Читать книгу: «Was den Raben gehört», страница 3

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Auch fachlich hatte die Prinzenrolle, wie man den beleibten Kripobeamten hinter vorgehaltener Hand nannte, eher wenig zu bieten. Dennoch war Prinz bei aller Unfähigkeit ein Meister im Taktieren, die Wendung »Teile und herrsche« hätte auch von ihm stammen können, wenn er zu jener Zeit schon gelebt hätte. Er herrschte jeden an, der ihm in die Quere kam, und teilte nach Möglichkeit niemandem etwas mit, zumal er in der Regel auch nichts mitzuteilen hatte. Merve konnte ein Lied davon singen, und auch Fellner, Prinz’ derzeitiger Kollege, hatte bereits den gramgebeugten Blick, der sich nach ein paar Wochen der engen Zusammenarbeit auf den Gesichtern aller Assistenten des Kriminalhauptkommissars zeigte.

Glander verkniff sich die Antwort, die er Prinz am liebsten gegeben hätte, er wollte den Mann möglichst schnell loswerden, um sich um die Damen Lehmann und dann um Lea kümmern zu können. Sachlich entgegnete er: »Herr Prinz, ich kann nun wirklich nichts dafür, dass hier Überreste von Toten gefunden wurden. Es ist das gute Recht der Hinterbliebenen, mir den Auftrag zu erteilen, der Sache nachzugehen, und das ist übrigens mein Beruf, auch wenn Ihnen das nicht passt. Sie können allerdings gewiss sein, dass ich, wenn ich etwas herausfinde, das Sie selbst nicht in der Lage wären herauszufinden, Ihnen dies selbstverständlich mitteilen werde. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich den weiteren Ermittlungen woanders widmen könnten. Der Hund muss raus.«

Der Hund näherte sich mit seiner Lederleine im Maul und blickte Hauptkommissar Prinz vorwurfsvoll an. Dessen Gesicht nahm das unverwechselbare Rot an, das im gesamten Berliner LKA legendär war. Gleich würde es in ein leuchtendes Purpur übergehen. Er erhob seinen Zeigefinger noch ein letztes Mal, bevor er im Hinausgehen zischte: »Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!«

Fellner folgte ihm auf dem Fuße und drehte sich an der Tür noch einmal grinsend um, bevor er sie leise von außen zuzog.

Glander holte tief Luft und trat dann zu Merve und den beiden Nachbarinnen. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich halte es für das Beste, Sie gehen erst einmal nach Hause und versuchen sich zu beruhigen. Es gibt nichts, das Sie oder wir heute noch tun können.«

Gudrun Lehmann sah ihn traurig an. »Ach, Martin, das ist alles so schrecklich! Werden Sie uns helfen?«

Ihre Schwester Sigrun stimmte ein: »Ja, Martin, Sie müssen uns einfach helfen. Unsere Mutter wurde ermordet, Sie müssen den Mörder finden, bitte, Martin!«

Glander wechselte einen Blick mit seiner Kollegin, die ihm unmerklich zunickte. »Lassen Sie uns eine Nacht darüber schlafen, und wenn Sie möchten, dass wir uns der Sache annehmen, dann werden wir das morgen besprechen, okay? Es gibt, wie gesagt, nichts, das wir heute noch unternehmen können.«

Merve begleitete die beiden Frauen zu deren Haustür und versprach, sich am nächsten Tag bei ihnen zu melden. Anschließend ging Glander mit Merve und Talisker im Schlepptau den Dürener Weg bis zu der Zeile, in der Sevgi wohnte, hinunter und verabschiedete sich von ihr.

»Dann machen wir uns wohl mal Gedanken darüber, wie wir zwei Morde aufklären, die vor beinahe fünfzig Jahren begangen wurden.«

»Geht klar, Partner! Eine Zeitreise in die Sixties, das wird sicherlich interessant. Wir sehen uns morgen. Ruf mich an, wenn ihr so weit seid!« Mit einer militärischen Grußgeste drehte sich Merve um und lief zum Haus ihrer Schwester.

