter Meier. Seine linke Hand schnellte vor und krallte sich um Meiers Kehlkopf, während er mit der rechten die Waffe an dessen Schläfe presste. Lennard Franks Ehefrau kreischte hysterisch auf.

Innerhalb weniger Sekunden stob die Menge auseinander: Gäste und Personal rannten kreischend durcheinander, stießen sich gegenseitig zu Boden und suchten verzweifelt nach einem Fluchtweg.

Ein Schuss fuhr in den Himmel.

»Ruhe!«, schrie Wagner, die Pistole bereits wieder auf Meier gerichtet.

»Ich werde ihn erschießen!« Meier begann unkontrolliert zu zittern, und Wagner hatte Schwierigkeiten, ihn auf den Beinen zu halten. Die kalte, berechnende Fassade des jungen Mannes bekam allmählich Risse. Schweiß lief ihm über die Stirn und die Handflächen. Shane hatte seinen Plan durchkreuzt, sodass ihm nur noch eine Geiselnahme als letzter Ausweg geblieben war. Jetzt hielt er seinem Vorgesetzten eine Waffe an den Kopf – sofern er überhaupt jemals für Meier gearbeitet hatte.

Van Holder reagierte blitzschnell, zog seine eigene Waffe aus dem Holster und richtete sie auf den Geiselnehmer. Wäre nicht schon ein heilloses Durcheinander ausgebrochen gewesen, wären die Dinge in diesem Moment endgültig außer Kontrolle geraten. Van Holder und Wagner starrten sich finster und kalkulierend an. Wagner benutzte Meier nun als menschliches Schutzschild, sodass ein Schuss auf ihn auch unweigerlich seinen Vorgesetzten getötet hätte.

»Dirk, bitte«, flüsterte Meier gerade so laut, dass es nur die Nahestehenden verstehen konnten.

Zum ersten Mal hatte Shane Mitleid mit dem dicklichen Atom-Lobbyisten. Niemand verdiente ein solches Schicksal, nicht einmal eine so niederträchtige und manipulative Person wie Meier.

Es entbehrte jeglicher Logik und jeglichen Verstands, aber wenn Shane gekonnt hätte, er hätte mit Meier getauscht. Ihm müsste Wagner eine Pistole an den Kopf halten. Das war etwas Persönliches, spätestens seit ihrem Zusammentreffen im Kontrollzentrum. Er hatte Wagners Pläne vereitelt und ihm die gestohlene Disc wieder abgenommen. Meier war, so ungern sich Shane das auch eingestand, ausnahmsweise unschuldig. Über van Holders Schulter hinweg starrte er den jungen Mann an.

Täuschte er sich oder flüsterte Wagner Meier etwas ins Ohr? Shane versuchte, genauer hinzusehen, doch da schwenkte auf einmal Wagners Waffe herum. Sie zielte nun nicht mehr auf Meiers Schläfe, sondern direkt auf ihn. Jetzt befand er sich in genau der Situation, die er eben noch in Gedanken heraufbeschworen hatte. In solchen Momenten bewies die Welt, welch makaberen Sinn für Ironie sie doch hatte. Shane kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu bringen. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, stillzustehen.

Es krachten zwei Schüsse: Einer aus der Waffe des Sicherheitsmannes, donnernd und laut, der andere aus Wagners modifizierter Pistole – surrend wie ein Pfeil. Shane konnte nicht fassen, was geschehen war; Wagner hatte ihn verfehlt. Er wollte auf ihn zustürzen, ihm die Waffe entreißen …

Doch plötzlich gaben seine Beine nach. Weshalb nur sahen ihn alle anderen so bestürzt an?

Shane sackte langsam zusammen und blieb auf dem Rücken liegen. Seine Brust wurde eigenartig warm, dann begann das Herz übernatürlich laut zu pochen. Eine heiße Flüssigkeit breitete sich auf ihm aus. Die Zeit hörte auf, wie eine Schnecke dahinzukriechen und wurde immer schneller und schneller. Shane begriff allmählich: Das Projektil hatte ihn nicht verfehlt, es steckte zwischen seinen Rippen.

