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Am letzten Freitag im August rief ich Javier auf seinem Handy an. »Bist du gerade unterwegs?«

»Nein, ich warte auf den Konsul, der ist noch bei einem Essen.«

»Wann hast du frei?«

»Nicht vor sieben. Der Botschafter ist in der Stadt. Am Sonntag muss ich ihn nach Chihuahua fahren.«

»Okay. Dann treffen wir uns nach der Arbeit auf einen Drink im Kentucky Club. Und heute bin ich mal dran, bei dir zu übernachten.«

Ich merkte, dass er zögerte.

»Javier?«

»Ja, wunderbar«, sagte er.

Beim Überqueren der Brücke fiel mir auf, wie wenig hier los war. Als ich jung war, wimmelte es auf der Santa Fe Bridge vor Fußgängern. Die Avenida Juárez war voll von Straßenimbissen und Leuten aus El Paso, die nach einer langen Woche endlich mal ausspannen wollten. Aber diese Zeiten waren vorbei. Die Brücke war praktisch menschenleer. Ich ging vorbei an den Soldaten, die ihre Gewehre auf dem Rücken trugen, Soldaten, die aus der Nähe mehr Ähnlichkeit mit Schuljungen hatten als mit erwachsenen Männern. Als ich den Kentucky Club betrat, saß Javier am Tresen.

Wir berührten uns mit den Augen.

»Bist du schon lange da?«

»Gerade erst gekommen.«

»Ich hab dir eine Margarita bestellt.«

»Ich hasse Margaritas.«

»Ich auch. Aber ich fand, wir sollten trotzdem eine trinken.«

Ich musste lachen.

Wir setzten uns an einen Ecktisch.

»Niemand kommt mehr hierher«, sagte ich.

Wir tranken unsere Margaritas. Er war still, ich war gesprächig. Ich erzählte ihm, dass ich als junger Mann öfters hier gewesen war, dass mir einmal ein älterer Gringo einen Antrag gemacht hatte, der schon zum Reden zu betrunken war. »Er hätte keinen mehr hochgekriegt.«

»Du musst sehr gut ausgesehen haben.«

»Darüber habe ich mir nie groß Gedanken gemacht.«

»Warum nicht?«

»Seit wann ist es ein Verdienst, gut auszusehen?«

Javier betrachtete mich. So wie er mich immer betrachtete.

»Weißt du«, sagte ich, »ich mochte nicht darüber nachdenken, wie ich aussah. Ich glaube, ich mochte es nicht mal, einen Körper zu haben.«

»Warum nicht?«

»Mir hat jemand etwas angetan. Als ich ein Junge war.« Javier musterte mein Gesicht. »Das hast du nicht verdient.«

»Bring mich nach Hause«, sagte ich.

13

Seine Wohnung war nicht gerade groß – Schlafzimmer, kleines Wohnzimmer, Küche, Bad. Überall gab es Pflanzen und Bücher. An den Wänden hingen Fotografien. Und in seinem Schlafzimmer ein Bild von mir. Die Wohnung hatte eine Art sachliche Eleganz, die mich an sein Lächeln erinnerte.

Wir liebten uns nicht. Wir hielten uns nur fest umschlungen.

Mitten in der Nacht wachte ich auf und zog mich aus. Javier war im Wohnzimmer, in einen meiner Romane vertieft.

»Was machst du da?«, fragte ich.

»Ich liebe den Autor. Hab ich dir das noch nicht gesagt?« Den Rest der Nacht schliefen wir nicht mehr.

Wir liebten uns wie Jungs, die eben erst die Wunder der Sexualität entdeckt haben.

Am nächsten Tag frühstückten wir mit den beiden Frauen von nebenan. Magda und Sofia. Beide waren Lehrerinnen und Aktivistinnen, und sie sprachen voller Wehmut über das, was mit ihrem geliebten Juárez passierte. Ich fand es merkwürdig, unlogisch und bewegend zugleich, dass diese aufrechten Menschen einer Stadt die Treue hielten, die ihre Liebe nicht verdient hatte. Aber sie fanden ihre Erfüllung darin, mit Kindern zu arbeiten, die praktisch von nichts leben mussten. Ich versprach, das nächste Mal ein paar Kinderbücher mitzubringen.

»Würden Sie ihnen auch daraus vorlesen?«

»Ja, gern«, sagte ich.