Glander schaute Talisker an. »Das wird alles andere als ein leichter Fall. Hoffentlich lösen wir ihn. Na komm, Digger, jetzt drehen wir erst mal eine Runde, und dann kümmern wir uns um dein Frauchen!«

5
Juni 1964

Annie Lehmann zieht ihren Lippenstift nach und richtet die Naht ihrer Nylonstrümpfe aus. Sie streicht ihren Rock glatt und betrachtet sich kurz im Spiegel. Ihre Kleidung ist alt, aber sauber und gebügelt. Annie hat sich angewöhnt, vormittags eine weiße Schürze zu tragen, die sie gegen Schmutz schützt, falls sich einer der Arbeiter verletzt.

Der Polier hatte ihr Angebot, als Krankenschwester vor Ort zur Verfügung zu stehen, dankend angenommen. Für jede Verletzung, die sie sich ansieht und versorgt, erhält sie einen kleinen Obolus. Und die Baufirma bezahlt ihr Mullbinden, Tupfer, Pflaster, Jod und alles, was sie sonst noch benötigt. Sie hat den Baustellenleiter um Diskretion gebeten, denn sie möchte nicht, dass Ernst früher als nötig von ihrem Zubrot erfährt. Sie fürchtet, dass dem diese Tätigkeit ein Dorn im Auge ist. Dem Polier ist es einerlei, er ist froh, eine Erste Hilfe vor Ort zu haben. Meist wird Annie zu einem Bauabschnitt gerufen, um dort kleinere Schnitte oder Verstauchungen zu behandeln, manchmal kommen die Arbeiter auch bei ihr zu Hause vorbei. Bislang musste noch kein Krankenwagen gerufen werden. Bald wird sie genug Geld zusammenhaben, um mit den Kindern fortzugehen, und es ist eine gute Arbeit. Sie wünscht sich sehr, wieder in ihren Beruf zurückzukehren, doch Ernst will davon in seinem falschen Stolz nichts wissen.

Was hatte Ernst sich nur bei dem Kauf dieses Hauses gedacht? Sie gehören nicht hierher. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, gehört sie nicht zu Ernst. Sie hätte sich nie auf ihn einlassen dürfen. Doch sie hat sich ihr Bett gemacht, und nun muss sie darin liegen.

Am vergangenen Freitag ist er wieder betrunken heimgekommen, dabei haben sie kaum genug Geld, um den Kühlschrank zu füllen und den Kindern ordentliche Kleidung zu kaufen. Gudrun braucht schon wieder ein Paar neue Schuhe, und Sigruns Mantel, den bereits ihre Schwester trug, ist für den Herbst nicht mehr zu flicken. Annie Lehmann ist sich der abschätzigen Blicke der Nachbarn wohl bewusst. Die anderen Kinder halten sich fern von ihren beiden Mädchen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihnen das auffällt. Was soll sie ihnen dann sagen? Holger gluckst in seinem Laufstall fröhlich vor sich hin. Sie betrachtet ihr drittes Kind, das seinem Vater so ähnlich sieht und das sie erst nicht haben wollte. Er darf auf keinen Fall werden wie Ernst: verschlossen, aufbrausend und ein Säufer. Auch wenn sie versteht, dass ihr Schwiegervater dafür verantwortlich ist, stößt es sie immer mehr von ihrem Mann ab. Das Trinken macht ihn bösartig. Sie sieht es kommen: Bald wird auch er ihr wehtun.

Annie Lehmann hat keinen ordentlichen Schulabschluss, die Möglichkeit dazu hatte sich für sie nicht ergeben. Ihr Vater war im Krieg geblieben, und ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben. Annie ist in einem Heim aufgewachsen, das sie früh verlassen musste. Niemand hatte ihre weitere Schulbildung finanziert, deshalb nahm sie eine Arbeit im Krankenhaus an und machte dank der Unterstützung der ihr wohlgesonnenen Oberschwester eine Schwesternausbildung.