Verschwommene Gesichter füllten sein Blickfeld aus, doch eines stach besonders daraus hervor. Es gehörte einer jungen Frau; er war froh, dass sie da war. Ihre klaren, indigoblauen Augen zogen ihn auf den Grund des Meeres seiner Existenz hinab.

Das war es also, das größte Mysterium der Menschheit. Shane hatte sich Sterben viel spektakulärer vorgestellt, erfüllender – doch der Blick in Estellas Augen blieb das einzig Erfüllende in diesem Moment der Agonie, bevor er für immer in der Schwärze versank.

Teil 2: Vorbereitungen

Kapitel 18

10. Mai 2023

Sizilien

Palermo

Giacomo starrte mit abwesendem Blick hinaus auf das unruhige ›Tyrrhenische Meer‹. Dunkle Wellen mit weißen Schaumkronen rauschten heran und brachen sich am hellen Thassos-Marmor, der die Hafenmole befestigte. Im Laufe der letzten Jahre waren immer mehr Steinblöcke aufgeschichtet worden, um die gewaltigen Wassermassen daran zu hindern, noch weiter ins Land vorzudringen. Das Meer versuchte zurückzuerobern, was ihm genommen worden war.

Die Luft schmeckte salzig und erfrischte seine Sinne, so wie das Rauschen des Wassers sämtlichen seelischen Ballast davonspülte. Mit jedem Atemzug, den er tat, wurde er ruhiger. Verworrene Gedankengänge begannen sich zu ordnen und sein Kopf wurde wieder klar.

Es war erst früher Nachmittag, weshalb sich die meisten Touristen noch in den zahlreichen Restaurants entlang der Strandpromenade aufhielten. Giacomo hasste die Hektik und Rastlosigkeit der Menschen, vielmehr liebte er die Einsamkeit und die Ruhe. Obwohl oder gerade weil er einen Großteil seines Lebens in riesigen Metropolen verbracht hatte, fühlte er sich in ländlichen Umgebungen wohl. Er blendete all die Häuser, Menschen und Fahrzeuge hinter sich aus und konzentrierte sich voll und ganz auf das gewaltige Naturschauspiel.

Aus der ausgebeulten Tasche seines ockerfarbenen Leinenhemds brachte er eine Schachtel Zigaretten zum Vorschein und betrachtete sie nachdenklich. Der Geschmack echten Tabaks blieb unantastbar. Zwar gab es elektronische Nachbauprodukte, die mit Hilfe aromatisierten Wasserdampfs den Eindruck von Rauch erweckten, doch war das Erlebnis nicht mit dem echten, lungenverpestenden Qualm zu vergleichen.

Der tosende Wind machte es ihm nicht leicht, den Stängel zum Glimmen zu bringen, als wolle die Natur verhindern, dass er sich selbst vergiftete. Wütend schleuderte er die Packung von sich.

Als ob er das Meer strafen wollte, wandte er sich ab und betrachtete stattdessen die ›Ingresso di Villa Guilia al Foro Italico‹, eine winzige Parkanlage direkt an der Hauptstraße, die über die Jahre an Attraktivität gewonnen hatte. Dicht gedrängt stehende, schattenspendende Palmen und exotische Sträucher erweckten den Eindruck, als hätte man ein Stück Urwald an einem anderen Teil der Erde herausgeschnitten und hier wieder eingesetzt.

Ein Blick auf seine goldene Armbanduhr verriet ihm, dass es an der Zeit war … Eilig durchquerte Giacomo den Park, schob das kleine Gatter beiseite und hielt auf seinen Mietwagen zu, den er am Straßenrand geparkt hatte.

Der Alfa Romeo hatte sich im Zuge des Wasserstoff- und Elektro-Booms durchgesetzt. Von den Straßen Italiens war er nicht mehr wegzudenken. Nur die türkisfarbene Lackierung war Giacomo ein Dorn im Auge, auch wenn er sich beim Händler genügsam gegeben hatte. Er wollte, durfte nicht auffallen. Giacomos Vergangenheit und seine jetzige Profession verboten es ihm, in irgendeiner Weise auf sich aufmerksam zu machen. Manchmal wünschte er sich, wie ein normaler Mensch leben zu können, ohne die ständige Angst, erwischt zu werden. Er war einer der Besten auf seinem Gebiet, aber was hieß das schon?

