Читать книгу: «Wer die Lüge kennt», страница 2

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Connor war ihre erste große Liebe gewesen. Love at first sight. Ohne zu übertreiben, es hatte sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt. Und die war so heftig, haltlos und hitzig gewesen, wie man sie wohl nur in jungen Jahren erleben konnte, wenn einen das Leben noch nicht enttäuscht hatte, einem das Herz noch nicht gebrochen worden war und man noch nicht schmerzhaft hatte lernen müssen, sich vor den eigenen Gefühlen zu schützen.

Lea hatte sich im ersten Jahr an der Universität in Stirling befunden, als Hauptfächer hatte sie Anglistik und Germanistik gewählt, im Nebenfach hatte sie Psychologie belegt. Connor studierte bereits Computing Science im letzten Semester und war im Rugbyteam der Uni. Sie lief gerade in Begleitung einiger Kommilitoninnen den Flur der Sporthalle hinunter, als er den Kopf aus einer Umkleidekabine steckte und laut fluchend nach jemandem rief. Das Gefühl, das sie in jenem Moment durchflutete, war unbeschreiblich. Es schien ihr, als breite sich eine unglaublich große Portion Schlagsahne rasend schnell in ihr aus, wunderbar cremig geschlagen und mit reichlich Vanillezucker versetzt. Ihr Atem stockte, ihr Herz setzte einen Takt lang aus, und ihre Knie wurden weich, beinahe beängstigend. Dann folgte eine wohlig-warme Freude. Connor sah sie an und zwinkerte ihr zu, bevor die Tür wieder zuging.

Als sie ihre Kommilitoninnen fragte, wer das gewesen sei, grinsten die sie kopfschüttelnd an und rieten ihr, die Finger von ihm zu lassen. Connor Fraser sei in der ganzen Universität bekannt wie ein bunter Hund, in erster Linie nicht etwa wegen seines Rugbyrekords – kein Student hatte damals mehr Dropkicks erzielt als »KC«, Kickin’ Connor Fraser –, sondern seiner Frauengeschichten wegen: Er sei der unumstrittene Campus-Casanova. Die Mädchen hatten Lea gewarnt, nicht einmal daran zu denken, sich auf ihn einzulassen, da er ihr nur das Herz brechen würde. Doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos gewesen. Sie hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich, bis über beide Ohren verliebt, in eine Liaison mit Connor gestürzt. Die Rechnung war vergleichsweise spät gekommen – aber sie war unweigerlich gekommen.

Ihre letzte Begegnung mit Connor hatte tiefe, hässliche Spuren hinterlassen. Und Lea war sich ganz und gar nicht sicher, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war, seiner Bitte um Unterstützung während der bevorstehenden Tagung nachzukommen. Sein Dolmetscher habe einen Unfall gehabt, und er brauche dringend einen Ersatz, hatte er erklärt. Er habe sofort an Lea gedacht, weil doch die Tagung in Berlin stattfinde. Nach einer kleinen Recherche habe er zu seiner freudigen Überraschung festgestellt, dass sie tatsächlich Dolmetscherin geworden war. Nun hoffe er, sie würde ihm und seinem Team aus der Patsche helfen, hatte er gesagt.

Er besaß noch immer the gift of the gab: Connor Fraser hätte Kühltruhen an Eskimos verkaufen können – noch immer hatte er die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen.

Talisker kam aus dem Gebüsch getrottet und sah sie fragend an. Der Schottische Hirschhund hatte ein feines Gespür für ihre Stimmungen und trat ganz nah an sie heran. Lea beugte sich zu ihm hinunter – was allerdings bei seiner Größe keine große Bewegung war – und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Dann machten sich beide auf den Heimweg. Sie hatten es nicht allzu weit, denn Leas Grundstück grenzte an den ehemaligen Mauerstreifen, der nach dem Fall der Grenze zwischen Ost und West ein beliebtes Ausflugsziel am südlichen Berliner Stadtrand geworden war. Es war ganz erheblich zu früh für ihr gelegentliches Antidot Whisky, also würde sie einen starken Tee trinken und sich in ihre Unterlagen vertiefen, um nicht weiter über Vergangenes nachdenken zu müssen. Das wäre jetzt das Richtige. Am Montag würde sie Connor und die Vertreter seiner Delegation zu einem gemeinsamen Abendessen treffen. Sie würde sich wappnen müssen. Und sie musste Martin endlich von ihm erzählen. Heute Abend würde sie mit ihm reden.