Beide lächelten mich an. »Sie sind also Javiers Carlos.«

»Ja. Ich bin Javiers Carlos.«

Den Nachmittag verbrachten wir damit, einander vorzulesen. Am Abend begleitete er mich zur Brücke. Ich wollte ihn so gerne küssen. Aber das war unmöglich. Er umarmte mich. Wir hätten alte Freunde sein können.

Er versprach, sich zu melden, wenn er aus Chihuahua zurückkam.

Am Dienstagabend rief er an.

Am Mittwoch simste er mir: Te adoro. Ich simste zurück: Also bis Freitag.

Er antwortete: Lass uns ins Kino gehen.

Am Freitag wartete ich auf ihn. Aber er kam nicht.

14

Immer wieder rief ich auf seinem Handy an. Es war ausgeschaltet, blieb ausgeschaltet. Während ich in meiner Wohnung auf und ab tigerte, versuchte ich mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Versuchte, nicht in Panik zu geraten. Ich hatte die Telefonnummer der Botschaft, aber die war zur Zeit geschlossen. Es würde nichts bringen, dort anzurufen.

Irgendwann ging ich über die Straße zum Supermarkt und kaufte eine Schachtel Zigaretten. Die erste schmeckte, als hätte mir eine Taube in den Mund gekackt. Aber das machte nichts. Ich rauchte noch eine. Ich goss mir einen Drink ein.

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Stattdessen ließ ich mir alle möglichen Szenarien durch den Kopf gehen. Schließlich war ich Schriftsteller. Vielleicht hatte er eine Affäre mit einem anderen Mann. So wenig originell dieses Szenario auch war, ich hielt daran fest. Weil es bedeutete, dass Javier am Leben war.

Um sechs Uhr klopfte ich an Magdas und Sofias Tür. Ihren Mienen entnahm ich, dass mein Erscheinen sie nicht überraschte.

»Sie sehen furchtbar aus«, sagte Magda, als sie mich Richtung Couch schob.

Sofia ging in die Küche und kam mit einer Tasse Kaffee zurück. Sie bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie. Ich hörte, wie meine Lungen den Rauch einzogen. »Nun sagen Sie schon – was ist mit Javier passiert?«

»Wir hatten keine Telefonnummer. Deshalb wussten wir nicht, wie wir Kontakt mit Ihnen aufnehmen sollten.«

»Was ist passiert?«

»Am Donnerstagabend – «, Sofia sah Magda an. Magda nickte ihr zu.

» – sind sie gekommen.«

»Wer sind ›sie‹?«

»Ein paar Männer. Sie hatten Gewehre dabei. Oder vielleicht auch keine Gewehre. Waffen. Wir haben sie gehört. Es war noch nicht dunkel. Sie haben Javier raus auf die Straße geschleift. Sie haben alle Männer aus dem Viertel zusammengetrieben. Sie müssen nach jemand Bestimmtem gesucht haben. Also haben sie erst mal alle mitgenommen.«

Magda zündete sich eine Zigarette an. »Sofia wollte sie aufhalten, aber ich habe sie nicht aus dem Haus gelassen.«

Ich nickte und sah Sofia an. »Das war wirklich mutig von Ihnen. Aber die hätten Sie umgebracht.«

»Vielleicht haben sie ja gar niemanden umgebracht.«

»Glauben Sie das?«

Magda blickte auf den Boden sah zu Boden. »Die haben nach jemand anderem gesucht. Das war einfach ein Fehlgriff.«

»Lassen die ihre Fehlgriffe am Leben?«

15

Ich fuhr zum amerikanischen Konsulat. Es war zwar an den Wochenenden geschlossen, aber irgendjemanden traf man dort immer an. Es gelang mir, einen Chauffeur auf mich aufmerksam zu machen, der hinter dem Tor in einem Auto saß. »Ich bin ein Freund von Javier«, schrie ich.

Er kam ans Tor. Ich stellte mich vor. Er nannte mir seinen Namen. Manuel. Er gab mir die Hand. »Javier liest dauernd Bücher von Ihnen«, sagte er.

Ich nickte.

Ich erzählte ihm, was ich von Magda und Sofia erfahren hatte.

Er schüttelte den Kopf.