Per Knopfdruck ließ er den Wagen an, der lautlos Bereitschaft meldete. Ein weiterer Vorteil der neuen Wasserstoffmodelle: Sie produzierten weder giftige Abgase noch Lärm, wodurch es in den meisten Städten erheblich ruhiger geworden war.

Er beschleunigte auf etwa vierzig Stundenkilometer und fädelte sich in den Verkehr ein. Bald darf man die Straßen nur noch mit Schrittgeschwindigkeit befahren, dachte er verächtlich. Er hatte schon die ursprünglichen fünfzig Stundenkilometer lächerlich gefunden, vierzig aber waren eine Beleidigung für jeden versierten Autofahrer.

Allerdings galt auch an dieser Stelle das Gebot der Vorsicht: Fuhr er zu schnell, riskierte er, von der Polizei angehalten zu werden, was wiederum bedeutete, dass er seine falsche Identität gefährdete. Man wusste nie, wem man begegnete. Im Normalfall war der falsche Pass, selbst der eingebaute Mikrochip, nicht vom Original zu unterscheiden, doch hatte es in der Weltgeschichte schon die unangenehmsten Zufälle gegeben. Giacomo glaubte, dass vor allem die naive Sorglosigkeit den meisten Verbrechern, ob nun Schmuggler, Bankräuber oder Auftragsmörder, zum Verhängnis wurde.

Kurz darauf verließ er die Hauptstraße und bog rechts ab. Auf dem ›Piazza Capitaneria del Porto‹ entdeckte er überraschenderweise eine Lücke und parkte den Wagen. Noch sieben Minuten! Sieben Minuten, die ihn vom wohl größten Auftrag seiner Karriere trennten. Er nahm es gelassen, Geschäft blieb Geschäft.

Auf dem Rücksitz lag ein dünner Basthut, den er sich beim Aussteigen lässig auf den Kopf warf und mit einer gekonnten Handbewegung zurechtrückte. Eine Signorina in einem feuerroten Sommerkleid bemerkte ihn und winkte ihm flirtend zu. Er vollführte eine charmante Verbeugung, ging aber nicht weiter auf das Spiel ein.

Sein Vorname passte zu ihm wie die Faust aufs Auge, denn er besaß nicht unerhebliche Ähnlichkeit mit dem charmanten Verführer vergangener Tage. Er war ein Casanova, die Frauen liebten ihn, was nicht nur auf sein gespielt zuvorkommendes Verhalten zurückzuführen war. Vermutlich lag es an seiner sonnengebräunten reinen Haut, seinen vollen schwarzen Haaren und oder dem muskulösen Körperbau. Eine flüchtige Bekanntschaft hatte ihm im Liebeswahn zugeflüstert, dass seine Augen denen eines wilden Stieres und einer zahmen Katze zugleich ähnelten. Er hatte sie nie wieder gesehen.

Obschon er sich vorgenommen hatte, es bedachtsam anzugehen, übermannte ihn nun doch die Aufregung, nachdem er die Hälfte des Piers hinter sich gelassen hatte. Wer mochte der ominöse Auftraggeber sein? In den Kreisen, in denen er für gewöhnlich verkehrte, war der Name noch nie gefallen. Wahrscheinlich würde er sich ohnehin nur mit einem Mittelsmann treffen. Die wenigsten Auftraggeber erschienen beim ersten Mal persönlich. Wenn sie es doch taten, dann sagte das etwas über sie aus, nämlich, dass sie entweder leichtsinnig und von sich selbst eingenommen waren, oder dass sie keine Konsequenzen scheuten, was Giacomo stets misstrauisch werden ließ.

Um nicht nachlässig zu werden, konzentrierte er sich wieder auf seine Umgebung.

Die Boote schaukelten geräuschvoll auf und ab und die Möwen zogen tief ihre Kreise. Es würde Regen geben und sich abkühlen, denn der Wind hatte aufgefrischt und zerrte nun energisch an seiner Kleidung. Fast hätte es ihm den Hut vom Kopf geweht.