Der kalte Wind blies das tote Laub der Bäume am Rande der ungepflegten Rabatten über den asphaltierten Weg und ließ sie erneut frösteln.

3

Der Billigflieger aus Glasgow traf pünktlich um 13.30 Uhr in Schönefeld ein. Ein großer, auffallend gut aussehender Mann mittleren Alters wartete kurz nach der Landung am Gepäckband auf seine Reisetasche. Währenddessen las er auf seinem Smartphone die Nachricht des deutschen Providers über die Kosten für das mobile Telefonieren in Berlin. Als seine große Reisetasche auf dem Gepäckband erschien, hob er sie lässig vom Band, schulterte die passende Burberry-Umhängetasche aus Londonleder und ging zügig zum Ausgang. Connor Fraser sollte am 4. April 48 Jahre alt werden, das sah man ihm aber nicht an, denn er legte großen Wert auf sein Äußeres. Die meisten seiner Freunde in Schottland, auch die erheblich jüngeren, hatten bereits einen Bierbauch und waren in eher jämmerlicher bis würdeloser körperlicher Verfassung. Er würde sich niemals so gehen lassen – no, thank youse! Seit seiner Jugend unterwarf er sich einem rigiden Fitnessprogramm. Fraser trainierte täglich zwei Stunden mit Gewichten und im Schwimmbad seines exklusiven Fitnessstudios im Glasgower West End.

Seit dem kurzen Telefonat hatte er nur wenige Male über E-Mail mit Penthesilea »Lea« Holtkamp kommuniziert, und er war gespannt darauf, sie wiederzusehen. Storm hieß sie seit ihrer Heirat. Doch sie war seit gut anderthalb Jahren verwitwet, wie er wusste.

Fraser ließ am Taxistand galant einer älteren Dame den Vortritt und nahm den alten Daimler, der folgte. Er setzte sich auf die Rückbank mit den abgenutzten schwarzen Ledersitzen und genoss das satte Geräusch, das die schweren Mercedestüren machten, als er und der Fahrer sie zuzogen. Das klang nach Qualität, und auf Qualität legte Fraser allergrößten Wert.

Oscar Wilde soll gesagt haben, Fußball sei eine von Raufbolden gespielte Gentleman-Sportart und Rugby eine von Gentlemen gespielte Raufbold-Sportart. Dieses Bonmot sagte Fraser ungemein zu, Rugby war sein Sport. Connor Fraser war ein kultivierter Mann, nach seinem IT-Studium hatte er eine Laufbahn beim schottischen CID, dem Criminal Investigation Department, eingeschlagen. Beamte, die sich auf dem neuen Feld der Computertechnologie auskannten, waren damals noch rar gewesen, und er hatte sich zügig einen Namen machen können. Zwei Jahre hatte er bei der Entwicklung einer neuen Falldatenbank mitgearbeitet, die die Basis für die heutige elektronische Datenverwaltung darstellte. Danach war seine Karriere steil bergauf gegangen, sodass er sich seit geraumer Zeit die Rosinen herauspicken konnte. Die erste Tagung der »Task Force for the Prevention of Violent Acts at Football Events” war so eine Rosine. Sie bot überdies endlich den Anlass, nach Berlin zu fliegen, in die Stadt, in der Lea seit zwei Jahrzehnten lebte.

Fraser hatte Lea nicht vergessen können und sich schon vor vielen Jahren eingestehen müssen, dass ihm das niemals gelänge. Es war Zeit, mit der Vergangenheit aufzuräumen. Er musste Lea zeigen, dass sie endlich alles, was gewesen war, überwinden mussten. Connor Fraser, Glasgows erfolgreichster Kriminalermittler und seit vergangenem Jahr Träger der George Medal – er hatte sich zwischen eine Zeugin und die für sie bestimmte Kugel geworfen und dafür die zweithöchste zivile Auszeichnung des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth erhalten –, lehnte sich zufrieden in die Polster des Daimlers zurück. Die Zeit war reif, Lea zurückzuholen.