Er ließ mich herein. Ich saß allein in einem Warteraum. Manuel kam zurück und fragte nach meiner Handynummer. Dann ging er wieder hinaus. Ein paar Minuten später erhielt ich einen Anruf von einem Mann namens Neil, der im Konsulat arbeitete. »Manuel hat mir berichtet, was mit Javier passiert ist. Können Sie mir das Ganze noch einmal erzählen?« Das tat ich. »Oh nein«, sagte er. Ich merkte, dass er eine gewisse Achtung vor Javier hatte – vielleicht spielte auch Sympathie mit hinein. Er erklärte, sie würden ihr Möglichstes tun, um herauszufinden, was mit Javier passiert war. Ich glaube nicht einmal, dass das gelogen war. Aber sie sollten nichts herausfinden.

Das Konsulat erhielt nie irgendwelche Informationen zu Javiers Verschwinden. Und falls doch, wurden die nicht an mich weitergegeben.

Eine Woche lang tat ich nichts anderes als zu suchen. Ich sprach mit Javiers Nachbarn. Niemand sagte mir irgendetwas. Alle hatten Angst. Manche von ihnen bangten selbst um einen Angehörigen, der bei dem Überfall verschwunden war. Einen Sohn. Einen Vater.

Eine Frau gab mir den Rat, nach El Paso zurückzukehren. Y no vuelvas. Nadie sabe nada. Y si saben no te van a decir. Sie hatte recht. Niemand würde mir etwas sagen.

Ich ging zur Polizei.

Dort bekam ich zu hören, sie hätten schon einen Anruf vom Konsulat erhalten und würden nach Javier suchen.

»Wahrscheinlich ist er bloß vor seiner Frau und seinen Verpflichtungen davongelaufen.« Das bekam ich zu hören. Ich machte mir nicht die Mühe, den Polizisten zu erklären, dass ich Javier so nahe stand wie es eine Ehefrau nur könnte. Ich wandte mich an die Zeitungen.

Ich sprach mit Anwälten.

Ich sprach mit Menschenrechtlern.

Ich sprach mit meinem Kongressabgeordneten.

Niemand wollte so richtig mit mir sprechen. Allmählich verstand ich, wie es sich anfühlt, unsichtbar zu sein.

Ich spielte mit dem Gedanken, in der Wüste zu suchen, aber wo in der Wüste sollte ich suchen?

Er war fortgegangen. Javier. Und ich wusste, ich würde ihn nie wiedersehen. Ich war wütend auf mein Herz, das sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, obwohl ich es beschwor, endlich aufzugeben. Ich begann, die Wochenenden in Javiers kleiner Wohnung zu verbringen. Magda und Sofia sagten mir, dass ich mich damit in Gefahr brachte. »Ist mir egal«, erwiderte ich. »Sollen die mich ruhig auch holen.«

Ich rief drei- oder viermal pro Woche beim Konsulat an. Ich ging aufs Polizeirevier und stellte Fragen.

Ich sprach weiter mit Reportern.

Ich schlief in Javiers Bett und träumte ihn ins Leben zurück. Es waren immer die gleichen Träume. Er war glücklich, er war am Lesen. Er berührte mich. Er schlief mit mir. Wir gingen händchenhaltend die Avenida Juárez entlang. Ich erwachte zwischen seinen Büchern und seinen Pflanzen. Immer rief ich seinen Namen, immer wartete ich darauf, dass er mir antwortete.

Ich weinte nie. Fühlte nichts als die Taubheit meines wütenden Herzens.

Ich hörte auf, beim Konsulat anzurufen. Ich hörte auf, bei der Polizei anzurufen. Monate vergingen. Ich hörte auf zu schreiben.

Schließlich hörte ich auf, in Javiers Wohnung zu gehen. Ich hörte einfach mit allem auf. Es war Monate her. Und dann war der Winter zurückgekehrt.

Eines Abends im Dezember rief Magda an. »Kommen Sie vorbei«, sagte sie.

Ich fühlte etwas im Herzen. »Hat man ihn gefunden?«

»Nein«, sagte sie. »Sie müssen aufhören, sich Hoffnungen zu machen.«

Ich nickte in den Hörer.

»Sofia und ich haben etwas für Sie.«

Ich ging zu Fuß von meiner Wohnung bis zur Brücke. Dort nahm ich ein Taxi zum Haus von Sofia und Magda. Sofia bot mir ein Glas Wein an.

Ich nahm das Glas. Magda bot mir eine Zigarette an.

»Nein«, sagte ich. »Das hilft nichts.«

»Es macht mich glücklich, dass Sie ihn so sehr geliebt haben.«

»Mich nicht«, sagte ich. »Was vermag Liebe schon, außer einen unglücklich zu machen?«

»Ohne Liebe wären wir noch unglücklicher.«

Sofia zog etwas aus ihrer Handtasche. Ich sah, was es war. Javiers Uhr. Die Uhr, die sein Vater ihm gegeben hatte. Er hatte sie nie abgenommen.