Ein alter Seemann vertäute brummend seinen Kahn, griff nach der Whiskyflasche, die neben ihm auf dem Boden stand, und nahm einen tiefen Schluck. Leicht torkelnd wankte er an Giacomo vorbei in Richtung Hafenmeister. Hoffentlich lichten ihn ein paar Touristen ab, dachte Giacomo schadenfroh.

Am Ende des Piers saß ein Mann mittleren Alters auf einer steinernen Bank. Er trug Anzug und Krawatte, weswegen Giacomo nicht daran zweifelte, dass es sich bei ihm um seine Kontaktperson handelte. Niemand sonst hätte bei diesem Wetter Schlips und Kragen getragen. Auffälliger ging es kaum, aber Giacomo ermahnte sich, sein Gegenüber trotzdem nicht zu unterschätzen.

Schweigend setzte er sich neben ihn, und musterte die ungewöhnlich helle Haut des Fremden. Wie abgemacht lehnte eine Angelrute an der Bank.

»Invan si pesca se l’amo non ha l’esca«, sagte Giacomo das vereinbarte Codewort auf, was so viel bedeutete wie: Man fischt umsonst, wenn der Angelhaken keinen Köder hat. Es war ein altes Sprichwort und deswegen unverfänglich.

»Quanto è vero«, antwortete der Fremde, wonach beide für einen Moment den Fischerbooten hinterher schauten, ehe sie sich einander zuwandten. Aus den Augenwinkeln bemerkte Giacomo einen weiteren Anzugträger, der nicht weit entfernt auf einem der Boote stand. Sie wurden beobachtet. Giacomo deutete mit einer leichten Kopfbewegung in die Richtung, und der Fremde nickte.

»Alles in Ordnung. Nicht hinter jeder Ecke lauert der Feind, Signore.«

Ungeniert winkten sich die beiden Anzugträger zu.

Giacomo ging nicht weiter darauf ein. »Sie haben einen Auftrag für mich?«

»Nana, immer mit der Ruhe, Signor Salvadore!« Ein aufgesetztes Lächeln entblößte makellose Zähne von einem Weiß, das an poliertes Elfenbein erinnerte. »Ich werde Ihnen keine Mappe mit rot eingerahmten Photographien überreichen, und dann war’s das.« Der Mittelsmann schien äußerst belustigt. »Wenn Sie für uns arbeiten wollen, werden Sie Ihren eifrigen Abzugsfinger für eine Weile bandagieren müssen, fürchte ich.«

In diesem Augenblick begriff Giacomo, dass er es tatsächlich ganz nach oben geschafft hatte. Der Mann, mit dem er verhandelte, war nicht irgendein Lakai, sondern eine einflussreiche Persönlichkeit. Wie bedeutsam diejenigen sein mochten, die ihn geschickt hatten, konnte er nur erahnen.

Von nun an durfte er sich jedenfalls keine Fehler mehr erlauben, ansonsten würde man ihn am nächsten Tag aufgedunsen aus dem Hafenbecken fischen. Normalerweise wähnte er sich gegenüber seinen Auftraggebern im Vorteil, diese Selbstsicherheit war ihm jedoch mit wenigen Sätzen genommen worden. Der Fremde hatte Giacomo auf subtile Art deutlich gemacht, dass er nicht nur unbedeutend, sondern auch entbehrlich war. Das hatte er nicht erwartet, er war es gewohnt, gebeten zu werden, wenn jemand seine Dienste in Anspruch nehmen wollte, er war nämlich kein Killer von der Sorte, die sich für keinen Auftrag zu schade waren.

»Signor Salvadore, man sagte mir, Ihre Erfolgsquote läge bei einhundert Prozent. Kann ich mich darauf verlassen, dass dies zutreffend ist? Sie müssen wissen, ich persönlich habe Sie vorgeschlagen; es hängt also viel davon ab, ob mein Vertrauen in Sie gerechtfertigt war.«

»Wenn ich mir Misserfolge oder Ungenauigkeiten erlauben würde, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen. Ich kann Ihnen versichern, meine Motivation ist das Geld, keine Religion oder pseudo-esoterische Scheiße. Ich hoffe, dies beantwortet Ihre Frage klar und deutlich.«

Giacomo lehnte sich zurück. Alles was er gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Er hatte nichts zu befürchten.