Thomas Hartmann hatte glücklicherweise keine Ahnung, wie recht er mit seiner Einschätzung von Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz hatte. Das Spurensichern, der Abtransport des Leichnams, die Befragung der Anwohner – all das nahm eine Menge Zeit in Anspruch, und so stand Prinz noch gegen Mittag am Fundort der Leiche von Greta Langner herum und verkniff sich sein Gähnen nicht mehr. Lichterfelde Süd – das war nach Prinz’ Meinung der Arsch der Welt, nur noch übertroffen von Rudow und dem ganzen Ostteil der Hauptstadt. Als gebürtigem Reinickendorfer, der schon seit drei Jahrzehnten in Charlottenburg lebte, missfiel ihm jede Gegend von Berlin, die südlich des Kurfürstendamms und östlich des Schäfersees lag. Schon das an Charlottenburg grenzende Moabit war indiskutabel, bestenfalls ein paar Ecken direkt an der Spree waren seiner Ansicht nach noch bewohnbar.

Jenseits der Bahntrasse vor Prinz lag ein sogenannter sozialer Brennpunkt, eine dieser Wohnsiloanlagen aus den Siebzigern. Diesseits der Trasse zog sich eine Reihe von Schrebergärten entlang, denen gegenüber eine Reihe eklektischer Ein- und Mehrfamilienhäuser stand, für deren optische Einheitlichkeit sich das Bauamt bei der Errichtung offensichtlich nicht interessiert hatte. Da hatte jeder bauen können, wie er wollte. Prinz wusste, dass sich am Ende der Fürstenstraße ein Stadtrandbahnhof befand und kurz dahinter Brandenburg begann. Grundgütiger, hier wollte man wahrlich nicht einmal seinen Hund begraben!

Sein Assistent Harald Fellner trat an ihn heran. »Rolf, wir haben gar nichts. Niemand hat was gesehen, niemand hat was gehört. Die Tote war den Anwohnern durchaus vom Sehen bekannt. Seit sie vor ein paar Monaten in der Gegend auftauchte, soll sie sich jeden Abend um halb acht hier niedergelassen haben, bis sie dann zwei Stunden später wieder loszog. Sie fiel nie unangenehm auf. Und keiner der Anwohner, die wir bisher befragt haben, konnte oder wollte irgendwelche sachdienlichen Angaben machen. Andere Obdachlose konnten wir nicht finden. Die zwei Kollegen, die ich zu der Halle geschickt habe, die Obdachlosen seit einiger Zeit als Unterschlupf dienen soll, haben dort zwar Spuren eines Lagers entdeckt, aber niemanden vorgefunden. Da kommen wir erst einmal nicht weiter. Ich schicke heute Abend eine Streife vorbei, die werden ja wiederauftauchen.«

Prinz seufzte. Warum musste ihm das ausgerechnet heute passieren? Er hatte noch so viel Material durchzuarbeiten, und die Tagung begann schon am Montag. Er war die alltägliche Kripoarbeit leid, die ihm seit so vielen Jahren schlaflose Nächte bereitete, und hatte sich sofort für die Mitarbeit an der paneuropäischen Taskforce gegen Rassismus und Gewalt im Fußball eingetragen. Kriminaldirektor Schneller höchstpersönlich hatte sein Gesuch abgenickt. Die internationale polizeiliche Arbeitsgruppe sollte im Zuge der ersten Tagung diese Woche hier in Berlin mit Vertretern aus Skandinavien, Großbritannien, Polen, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Portugal und Italien gegründet werden. Die Teilnahme der Türkei war noch strittig, aber sicher würden sich die integrationsgeilen Organisatoren durchsetzen, und die Alis würden auch einige Plätze erhalten. Es war besonders wichtig, die Galatasaray- und die Fenerbahçe-Fans unter Kontrolle zu bekommen. Ginge es nach Prinz, bekämen die alle Einreiseverbot in den Schengenraum, dann könnten sie im eigenen Land Randale machen, so viel sie wollen. Bevor er sich so richtig in Rage denken konnte, winkte ihn Lutz Harnack zu sich.

Professor Dr. Lutz Harnack, Berlins Koryphäe der Rechtsmedizin und der an diesem Morgen diensthabende Leiter der KTI 21, der Tatortgruppe, die Spurensuche und -sicherung übernommen hatte, erhob sich neben der Toten. Er streifte die schwarzen Plastikhandschuhe ab und blies etwas wärmenden Atem in seine Hände. Heute sah er noch hagerer aus als sonst. Seine unnachahmliche Frisur ließ die Kapuze seines dünnen, halb offenen Schutzanzugs an der einen Seite ausbeulen, und irgendetwas stimmte nicht mit der dicken Wolljacke, die er darunter trug. Vermutlich war sie wieder einmal falsch geknöpft. Er wirkte irgendwie zerbeult. Doch dass man dieses Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte, begriff selbst Prinz. Harnack genoss höchstes internationales Renommee auf dem Gebiet der forensischen Pathologie, er war ein gefragter Dozent und geschätzter Wissenschaftler.