»Wo haben Sie die gefunden?«

»Ein paar Leute haben mit uns gesprochen.«

»Wer? Wer hat mit Ihnen gesprochen? Wer?«

»Das spielt keine Rolle, Carlos.«

»Doch.«

»Sie dürfen nicht weiter bohren, Carlos.«

»Warum nicht?«

»Das wissen Sie selbst.« Ich nickte.

»Sie haben uns dahin gebracht, wo er war.«

»Sie hätten mich mitnehmen müssen.«

»Wir sind nachts gegangen. Es war riskant.«

»Also ist er – «

»Er ist fortgegangen, um bei den Frauen zu sein. Bei all den namenlosen Frauen, die in der Wüste vergraben sind.«

Ich nickte und dachte: Er ist fortgegangen, um bei seiner Mutter zu sein.

Sie gab mir die Uhr.

Ich merkte, dass ich einen Kuss darauf drückte. Wie banal. Dazusitzen und die Uhr eines Liebhabers zu küssen.

16

Ich erinnere mich nicht mehr an den Moment, als ich Magdas und Sofias Haus verließ.

Ich erinnere mich vage, dass ich durch ein paar halb vertraute Straßen wanderte.

Ich wanderte eine ganze Weile herum.

Irgendwann landete ich im Kentucky Club, am Tresen.

Ich bestellte einen Drink, dann noch einen – und noch einen.

Ich starrte auf Javiers Uhr.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort am Tresen saß und trank und versuchte, nicht nachzudenken. Versuchte, nicht zu hassen. Versuchte, nichts zu fühlen.

Und dann wollte ich nur noch nach Hause. Aber wo war mein Zuhaue?

DIE KUNST DES UBERSETZENS

Es gab diese Momente, in denen ich spürte, dass meine Mutter und mein Vater bei mir waren und ich spürte ihre starren Blicke, als ob sie versuchten, nach einem Sturm die Trümmer zu sichten, um meine Überreste zu finden. Meine Mutter berührte mich, hielt meine Hand, flüsterte Worte, Worte, die ich nicht verstand. Ich hatte das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben über meine Stimme, über meinen Körper. Wenn meine Mutter mir in die Augen sah und mich auf die Stirn küsste, blickte ich in ihr irgendwie vertrautes Gesicht. Ich erkannte den Schmerz in ihren Augen, wenn sie meinen Namen flüsterte, und ich fühlte mich, als wäre ich zu einer einzigen Wunde geworden, der Quelle all ihrer Schmerzen.

Meine Brüder und Schwestern besuchten mich. Ich sah sie an, als wären sie mir völlig fremd. Starrte ihnen in die Augen, hörte ihre Stimmen. Mir war, als müssten sie sich irgendwo in meiner Erinnerung verstecken. Abends im Bett, wenn es dunkel wurde, flüsterte ich ihre Namen und zählte sie an den Fingern auf: Cecilia, Angela, Monica, Alfredo, Ricardo. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Dann wiederholte ich ihre Namen, ein ums andere Mal. Und zählte: Eins, zwei, drei, vier, fünf. Früher einmal musste ich sie geliebt haben, jetzt versuchte ich, mich an diese Liebe zu erinnern, doch da war nichts. Nur ihre Namen blieben und ihre erwartungsvollen Gesichter. Angela sagte immer wieder: Wie konnten die nur? Wie konnten die dir das antun? Wusste sie es denn nicht? Sie war doch acht Jahre älter. Warum wusste sie nicht, wie grausam die Welt war? Nein, nicht die Welt, die Welt war weder grausam noch gut. Aber Jungen wie die – grausam waren doch die, diese Jungen – übersetzten die Welt mit ihren Fäusten, ihrer Wut, mit ihrer Gewalt. Aber was brachte es schon, über all das nachzudenken, nach dem Warum zu fragen, wenn es ohnehin keine Antwort gab?