Im Krankenhaus lernte sie dann auch Ernst kennen. Er kam mit einer Schnittverletzung aus der Fabrik, und sie kümmerte sich um seinen Verband, nachdem er mit zwanzig Stichen genäht worden war. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen und stand zwei Tage später mit Blumen vor dem Krankenhaus. Er schaute sie an, wie sie noch keiner zuvor angeschaut hatte. Bei ihrer ersten Verabredung roch er nach Alkohol, doch sie ignorierte ihre Bedenken. Wer würde sie denn sonst wollen? Sie heirateten, als Gudrun drei Monate später unterwegs war. Ihr Schwiegervater war außer sich, trieb aber die Hochzeit voran – kein Enkel von ihm sollte als Bastard zur Welt kommen. Ein Mann musste zu seinen Fehlern stehen und die Konsequenzen tragen. Die Verwandtschaft dachte sich ihren Teil, als sieben Monate später das erste Kind geboren wurde. Es lief von Anfang an nicht gut. Ernst steht unter der Fuchtel seines Vaters, und der regiert seine Familie mit reichlich Peitsche und ganz ohne Zuckerbrot. Den Druck kann Ernst nur ertragen, indem er trinkt.

Es klingelt an ihrer Haustür. Als Annie öffnet, steht ein ihr unbekannter Mann vor ihr. Er hat schwarzes volles Haar, eine Locke fällt ihm in die Stirn. Seine Augen sind strahlend blau. Annie ist sofort fasziniert von diesem Gegensatz. Der Mann blutet aus einer Wunde über dem linken Auge. Er sieht sie entschuldigend an.

»Verzeihung – Signora Lehmann? Können Sie mir helfen? Ich bin gefallen. Man sagte mir, Sie seien Krankenschwester.«

Er hat einen Akzent, der sie an den Sommerwind erinnert, der leicht durch die Baumwipfel streicht. Vermutlich ist der Herr einer der italienischen Gastarbeiter auf der letzten Baustelle im Dürener Weg. Wenn er tatsächlich gestürzt ist, denkt Annie, ist Ernst der Regierende Bürgermeister. Nichtsdestotrotz muss seine blutende Wunde versorgt werden, das erkennt sie sofort. Sie bittet ihn herein. »Kommen Sie mit in die Küche! Ich hole kurz mein Verbandszeug und etwas, um die Wunde zu desinfizieren.« Sie drückt ihm eines ihrer Taschentücher in die Hand, die sie immer in ihrer Schürze bei sich trägt. »Hier, halten Sie das unter die Wunde, damit Sie keine Flecke machen!«

Ein paar Minuten später sitzt der Fremde auf ihrem Küchenhocker. Während sie seine Wunde abtupft, zuckt er leicht zusammen. »Ich bin gleich fertig, es ist nicht ganz so schlimm. Wollen Sie mir sagen, was passiert ist? Wie heißen Sie denn?«

»Vieri, Gennaro Vieri. Ich bin gefallen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe.«

»Herr Vieri, Ihr Auge schwillt an. Das wird ein ganz schönes Veilchen, aber die Wunde muss nicht genäht werden. Ich nehme an, Ihr Kollege hält gerade seine Hand unter kaltes Wasser. Gab es Streit?«

»Ich bin gefallen.« Vieri seufzt. »Es gibt immer Streit. Sie mögen uns nicht.« Er zögert und sieht zu ihr auf, er hat lange dunkle Wimpern. »Obwohl sie uns gar nicht kennen.«

Annie Lehmann hat es oft genug gehört. Ihr Schwiegervater nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Gastarbeiter geht, die seit einigen Jahren nach Deutschland kommen. Sie nähmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg, und keine deutsche Frau sei sicher vor ihnen – das sind seine ewigen Tiraden. Er nennt sie die Itacker und die Kanaken, das Kroppzeug. Laut seien sie alle, sie stänken nach Knoblauch, und Manieren habe keiner von denen. Annie denkt nicht oft über die Situation der Gastarbeiter nach, aber sie hat stets den Eindruck, dass sie genau diejenigen Tätigkeiten ausüben, die die meisten deutschen Arbeiter gar nicht machen wollen. Hatte nicht auch der Kanzler erklärt, dass das Land dringend Arbeitskräfte aus dem Ausland brauche? In Westdeutschland arbeiten sie im Bergbau, und hier in Berlin sind sie in den Fabriken von Siemens, Telefunken oder AEG am Fließband tätig, bei der Müllabfuhr oder auf dem Bau beschäftigt, wie dieser Mann vor ihr. Allerdings wirkt Gennaro Vieri nicht so ungebildet wie die Mehrzahl der Arbeiter, die in der Siedlung eingesetzt werden.