Sachlich teilte Harnack dem Kollegen vom LKA 1 seine ersten Erkenntnisse mit. »Hauptkommissar Prinz, die Frau ist seit ungefähr zehn bis vierzehn Stunden tot. Genauer kann ich das wie immer erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Sie wurde erstochen, der Stich ging in ihre Lunge. Die Eintrittswunde sieht für mich auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Ich denke, das war kein gängiger Messertyp, aber auch hier weiß ich erst mehr, wenn ich mit dem Mikroskop rangehen kann und nachdem ich sie im CT hatte. Ich mache die Obduktion noch heute Abend, dann haben Sie gleich morgen den Bericht.«

Was haben die sich denn alle so? Das ist doch nun wirklich nicht so eilig, dachte Rolf Prinz. Er würde den Bericht sowieso nicht vor Montagabend lesen, vielleicht auch erst am Dienstag, je nachdem, wie der Begrüßungsabend der Fußball-Taskforce verlaufen würde. Er nickte dem Kollegen von der KT zu und ging zurück zum Dienstwagen. »Football’s coming home, it’s coming home«, summte er leise, während er den Sicherheitsgurt um seinen Leib schnallte und Fellner das Zeichen gab loszufahren.

Nach einem späten Frühstück im Stehen – drei doppelten Espresso mit reichlich Zucker – war Glander wie geplant in sein kleines Agenturbüro in Schöneberg gefahren. Dort hatte er einen längst überfälligen Bericht verfasst, ein paar Rechnungen geschrieben, eine erheblich höhere Summe zur Überweisung angewiesen und einige Mails beantwortet. Anschließend war er zu einem kurzen Mittagessen ins benachbarte »I due Emigranti« gegangen, um dann den frühen Nachmittag damit zu verbringen, Telefonate zu führen, online zu recherchieren und sich über Obdachlosigkeit in Berlin zu informieren. Er sprach mit einer Mitarbeiterin der Berliner Tiertafel e.V., die sich eigentlich in erster Linie um die Tiere mittelloser Menschen kümmerte. Aber die Ehrenamtlichen dort besaßen einen sehr unverstellten Blick auf die Menschen in Not. Was Glander im Zuge des Telefonats erfuhr, war alles andere als erbaulich. Als wohnungsloser Mensch fiel man zügig durch die Maschen des viel gerühmten sozialen Netzes. Und alle anderen Bürger der Stadt blendeten diese Art von Leid gemeinhin aus.

Als Glander das Büro am späten Nachmittag verließ, lagen die Straßen der Hauptstadt bereits in der Dämmerung. Anfang Februar hatte beinahe jeder Berliner das dunkle, kalte und schmuddelige Winterwetter satt. Viele Arbeitnehmer gingen im Dunkeln zur Arbeit und legten auch ihren Heimweg in Dunkelheit zurück, sodass sich nach drei Monaten Düsternis jeder nach dem Frühling sehnte. Licht und sprießendes Grün sorgten in der Hauptstadt alljährlich für eine deutlich spürbare Aufbruchsstimmung. Auch Glander freute sich auf länger werdende Tage und steigende Temperaturen.