»Genau das wollte ich hören.« Der Fremde taxierte ihn mit seinen strahlend blauen Augen. »Wenn Sie dabei sein wollen, brauche ich jetzt eine verbindliche Zusage. Danach gibt es kein Zurück mehr. Bedingungslose Loyalität setzen wir voraus. Wenden Sie sich gegen uns oder gefährden Sie in irgendeiner Weise die Operation, werden Sie eliminiert. Schließen Sie den Auftrag erfolgreich ab, erhalten Sie das Geld. Ein Vorschuss ist verhandelbar.«

»Wie viel?«, fragte Giacomo kühl. Stimmte die Summe, würde er ohne zu zögern einschlagen, denn er zweifelte nicht daran, dass eine Ablehnung seinen sofortigen Tod zur Folge haben würde. Mitwisser waren in diesem Metier unerwünscht, und Fehler wurden nicht toleriert. Man konnte sich bis zu einem gewissen Grad absichern, aber letztendlich stand man alleine da – gegen ein ganzes Netz von Auftragskillern.

Erfreulicherweise gab es selbst unter den brutalsten Auftragsmördern eine Art Ehrenkodex: Deal blieb Deal! Die Ehre spielte in der organisierten Kriminalität eine große Rolle. Giacomo musste unwillkürlich an Francis Ford Coppolas Mafiastreifen ›Der Pate‹ denken: Wie viel Wahrheit doch in dem alten Film steckte!

»Zehn Millionen, drei als Vorschuss. Jedes Teammitglied erhält dieselbe Summe.«

»Ich arbeite aus Prinzip nicht mit anderen zusammen.«

»Ihre Prinzipien gehen mir am Arsch vorbei, Mann.« Das künstliche Lächeln war einer steinernen Maske gewichen. »Die Mission ist für vier Personen ausgelegt. Finden Sie sich damit ab, oder gehen Sie. Ihre Antwort?«

Giacomo ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Das gehörte zum Spiel. Er bereute nur, die Zigarettenschachtel weggeworfen zu haben. »Einverstanden.«

Das breite Lächeln kehrte zurück. »Ich wusste, dass Sie die richtige Entscheidung treffen würden. Sie sind engagiert, Señor Salvadore. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Leichtfüßig sprang der Fremde auf das Boot. Dem Stewart gab er ein Handzeichen, und mit dröhnendem Motor verließen sie das Hafenbecken und steuerten hinaus aufs offene Meer.

***

Das kleine Motorboot verfügte zwar über eine Kajüte, doch Giacomo hatte darum gebeten, an Deck bleiben zu dürfen. Über ihm leuchteten die Sterne mit einer Intensität, die er seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Jede Minute, die er unter Deck verbracht hätte, wäre Verschwendung gewesen.

Insgesamt befanden sich fünf Mann an Bord: Der Fremde, der sich in der Zwischenzeit als Phillip Scholz vorgestellt hatte, drei namenlose Wachposten sowie er selbst. Die See hatte sich beruhigt, weshalb sie schnell vorankamen. Mit einer Geschwindigkeit von mindestens zwanzig Knoten jagten sie über die leicht wogende Wasseroberfläche. In der Ferne tauchten mehrere Inseln auf. Giacomo spähte angestrengt in die relative Dunkelheit, bis er die einzelnen Konturen klar voneinander abgrenzen konnte.

»Wir sind bald da«, stellte Scholz überflüssigerweise fest.

Als Gesprächspartner war er denkbar ungeeignet, wenn nicht sogar unangenehm. Nach mehreren Versuchen, etwas aus ihm herauszuquetschen, hatte Giacomo aufgegeben und sich mit der Tatsache abgefunden, dass er gegen eine Wand redete.