Und war der Name der Familie denn nicht Guerra? Also Krieg? Und bedeutete das nicht, dass sie zum Kämpfen geboren waren? Aber zum Kämpfen geboren zu sein, bedeutet nicht, auch die Schlachten zu gewinnen. Während ich unablässig die Namen meiner Geschwister wiederholte und dabei jede Silbe auf meiner Zunge spürte, fragte ich mich, was diese Namen bedeuten, ob auch meine Geschwister Narben haben, Narben, die sie vor mir verbergen und vor meinen Eltern verbergen und vor der Welt verbergen. Sollte das nicht vielleicht sogar so sein? Sollten diese Narben nicht verschwiegen und verborgen bleiben? Haben wir nicht alle einen Anspruch auf die Makellosigkeit, die Schönheit und die Vollkommenheit eines perfekten Frühlingstages? Warum nicht? Dies ist Amerika, das glückverheißende Land, und wir waren aus Mexiko gekommen, dem tragischsten Land der Welt. Das einzige Gefühl, das von mir – und solchen wie mir – erwartet wurde, war Dankbarkeit. Die Typen, die mir wehgetan hatten, die sprachen eine andere Sprache, aber das war keine Sprache, die ich verstand, und vielleicht würde ich diese neue Sprache nie verstehen.

Meine Geschwister kamen abends, alle miteinander, ins Krankenhauszimmer, in dem ich lag. Ich gab mir Mühe, gab mir wirklich Mühe, sprach leise mit ihnen, und falls die Worte, die ich sprach, mir selbst nicht so ganz klar waren, was machte das schon, wenn das, was ich sagte, ohnehin nichts bedeutete? Mir war, als wäre es jemand anderes, der Worte in einer fremden Sprache von sich gab. Sie waren lieb, meine Geschwister, so lieb, und sie sagten, ich sähe schon besser aus. Es überraschte mich, dass ich verstand, was sie sagten. Ich lächelte und drückte ihre Hände, wenn sie meine drückten. Ich fragte mich, was sie wohl dachten, weil ich nichts weiter dachte, als dass ich vermutlich für tot gehalten, am Stadtrand von Albuquerque zurückgelassen worden war, an einem warmen Abend, als ich losgegangen war, um einen Brief einzuwerfen. Ich wollte nichts weiter als einen Brief am Postamt einwerfen, dann hatte jemand laut brüllend geflucht, ich war fortgeschleift und getreten worden. Seitdem war alles anders. Und jetzt war ich in einem Krankenhaus, nicht tot, nicht gestorben. Doch etwas in mir war gestorben. Nur kannte ich den Namen für dieses Etwas nicht.

Ich kam mir vor wie ein Anderer. Es verwirrte mich, dass sich alle daran erinnerten, wer ich war. Aber wer auch immer es war, an den sie sich erinnerten – ich wusste, er war verschwunden, und ich glaubte nicht, dass der Junge, den sie liebten, je zurückkommen würde.

Ich betrachtete meinen Vater und berührte sein Gesicht, als wäre ich ein Kind, das zum ersten Mal im Leben einen erwachsenen Mann vor sich sieht. Es war etwas Trauriges im Gesicht meines Vaters, aber auch etwas Hartes und Wütendes. Das Krankenhaus schien an chronischer Stille zu leiden, als wäre jeder Laut aus der Welt verbannt und die Worte und das Lachen nach Mexiko zurückgeschickt worden, während ich gezwungen war, in diesem fremden Land zu bleiben, das mich hasste. Denn das hatten sie gesagt, als ich das Messer spürte, das mir den Rücken aufschlitzte: Warum gehst du nicht dahin zurück, wo du herkommst? Du Wichser, du Arschloch, hau ab, geh zurück. Doch weil ich den Rückweg nicht kannte, war ich gezwungen zu bleiben.

Der Arzt fragte mich, ob ich wisse, wie ich heiße.

Ich begegnete seinem Blick. Versuchte zu bestimmen, ob er real war oder ich gerade nur träumte.

Der Arzt sah mich noch immer an und wartete beharrlich auf meine Antwort.

Ich wollte nicht mit ihm reden. Aber ich beschloss, dass dies kein Traum war und er nicht weggehen würde. »Ja«, sagte ich, »ich weiß, wie ich heiße.«

»Wollen Sie mir Ihren Namen nennen?«

»Kennen Sie ihn denn nicht?«

»Sagen Sie ihn mir einfach?«

»Ich heiße Nick.«

»Und Ihr Nachname?«

»Guerra.«

»Welches Jahr haben wir?«

Ich entschied, dass der Arzt kein böser Mensch war. Dass er nicht wie diese Jungen war. Dass er mir nichts tun würde. Kann sein, dass ich ihn sogar anlächelte.