Er entschied sich gegen den Weg über die Steglitzer Rheinstraße und die belebte Schloßstraße und nahm die schnellere Route über den Stadtring bis zum Steglitzer Kreisel. Das in den Siebzigerjahren errichtete ehemalige Bezirksverwaltungsgebäude war mit dreißig Stockwerken eines der höchsten Gebäude Berlins und eines der eindrucksvollen Mahnmale mangelnder West-Berliner Bauplanungskompetenz. Glander fuhr wie jedes Mal kopfschüttelnd an dem seit Jahren leer stehenden Betonklotz vorbei. Eklatante Fehlkalkulationen hatten 1974 zur Insolvenz des Bauträgers und zur Einstellung der Bautätigkeiten geführt. Die damaligen Bau- und Finanzsenatoren hatten gutgläubig – man munkelte damals, bewusst zu gutgläubig – eine Bürgschaft für das Projekt übernommen, und der Berliner Senat war auf einem gigantischen Schuldenberg sitzen geblieben. Ein Betrugsverfahren gegen die Architektin war ergebnislos verlaufen, und auch die beiden Senatoren hatten nicht belangt werden können. Allein der damalige Berliner Oberfinanzpräsident war vom Amt suspendiert worden. Er hatte der umstrittenen Architektin beruflich und privat nahegestanden. Der Kreisel wurde dennoch fertig gebaut, die Bezirksverwaltung zog ein, und der kleine Steglitzer Wolkenkratzer wurde zu einem unfreiwilligen Symbol der West-Berliner Baupolitik. Probleme bereitete der Betonriese erneut in den Neunzigerjahren, als festgestellt wurde, dass das Hochhaus asbestverseucht war. Nach einer Vielzahl von Gutachten über Sanierungsmöglichkeiten und einer Reihe von Nutzungskonzepten, von denen keines realisiert wurde, stand der gigantische Schandfleck nun seit dem Jahr 2007 leer. Dadurch waren bis zum vergangenen Jahr weitere Kosten für die Stadt Berlin von über drei Millionen D-Mark entstanden. Die meisten Berliner interessierten sich schon lange nicht mehr für das Schicksal des Steglitzer Kreisels, sie waren nur noch verärgert über den Dilettantismus der Berliner Landesregierung.

Während Glander über den Hindenburgdamm nach Lichterfelde Süd fuhr, überlegte er, ob er tatsächlich wieder gegen Rolf Prinz antreten wollte. Der würde Morden an obdachlosen Frauen keine Priorität einräumen, Glanders Einmischung aber keineswegs kampflos hinnehmen, das war sicher.

Gemeinsam mit Merve würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um die zu erwartende Mauer des Schweigens im Obdachlosenmilieu möglichst zügig zu durchbrechen. Er rief seine Kollegin an. Sie meldete sich nach dem dritten Klingeln.

»Merve Celik.«

4

Merve Celiks Stimme klang wie die eines weiblichen Tom Waits, dabei spielte sie nie Klavier in verrauchten Bars und trank auch keinen Bourbon. Das heisere Timbre der ehemaligen Beamtin des LKA 1 hatte schon für manch eine Überraschung gesorgt, wenn sie ihrem Gesprächspartner nach einem Telefonat erstmals persönlich gegenübergestanden hatte. Die Stimme passte einfach nicht zu der zierlichen Frau, deren schwarze Lockenmähne oft genug schon allein dazu führte, dass Männer aus dem Konzept kamen, wenn sie sie sahen.

»Hallo, Merve, ich bin’s.«

»Martin! Sag mir, dass wir etwas zu tun haben! Ich flehe dich an! Ich befinde mich in der Mein-Kleines-Pony-Hölle! Wenn ich noch eine Mähne bürsten muss, drehe ich durch. Günay hat eine ganze Koppel voll, und sie sind alle pink und lila und glitzern.« Sie seufzte resigniert.

Glander lachte. Merves Nichten Günay und Gülsen wohnten mit ihrer Mutter, Merves älterer Schwester Sevgi, ebenfalls seit Kurzem in einem Haus im Dürener Weg, das Lea ihnen vermittelt hatte. Sevgi hatte im vergangenen Jahr einen lebensbedrohlichen Angriff ihres Ehemanns überlebt, und das Haus glich nun einem Hochsicherheitstrakt. Alle Türen und Fenster konnten mit Rollläden aus stranggepresstem Aluminium verriegelt werden, und Sevgi trug einen Notrufknopf, der ein Signal an Merves Handy schickte, wenn sie ihn betätigte. Obwohl ihr Ex-Mann bis zum Prozess im März in Untersuchungshaft saß und es unwahrscheinlich war, dass seine Freunde sie in dieser Gegend vermuteten, wollte sie für den Fall der Fälle gewappnet sein. Falls Merve einmal nicht in der Stadt war, leitete sie das Notsignal auf das Handy von Glander um. Dem waren Merves Schwester und deren Töchter in den vergangenen Wochen stark ans Herz gewachsen. Auch ihrerseits hatten die beiden Mädchen und ihre Mutter Vertrauen zu ihm gefasst. Manchmal war ihm mulmig bei einer so großen Verantwortung, doch meistens freute er sich vorbehaltlos über diese unerwartete Bereicherung seines Lebens.