Er hoffte nur, dass die hinter Scholz stehenden Aufraggeber großzügiger mit ihren Informationen waren. Wenn er eines hasste, dann waren es schlecht abgeklärte Missionen. Um ein perfektes Ergebnis garantieren zu können, benötigte er alle Informationen, die er kriegen konnte, nur so ließen sich Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen noch im Vorfeld verhindern. Allerdings schienen die Drahtzieher alles andere als Anfänger zu sein, darum vertraute er ihnen. Vorerst.

Am Ufer der ersten Insel tauchte eine nicht unbedeutende Anlegestelle auf, an deren Seiten weitere Bote vertäut lagen. Bullige Wachposten in schwarzen T-Shirts patrouillierten bewaffnet mit Maschinenpistolen davor auf und ab. Im Giebel des Bootschuppens brannte eine einsame Glühbirne, ansonsten gab es keine erkennbaren Lichtquellen. Nur die auf einer Anhöhe erbaute Villa strahlte noch etwas Licht ab.

Giacomo meinte, die meisten Mafiaverstecke zu kennen, doch diese Insel war ihm nicht vertraut. Entweder gehörte sie einem eher unbedeutenden Mafiosi, oder er hatte die Ausmaße der Organisation unter- und seine Rolle darin überschätzt.

»Aussteigen!«, befahl einer der muskelbepackten Bodyguards mit russischem Akzent.

»Nana, Signor Salvadore ist unser Gast. Wo bleibt dein Benehmen, Gregor? Als neulich die nette Signorina zu Besuch war, hast du doch auch geschnurrt wie ein Kätzchen«, spottete Scholz.

Giacomo deutete einen übertriebenen Knicks an, der selbst den finsteren Gregor zum Lachen brachte. Kriminelle verfügten über einen ausgeprägten Humor. Nicht selten diente ein qualvoller Akt, den die Polizei gemeinhin als Mord bezeichnete, zur humoristischen Erquickung mancher Mafiabosse. Giacomo war stets darauf bedacht, nicht zu einem jener Vergnügen zu werden.

Die Villa war beeindruckend, mehrstöckig und von einer Eleganz vergangener Tage. Die mit Terrakotta geflieste offene Veranda besaß die Größe eines Basketballfeldes samt Schiedsrichtertribüne. Der Ausblick aufs Mittelmeer war ungetrübt, kein einziger Baum befand sich im Sichtfeld. Die Landschaft war geprägt von Zypressen, hohen Gräsern und Kakteen, die zwischen Steinansammlungen wuchsen. Eine Idylle inmitten des Ozeans. Unten hörte man die Wellen im vorgegebenen Takt der Natur gegen das steinige Ufer klatschen.

Irgendwann, wenn die Zeit gekommen war, würde sich Giacomo an einem solchen idyllischen Ort zur Ruhe setzen. Dann würde er einegenau zwischen sich und Villa erbauen, noch imposanter und luxuriöser als diese hier. Er würde eine nette Frau finden und mit ihr gemeinsam seinen Lebensabend verbringen. Bis jetzt war es nur eine schöne Vorstellung, doch der neue Auftrag und die unfassbar hohe Bezahlung konnten seine Zukunftsträume Wirklichkeit werden lassen. Wenn alles glatt lief, konnte er sich danach ein für alle Mal aus dem Geschäft zurückziehen. Er hätte ausgesorgt.

Nur mit Mühe gelang es ihm, aus der Traumwelt in die Realität zurückzufinden. Vor ihm lag der wohl mit Abstand schwierigste Auftrag seines Lebens. Die Zukunft war noch nicht geschrieben, alles war möglich. Der Erfolg könnte ausbleiben, die Auftraggeber nicht zahlen. Schon so manches Mal war es ihm nur unter Einsatz gewisser Druckmittel gelungen, sein Honorar einzutreiben.

Im ersten Stock brannte helles Licht, während das Erdgeschoss weitestgehend im Halbschatten lag. Scholz führte ihn durch die Terrassentür. Drinnen präsentierte sich ihm ein überaus geräumiges Wohnzimmer mitsamt angrenzendem Essbereich. Die Möbel – gleich mehrere Sofas, Sessel, Tische und Schränke – waren aus den teuersten Materialien gefertigt. Das Material der Bücherschränke erkannte Giacomo als westindisches Satinholz.

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22 декабря 2023
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9783957770363
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