»Welches Jahr haben wir, Nick?«

»1985.«

Der Arzt nickte lächelnd, und ich fragte mich, ob er einen Sohn hatte.

»Wer ist gerade Präsident?«

Ich schloss die Augen. »Ronald Reagan.«

»Und Vizepräsident?«

»Bush? Ist es Bush? Ist das wichtig?«

Der Arzt lächelte. »Sie haben einen ziemlichen Schock, Nick.«

»Bin ich deswegen hier?«

Der Arzt berührte mich an der Schulter, und ich zuckte zusammen – ein reiner Reflex. »Ganz ruhig«, flüsterte er.

»Hier tut Ihnen niemand etwas zuleide.« Sein Lächeln war so freundlich, dass ich glatt hätte losheulen können. »Sie kommen schon wieder auf den Damm, Nick.«

Ich wollte ihm glauben. Ich schloss meine Augen. Ich wollte schlafen.

Als ich im dunklen Krankenzimmer aufwachte, meinte ich, den Klang meiner eigenen Stimme zu hören. Eine Krankenschwester kam hereingelaufen. Ich sah sie mit fragenden Augen an. »Sie haben geschrien«, sagte sie.

»Oh«, erwiderte ich. »Ich hab Durst.« Sie gab mir ein Glas Wasser.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »dass man Ihnen das angetan hat.«

»Sind Sie sicher, dass ich geschrien habe?«

»Ja.«

»Ich hab geträumt.«

»Woran erinnern Sie sich, Nick?« Es war wieder der Arzt. Und es war nicht mehr Nacht, zum Glück.

»Erinnern Sie sich daran, dass Sie aus dem Krankenhaus Albuquerque hierher verlegt worden sind?«

»Albuquerque?«, flüsterte ich. »Ist das ein englisches Wort?«

Der Arzt sah mich verdutzt an. »Nein, ich glaube nicht.«

»Was bedeutet es?«

»Das weiß ich nicht, Nick.«

Er schwieg einen Moment lang. Seine Augen waren grün und still und ich wusste nicht, was sein Schweigen bedeutete.

»Nick, erinnern Sie sich daran, wie Sie hier angekommen sind?«

»Nein.«

»Woran erinnern Sie sich?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Wissen Sie, in welcher Stadt Sie sind?«

»Daheim.«

»Daheim?«

»In El Paso.«

»Haben Sie das jetzt geraten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wann lassen Sie mich hier raus?«

»Ich mache mir Sorgen um Sie, Nick.«

»Sie haben gesagt, ich käme schon wieder auf den Damm.« Als der Arzt fort war, überlegte ich, was Sorge auf Spanisch hieß. Ich kam nicht auf das Wort. Es war weg. Um Worte von einer Sprache in die andere zu übersetzen, musste man beide Sprachen kennen. Die Sprachen, die ich kannte, gingen mir verloren. Ich fragte mich, ob ich einen Weg finden musste, ohne Worte zu leben.

Als meine Mutter mir erzählte, ich würde entlassen, lächelte ich sie an.

»Wir bringen dich heim«, sagte sie. Ich nickte.

»Warum redest du nicht, Nick?«

»Ich rede doch«, sagte ich.

»Nein, eben nicht.«

Ich erinnere mich an die Fahrt zurück in meine alte Nachbarschaft, an die vertrauten Häuser. Mir war, als sähe ich mich aus dem Auto steigen, sähe mich den sorgsam gepflegten Rasen anstarren. Die Rosen meiner Mutter waren gerade am Blühen, ich fand sie wunderschön und buchstabierte innerlich das Wort wunderschön. Ich hätte gern gewusst, woher es kam und was für ein Träumer es heraus in die Welt geschleppt hatte.

Ich wanderte durchs ganze Haus. Nichts kam mir fremd vor. Ich betrachtete die Bilder an der Wand. Das Foto von mir als kleinem Jungen, auf dem ich ein Osterkörbchen halte und meine Schwester Angela mich küsst.

Ich wollte schlafen. Ich war müde.

Der Verband auf meinem Rücken war weg. Ich fragte mich, ob die Worte, die sie mir in die Haut geschrieben hatten, verschwunden waren – dabei wusste ich ja, dass sie immer noch da waren. Sie würden immer da sein. Dann lachte ich in mich hinein. Was, wenn sie die Worte falsch geschrieben hatten?