Glander fragte Merve süffisant, ob sie auch wirklich entbehrlich sei auf dem Glitzerponyhof ihrer Nichte, damit sie sich mit Thomas Hartmann treffen könne. Erklärend fügte er hinzu: »Er hat einen Fall für uns. Zwei tote obdachlose Frauen im Bezirk. Eine von ihnen wurde an unserem Bahnhof gefunden. Er geht von einem Serientäter aus, der es gezielt auf wohnungslose Frauen abgesehen hat. Prinz ermittelt, weshalb ich denke, dass die Polizei den Täter nicht so schnell ausfindig machen wird und wir den Fall übernehmen sollten.«

Merve schnaubte verächtlich. Sie hatte die letzten sechs ihrer acht Jahre beim LKA unter Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz arbeiten müssen. Und während der sich ein recht gemütliches Leben hinter großen Kaffeetassen und Bergen von Papier gemacht hatte, hatte sie sich die Hacken wund gelaufen und die Finger blutig getippt. Sie allein hatte Angehörige informiert, war Hinweisen nachgegangen, hatte Informanten befragt, das Team koordiniert und die Fälle letztendlich gelöst. Merve Celik hatte keine hohe Meinung von ihrem ehemaligen Vorgesetzten und rupfte nur zu gerne das eine oder andere Hühnchen mit ihm, sobald sich eine Gelegenheit ergab.

»Mit dem allergrößten Vergnügen, Martin! Die Prinzenrolle überlässt die Ermittlungen ohnehin Fellner. Und der schiebt nur noch Dienst nach Plan, bis seine Zwillinge aus dem Gröbsten raus sind – falls er überhaupt bleibt. Der ist ein Vollblutpapa, der wird seines Lebens bei der Mordkommission nicht mehr froh. Jede Wette, dass er bald Innendienst in der Gothaer macht. Was weißt du denn bislang über die Toten?«

In der Gothaer Straße befand sich das LKA 2, Abteilung für Betrugsstraftaten. Glander teilte Merves Einschätzung. Die Zeiten änderten sich. Auch wenn es vielen Arbeitgebern ein Dorn im Auge war – immer mehr Väter wollten miterleben, wie ihre Kinder groß wurden. Als Beamter hatte man da durchaus Vorteile. Und diese würde Harald Fellner die nächsten Wochen nutzen, um sich von der Mordkommission in eine Abteilung versetzen zu lassen, die ihm geregelte Arbeitszeiten, womöglich sogar die Möglichkeit zu Teilzeitarbeit bot.

»Noch nicht viel«, antwortete Glander. »Eine ältere Obdachlose wurde vor zwei Wochen am Bahnhof Lichterfelde Ost aufgefunden, sie wurde erstochen und ihr Leichnam die S-Bahn-Böschung hinuntergeworfen. Die zweite Tote hat man heute Morgen an dem Platz entdeckt, an den sie sich jeden Abend zurückzog. Sie wurde ebenfalls erstochen. Kannst du als Erstes herausfinden, wer die Obduktion übernimmt und wann die stattfindet? Und mach dir bitte Gedanken darüber, ob du ein paar Tage draußen leben kannst. Ich denke, es gibt keinen anderen Weg, um etwas von den obdachlosen Frauen zu erfahren.«

Merve schnaubte gespielt verächtlich. »Mit der Ayshe kann man’s ja machen: sie bei diesem Scheißwetter auf die Straße ziehen lassen … Ich wusste, dieses Emanzipationsgedöns fällt mir irgendwann auf die Füße.« Glander konnte ihr Grinsen förmlich hören. Dann wurde sie ernst. »Ich bin in einer halben Stunde bei euch drüben, und du kannst mir alles Weitere erzählen.«

Glander schüttelte lächelnd den Kopf und beendete das Telefonat. An der Kreuzung zur Wismarer Straße stand er wie immer eine längere Zeit an der Ampel und schickte Thomas Hartmann schnell eine SMS. Er wollte gegen sieben Uhr mit Merve bei ihm sein. Dann überquerte er den Teltowkanal und bog keine zehn Minuten später in den Dürener Weg ein.