»Woher kommen Sie denn?«, fragt sie ihn, als sie Jod auf die Wunde tupft und ein Pflaster darüber klebt.

»Aus Neapel. Das liegt direkt am Mittelmeer.«

»Und woher können Sie so gut Deutsch?«

Er lächelt sie an und verneigt sich leicht. »Ma grazie, Signora Lehmann, vielen Dank. Ich habe es in Neapel gelernt. Die Arbeit ist knapp in meinem Land, hier gibt es viel zu tun. Als die neuen Verträge zwischen unseren Ländern geschlossen wurden, hielt ich es für eine gute Idee, Ihre Sprache zu lernen und hierherzukommen, um zu arbeiten.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie uns so ablehnen.«

Annie ist unsicher, was sie dazu sagen soll. Es geht sie ja auch gar nichts an. »Man muss sich eben anpassen …«

Vieri sieht sie voller Empörung an. Annie wird rot.

»Meinen Sie das wirklich? Und wie, denken Sie, muss ich das tun? Ich spreche Ihre Sprache, ich arbeite jeden Tag zehn Stunden, ich bin pünktlich, ich mache meine Arbeit, ich trinke nicht. Es reicht trotzdem nicht aus. Es wird nie ausreichen.« Er blickt zu Boden.

»Herr Vieri, es tut mir sehr leid, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Jeder hat doch Sorgen.«

Vieri erhebt sich. »Ja, Sie haben recht, Signora Lehmann. Bitte verzeihen Sie. Es ist nicht Ihr Problem. Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Nichts, Herr Vieri. Es ist schon gut. Wir sind nicht alle so, wie Sie denken.«

Wieder bohrt sich sein Blick direkt in ihr Innerstes, so fühlt es sich zumindest an. Seine Stimme ist warm und weich, sie lässt Annie an Olivenhaine und Lavendelfelder denken, an das blaue Meer, das sie nur aus Magazinen kennt. Sie möchte, dass er weiterspricht. Doch er nickt ihr nur noch kurz zu und geht hinaus. Annie Lehmann tritt ans Küchenfenster und sieht ihm nach. Er ist mittelgroß und kräftig und läuft aufrecht und zügig. Sie ist beunruhigt und weiß nicht genau, warum. Annie Lehmann räumt das Desinfektionsfläschchen und die verbrauchten Tupfer weg und macht sich daran, das Mittagessen für ihre Kinder vorzubereiten.

6
Advent 2012

Sigrun und Gudrun Lehmann saßen nebeneinander auf dem Dreiersofa ihrer dunkelgrünen kunstledernen Sitzgruppe und blätterten durch ein altes Familienalbum, das auf dem höhenverstellbaren Mahagoni-Couchtisch lag. Der Sitzgruppe gegenüber befand sich ein übergroßer Flachbildfernseher in einer passenden Mahagoni-Schrankwand. Sie hatten die Jalousien hochgezogen, doch draußen herrschte noch das Dunkel der Winternacht. In der Scheibe des Fensters spiegelten sich die beiden Schwestern in ihren auftragenden Morgenmänteln unter dem gebogten, mit Blumenmuster verzierten weißen Store zwischen den Keramiktöpfen der Schamblume, des Safranwurzes, der Glückskastanie und des großen roten Weihnachtssterns wider. Ihre Augen waren mit tiefen Schatten unterlegt, sie hatten in der Nacht keine Sekunde geschlafen und endlos miteinander geredet. Erst früh an diesem Samstagmorgen hatten sie ein paar Stunden unruhigen Schlaf gefunden.