Gleich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging es los mit den Anrufen von den Zeitungen. Woher wussten die, dass ich zu Hause war? Ich beobachtete meine Eltern dabei, wie sie sich abmühten, all die hungrigen Fragen zu beantworten. Nein, sie können nicht mit ihm sprechen, ja, es war abscheulich, nein, die Familie hat keinen Kommentar abzugeben, bitte, bitte, nein, nein, beschreiben, wie es uns geht. Beschreiben, wie es uns geht?

Es passte mir nicht, dass meine Eltern mich umsorgten, als wäre ich ein Vogel, der mit gebrochenem Flügel aus dem Ei geschlüpft ist.

Mir entging nicht, dass meine Mutter jedes Mal zusammenzuckte, wenn das Telefon klingelte. Eine Fernsehreporterin erschien an unserer Haustür, Kameramann im Schlepptau, und lächelte meine Mutter, die im Eingang stand, teilnahmsvoll an. »Wir würden gern einen Beitrag mit Ihnen machen«, sagte sie. »Können Sie vielleicht ein paar Worte sagen, für ein kurzes Interview? Möchte vielleicht der Junge etwas sagen?«

»Er heißt Nick«, erwiderte meine Mutter mit angespannter Stimme. »Und er ist ein erwachsener Mann, kein Junge.« Sie machte die Tür zu. Ich sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht und glaubte, sie würde gleich anfangen zu weinen, aber das tat sie nicht, worüber ich froh war, weil ich nicht gewusst hätte, wie ich sie beruhigen sollte. Ich sah ihre Lippen zucken und wusste, dass es meinetwegen war. Als die Reporterin begann, ihren Bericht aufzuzeichnen, wobei ihr unser Haus als Hintergrund diente, sah ich mit stummer Bewunderung meiner Schwester Angela zu, wie sie in den Vorgarten hinauslief, sich das Mikrofon der Reporterin schnappte, in die Kamera schaute und schrie: »Irgendwelche Scheißtypen haben den Rücken meines Bruders als Schultafel benutzt. Wollen Sie wissen, was die ihm auf den Rücken geschrieben haben? Wollen Sie das wissen? Wollen Sie wissen, wie uns zumute ist? Uns ist verdammt noch mal nach Tanzen zumute.« Dann warf sie das Mikro in den Nachbargarten und starrte die Fernsehleute an, bis sie wegfuhren.

Ich beobachtete sie vom Eingang unseres Hauses aus und fragte mich, wie sie sich diesen Zorn zu eigen gemacht hatte. Diese Wut wollte ich für mich, aber in mir war nichts. Ich war wie ein Baum, der seine Blätter in der Mitte des Frühlings verloren hat. Als Angela ins Haus zurückkam, zitterte sie. Ich legte ihr meine Hand auf den Rücken und spürte, wie die Schluchzer durch ihren Körper geschwemmt wurden. Am liebsten hätte ich sie gebeten, mir ihre Tränen zu geben.

Eine Zeitschrift aus Chicago rief an. Ob es möglich sei, mich am Telefon zu interviewen. »Nein«, sagte meine Mutter. Die Reporterin blieb hartnäckig, wollte wissen, wie es mir ging. Ob meine Narben bleiben würden? Ob ich im Herbst ans College zurückkehrte? Ob ich die Täter hasste? Was ich von der Reaktion der hispanischen Gemeinde hielt? Ob ich die Demonstrationen der Schüler und Studenten unterstützte? Meine Mutter hörte sich geduldig all ihre Fragen an – und legte dann auf.

Sie wurden bald Routine, diese Anrufe – Anrufe von Freunden, von Bekannten, von Leuten, die wir nicht kannten, die meisten, um Mitgefühl zu bekunden. Ich fragte mich, ob Mitgefühl ein gutes oder ein schlechtes Wort war. Aber es gab auch andere Anrufe, Anrufe, die mit dem Wort Mitgefühl nichts zu tun hatten. War es nicht so, dass der Junge diesen anderen Jungen etwas getan hatte? Er musste sie provoziert, sie gereizt haben, ihn anzugreifen. Die Jungen hatten doch sicherlich einen Grund dafür. Könnte es nicht sein, dass der Junge eine Art Rassenkrieg anzetteln wollte? Hatte der Junge überhaupt eine Aufenthaltserlaubnis? Was hatte ein Illegaler überhaupt an einer Universität zu suchen?

Ich schlug das Wort illegal nach.

Ein anonymer Anrufer sagte, ich hätte doch Glück gehabt.