Hier sah es aus wie immer: Zeilen mit kleinen, quaderförmigen Reihenhäusern zur Rechten und zur Linken der schmalen, mit Rabatten und hohen Bäumen gesäumten Straße. Das Viertel war in den Sechzigerjahren gebaut worden, und das merkte man ihm an. Gehwegplatten lagen schief, von den Wurzeln der alten Bäume hochgedrückt, an vielen Garagenwänden bröckelte der Putz, und die Gemeinschaftsflächen wurden seit Jahren nur noch notdürftig instand gehalten. Früher hatten sich die Eigentümer selbst um die an ihr Grundstück grenzenden Grünflächen gekümmert. Doch nachdem es zwischen einigen Besitzern zum Zwist über die gemeinsamen Wasseranschlüsse gekommen war, waren diese gekappt worden. Seitdem fühlte sich bis auf wenige Ausnahmen niemand mehr bemüßigt, Wässerung und Pflege der öffentlichen Beete aus eigener Tasche zu finanzieren. Die ausgedünnten Grünanlagen verliehen der Siedlung nun einen eher schmucklosen Eindruck, den auch die bunten Häuserfassaden nicht auflockern konnten. Lea hatte Glander einmal Fotos aus der Anfangszeit der Siedlung gezeigt, als die einzelnen Häuserriegel farblich einem durchdachten Konzept folgten und ein elegantes Bild in Karminrot, Anthrazit und Weiß abgegeben hatten. Niemand wusste mehr, wer wann als Erster sein Haus in einer anderen Farbe gestrichen hatte. Doch bis auf wenige Ausnahmen waren alle Eigentümer nachgezogen und hatten an dem Kessel Buntes mitgewirkt, der sich Glanders Augen nun bot.

Leas Haus verfügte über einen großen Garten, trotz des nachträglich angebauten Wintergartens. Lea hatte das Haus von ihrem Mann geerbt, einem Architekten, dem es wiederum dessen Großmutter hinterlassen hatte.

Glander parkte seinen Audi hinter der rostigen Huddel von Korbinian Schulz – wie Schmalz am Ende, fügte dieser stets hinzu, wenn er sich vorstellte. Schulz war ihr Nachbar aus dem Haus am Anfang der Zeile. Glander lachte kurz auf, als er den neuen Schriftzug auf Schulz’ Heckscheibe las: Keine Kinder mit bescheuerten Vornamen on board.

Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, begrüßte ihn Talisker. Glander konnte sich gerade noch rechtzeitig an der Wand abstützen, um nicht von dem kräftigen Jagdhund umgerissen zu werden. Talisker parierte exzellent und hätte keinen Menschen einfach so angesprungen, aber allein sein Schwanzwedeln war so gewaltig, dass man sich davor in Acht nehmen musste. »Hey, Digger, das nenne ich mal eine Begrüßung! Wo ist Lea?«, fragte Glander den Hund und knuddelte ihn.

Bei der Erwähnung des Namens seines Frauchens drehte sich Talisker um und schickte sich an, die Treppe hinaufzulaufen. Auf der dritten Stufe drehte er sich erneut um und schaute Glander so an, als fordere er ihn auf, ihm zu folgen.

Glander sah sich im Schlafzimmer um. Im Sommer hatte Lea renovieren müssen und dabei auch ihr altes Ehebett ausgetauscht, wofür Glander ihr überaus dankbar war. Das neue Kingsize-Bett aus grau geöltem Sheesham-Holz, das ein kleines Vermögen gekostet hatte, stand nun schräg im Zimmer. Die ursprünglich hellblauen Wände hatte Lea in einem hellen Grau streichen lassen. Der Holzboden war abgeschliffen und weiß geölt und der alte Squint-Wing-Sessel mit einem neuen Stoff mit Distel-Motiv, der schottischen Nationalpflanze, gepolstert. Zu seiner Rechten sorgte eine hängende, üppig wachsende Grünlilie für besseres Raumklima, zu seiner Linken stand eine Designerbogenlampe. An der Wand zum kleinen Ankleidezimmer hingen Drucke von Samuel Peploe und Francis Cadell, zwei der vier schottischen Koloristen, die Eindrücke von der Insel Iona eingefangen hatten. Der Raum vermittelte Ruhe, und Glander fand in ihm so guten Schlaf wie kaum irgendwo anders.