Das Album, gebunden in braunes, abgegriffenes Leder und mit Seiten aus schwarzem Karton, zwischen denen Spinnenpapier die alten Aufnahmen schützte, enthielt Fotos von ihren Eltern und ihnen beiden. Ihre Mutter lächelte auf keinem einzigen Bild, ihr Vater hingegen sah auf jedem Foto aus, als platze er beinahe vor Stolz. Auf den hinteren Seiten klebten Babybilder ihres kleinen Bruders Holger. Das letzte Foto im Album zeigte ihre Mutter vor einem Teller dampfender Spaghetti. Sie lachte in die Kamera. Auch auf der vergilbten Schwarz-Weiß-Aufnahme war zu erkennen, was für eine schöne Frau sie gewesen war, ganz der Typ Grace Kelly. Beide Schwestern konnten sich gut an jenes Mittagessen erinnern, es war das erste Mal gewesen, dass ihre Mutter etwas so Exotisches gekocht hatte. Sie hatten köstlichen Spaß daran gefunden, die langen Nudeln in den Mund zu schlürfen, und sie alle hatten viel dabei gelacht.

Das Album war das einzige, das sie besaßen. Ihr Vater hatte nach dem Verschwinden ihrer Mutter keine Fotos mehr von ihnen gemacht. Es war, als wäre auch er in jenem kalten Winter fortgegangen. Er hatte das Haus noch im Sommer 1965 verkauft, und sie waren in eine Wohnung in einem der Hochhäuser am Ostpreußendamm gezogen. Der Traum vom Häuschen mit Garten hatte nicht einmal ein Jahr gewährt. Nach ihrem Umzug hatten sie auch ihren Großvater nicht mehr gesehen. Ihr Vater hatte den Kontakt zu ihm abgebrochen. Sie konnten sich nur noch vage an den rotgesichtigen älteren Mann erinnern, der immer sonntags zum Mittagessen bei ihnen gewesen war. Das Jugendamt hatte im Sommer 1965 bestimmt, dass der kleine Bruder bei der Tante leben sollte. Die wollte aber die Mädchen nicht aufnehmen. Als die zuständige Sachbearbeiterin des Jugendamts kurz darauf in Rente ging, wurde der Familie kein Interesse mehr entgegengebracht, und Sigrun und Gudrun Lehmann mussten zusehen, wie sie alleine über die Runden kamen. Gudrun übernahm den Haushalt und kümmerte sich, so gut es ging, um ihre kleine Schwester. Gudruns Klassenlehrerin, Fräulein Wolke, griff ihnen unter die Arme und sorgte dafür, dass der Vater die notwendigen Papiere unterzeichnete. Sie holte eine Nachbarin der Lehmanns, eine alleinstehende ältere Dame, ins Boot, die ebenfalls regelmäßig nach den beiden Mädchen schaute.

Ihr Vater trank immer mehr. Ende der Sechziger verlor er seine Arbeit, und für eine Weile war das Geld sehr knapp. Dann starb der Großvater und hinterließ ihnen ein kleines Vermögen. Durch die Unterstützung der älteren Dame von nebenan blieb die Familie zusammen, bis Ernst Lehmann 1976 an Leberzirrhose starb. Nach dem Tod des Vaters kehrte Holger zu den beiden Schwestern zurück. Er war der Tante zu anstrengend geworden. Gudrun war mit beinahe zwanzig mündig – das Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters war Anfang 1975 in Kraft getreten –, und so stand der mittlerweile vierzehnjährige Bruder eines Tages vor ihrer Tür. Die Geschwister kamen nicht gut miteinander aus, Holger schwänzte die Schule und hatte die falschen Freunde. Er geriet ins Visier der Polizei. Einen Sommer lang klaute und dealte er. Als Gudrun davon erfuhr, drohte sie ihm, ihn rauszuschmeißen. Der damals Fünfzehnjährige lachte sie aus, packte seine Tasche und verschwand. Seitdem hatten die beiden Schwestern nie wieder etwas von ihm gehört.