»Er ist ja nicht gelyncht worden, oder?«

Mein Vater ließ unsere Telefonnummer ändern.

Aber auch dann warfen sich meine Eltern immer unsichere Blicke zu, sobald das Telefon klingelte.

Alles fühlte sich an, als würde es jemand anderem passieren. Die Zeitungsleute und die anderen Journalisten wollten nicht mit mir sprechen. Nein, sie wollten mit einem Nick sprechen, den es nicht mehr gab. Die Toten konnten nicht sprechen. Wussten diese Leute das denn nicht? Mir kam der Gedanke, dass die Lebenden erschöpft waren vom Gewicht der Worte, die sie mit sich herumschleppen mussten, wohin sie auch gingen.

Ich fühlte mich endlich frei vom Gewicht der Worte. Warum redest du nicht, Nick?

Wenn ich ganz still im Bett lag, dann würde ich mich vielleicht langsam auflösen wie Eis in einem Glas Wasser. Schmelzen, verdampfen, zerfließen. Einfach verschwinden.

Doch das Essen meiner Mutter – der Duft ihres Essens – erinnerte mich daran, dass es nicht immer schlecht war, einen Körper zu haben. Gerade ihre sopas und caldillos und guisados. Knoblauch, Zwiebel, Kreuzkümmel, Koriander, gebratene Chilis. Manchmal erweckten die Düfte, die aus der Küche meiner Mutter drangen, meine Lust aufs Leben.

Geschmack liegt auf der Zunge, bleibt aber für Sprache unerreichbar. Das schrieb ich auf ein Blatt Papier. Dann betrachtete ich das Geschriebene. Und zerriss das Blatt, bis die Worte nicht mehr entzifferbar waren.

Eines Nachts kam meine Mutter in mein Zimmer. Sie setzte sich an mein Bett. »Ich dachte, du würdest lesen«, sagte sie.

»Ich habe keine Lust mehr zum Lesen.«

»Du hast mir mal gesagt, ohne Bücher kannst du nicht leben. Du hast gesagt, du willst die Bedeutung von jedem Wort erlernen, das auf der Welt existiert.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Das muss lange her sein.«

»Nick, so lange ist das nicht her.«

»Jedenfalls interessiert es mich nicht mehr.«

»Worüber hast du nachgedacht?«

»Was?«

Sie küsste mich auf die Stirn. »Als ich ins Zimmer gekommen bin, hast du doch über etwas nachgedacht.«

»Meine Narben.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte.

»Sie bedeuten nicht nur Schmerzen, Nick. Sondern auch Heilung.« Meine Mutter und ich waren uns nicht einig darüber, wie man die Worte auf meinem Rücken übersetzen sollte.

Ich fühlte die lautlosen Tränen über mein Gesicht laufen. Ich ließ mich von ihr in den Schlaf wiegen.

Der Donner weckte mich. Ich hatte wieder den gleichen Traum, von der weißen Sonne, die auf mich herab brannte, dem Blut auf meinem Rücken, violett wie die Messgewänder zur Fastenzeit. Aber das Morgengewitter war stärker als dieser Traum. Ich schlug die Augen auf, hörte die Regentropfen aufs Dach prasseln, roch den beißenden Gestank des durstigen Teers.

Ich fuhr mit den Händen unter mein T-Shirt, befühlte meine glatte Brust. Und erwischte mich dabei, dass ich nach den Narben auf meinem Rücken tastete, der harten, erhabenen Haut. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster. Sah die Pfirsichbäume meines Vaters im Rhythmus des Windes und des Regens schwanken.

Tage, Wochen, Monate nichts als Sonne. Lernen, ohne Wasser zu leben. Ausgedörrtes Land.

Warten.

Und dann dieser Regen.

In meiner Kindheit blieb die ganze Welt stehen beim ersten Klang des Donners. Die Leute traten aus ihren Häusern und lauschten dem einsetzenden Regen, als wäre jeder Tropfen, der zu Boden fiel, das Flüstern eines ihrer Lieben, von den Toten zurückgekehrt.

Ich versuchte, das Bild meiner Geschwister heraufzubeschwören, draußen beim Spielen, ihr Lachen, das im Donnern fast unterging, ihre Körper von Blitzen erleuchtet. Ich sah mich auf sie zu rennen. Dann waren wir zusammen, ich, meine Geschwister, alle am Lachen, glücklich, alle zusammen.

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22 декабря 2023
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