Lea lag auf dem Rücken im Bett, ihre Arme und Beine von sich gestreckt, um sie herum einige Bücher und lose Papiere, die anscheinend aus einem geöffneten Aktenordner am Fußende des Betts stammten. So schlief sie nur, wenn sie erschöpft war. Glander hoffte, sie würde nicht wieder krank werden. Im Dezember hatte sie eine Grippe abwehren können, die sich dann allerdings Anfang Januar umso heftiger wiedergemeldet hatte. Lea war erst seit Kurzem wieder auf den Beinen, und Glander merkte ihr die Schwäche noch an. Sie war erheblich stiller als üblich. Normalerweise quasselte sie bei ihren Lieblingsthemen wie ein Wasserfall. Und Glander genoss es, ihr zuzuhören und sie zu beobachten, wenn sie sich über etwas besonders freute oder in Rage redete. Er hatte noch nie so für eine Frau empfunden, und ihm war unterschwellig bewusst, dass er auch nie wieder so für eine andere Frau empfinden würde. Er war auch nicht scharf darauf. Er wünschte sich inständig, mit Lea alt zu werden. Er hatte sich sogar schon bei dem Gedanken an ein gemeinsames Kind ertappt. Zwar hatte er den erschrocken wieder verdrängt, aber es war das erste Mal gewesen, dass er überhaupt einen derartigen Gedanken gehegt hatte. Lea und Glander waren beide nicht mehr die Jüngsten, doch heutzutage hatte das nichts mehr zu bedeuten.

Glander betrachtete die schlafende Lea voller Sorge und Zärtlichkeit. Leas Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie knapp zwölf Jahre alt gewesen war. Die darauffolgenden Jahre hatte sie bei ihrer Tante Patricia »Patty« in Schottland gelebt. Sie hatte dort ihren Schulabschluss gemacht, studiert und dann die Ausbildung zur Simultandolmetscherin absolviert. Lea hatte Duncans Vater kennengelernt, war recht schnell schwanger geworden und mit ihm zurück nach Berlin in das Haus von Marks Großmutter gezogen, das sie beide aufwendig und mit viel Liebe zum Detail umgebaut hatten. Dann war Mark im vorletzten Jahr an Krebs verstorben, und Duncan war zum Studium nach Kassel gegangen. Als Lea sich gerade mit dem Alleinleben arrangiert hatte, war Glander in ihr Leben getreten – und hatte einiges in ihm durcheinandergebracht.

Lea schien die Ereignisse rund um Glanders letzte Mordermittlungen gut verkraftet zu haben. Doch Glander war zu viele Jahre leitender Kripobeamter gewesen, um nicht zu wissen, dass Gewalt Spuren in der Psyche von Menschen hinterließ, die mit ihr in Berührung kamen. Er hatte mit vielen Opfern und Angehörigen zu tun gehabt, die erst Monate später von den Dingen eingeholt worden waren, die ihnen oder ihren Lieben widerfahren waren. Lea verfügte über gute Grundlagen in Psychologie – sie hatte erst vor Kurzem eine Gasthörerschaft an der Freien Universität in forensischer Psychologie belegt und nahm die Fachstudien sehr ernst –, und sie besaß gutes seelisches Rüstzeug, dennoch sorgte sich Glander um sie.

Sie war eine schöne Frau, auf eine ganz eigene Art, und sie war anders als die Frauen, mit denen Glander bislang Beziehungen eingegangen war. Er war selbst immer wieder überrascht, dass sie nun Teil seines Lebens war.

Leas langes kastanienbraunes Haar hatte sich aus ihrem Haargummi gelöst. Glanders Blick streifte die geschwungene Narbe, die das Messer des Wahnsinnigen im vergangenen Sommer auf Leas linkem Oberarm hinterlassen hatte und die nun langsam verblasste. Sie zog sich wie eine Welle von Leas Schulter bis zu ihrem Ellenbogen und war eine bleibende Erinnerung an Glanders schwersten Ermittlungsfehler. Lea betrachtete ihre Narbe weitaus pragmatischer. Für sie stellte sie ein Mahnmal ihrer Verwundbarkeit dar. Sie nahm die Erinnerung an die Hilflosigkeit, die sie durchlitten hatte, als der Mörder ihrer Nachbarn sie bedroht hatte, als stete Motivation für das Kampfsporttraining, das sie seit dem Herbst mit Merve absolvierte. Lea hatte sich mit Merve und Verve, wie sie es lachend beschrieb, in diese neue Aktivität gestürzt und schon beachtliche Fortschritte gemacht. Als Langstreckenläuferin verfügte sie zwar über eine ausgesprochen gute Grundkondition, die neuen Bewegungsabläufe brachten sie dennoch jedes Mal an die Grenze ihrer Fitness. Sie trainierte mit demselben großen Eifer und derselben Begeisterung, mit der sie alles anging, was ihr wichtig war.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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240 стр. 1 иллюстрация
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9783955522520
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