»Wir müssen ihn unbedingt finden. Martin muss nach ihm suchen, er hat doch sicherlich Möglichkeiten, die wir nie hätten. Unsere Annonce blieb ja leider erfolglos. Holger muss doch auch erfahren, dass Mama uns nicht einfach verlassen hat. Er muss die Chance bekommen, seinen Frieden mit ihr zu schließen. Gudrun, wenn ich überlege, wie oft ich sie zum Teufel gewünscht habe … Ich schäme mich so dafür.« Sigrun weinte leise.

Gudrun nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und drückte sie. Sie hatte es immer gewusst. Die Erinnerung an ihre Mutter war verschwommen, doch das Gefühl von Sicherheit, von Wärme und Liebe war tief in ihr Unterbewusstsein eingebrannt. Niemals hätte die Mutter ihre Kinder verlassen. Sigruns Wut war im Laufe der Jahrzehnte in ein schweigendes Verdrängen der Vergangenheit übergegangen, sie hatte jedes Gespräch über die Mutter abgeblockt. Deshalb hatte Gudrun niemals mit ihr über dieses Gefühl geredet.

Ihr Blick fiel auf das letzte Foto im Album. Zum ersten Mal sah sie es deutlich im Gesicht ihrer Mutter, sie erkannte es an deren offenem Blick und ihrem strahlenden Lächeln: Annie Lehmann war verliebt gewesen in den Fotografen dieser Aufnahme.

*

Zwei Häuser weiter hatte sich Lea über Nacht von ihrem grippalen Infekt erholt. Ihre Wunderwaffe hatte die übliche Wirkung gezeigt. Das Fieber war verschwunden, ihr tat nichts mehr weh, und das bisschen Schnupfen machte ihr nicht viel aus. Sie fühlte sich noch etwas schlapp, aber die Aufregung über die Ereignisse des Vortags ließ sie ihre Puddingbeine ignorieren. Martin hatte einen neuen Fall, und dieses Mal würde sie richtig mit einsteigen. Sie stand vor Glander und Merve und hatte ein Glas frisch gepressten Orangensaft in einem Zug geleert.

»Jeder findet die beiden anstrengend und irgendwie seltsam, aber jetzt ist doch auch klar, warum sie so sind. Wir müssen ihnen helfen! Was meint ihr? Martin? Merve?«

Die Angesprochenen saßen mit ihren Kaffeebechern an Leas massivem Esstisch. Merve hielt Lea eine Taschentuchbox entgegen, mit der anderen Hand schob sie den Zucker hinüber zu Glander. Der schaufelte sich drei gehäufte Löffel in seinen dreifachen Espresso.

Lea zog ein Tuch aus der Box und schnäuzte sich laut. »Ach, kommt! Ich weiß doch, dass es euch in den Fingern juckt. Ich werde Margot fragen, ob sie weiß, was damals passiert ist.« Sie hielt inne, musste aber doch nicht niesen. »Noch besser: Ich rede mit dem alten Kowalski, der weiß bestimmt was, denn der war ein Nachbar von der Familie Lehmann. Ich bin sicher, der hat damals viel mitbekommen. Und ich glaube, Hardy Michalke ist hier aufgewachsen, bei dem kann ich auch mal nachfragen.«

Margot Wieland würde sich sicherlich noch gut an das Verschwinden der jungen Mutter erinnern. Sie war Mitte siebzig und sowohl körperlich als auch geistig erheblich fitter als eine Reihe jüngerer Nachbarn. Sie und ihr Mann waren eines der ersten Ehepaare, die ein Haus in der Neubausiedlung Monschauer Weg, so hieß das Eifelviertel offiziell, bezogen hatten.

Merve schüttelte lächelnd den Kopf und sah Glander dabei an. Auch sie hatte die allgemein als kauzig betrachteten Lehmann-Schwestern in ihr Herz geschlossen, seit die ihre beiden Nichten regelmäßig an den Wochenenden mit auf den Reiterhof nahmen. Dieser Fall, bei dem alle Spuren schon kalt waren, wäre keine leichte Aufgabe, aber genau das war es, was sie und Glander daran reizte, das wusste Lea. Der Hilfe von Lutz Harnack konnten sie sich gewiss sein. Er würde auch dieses Mal die Vorschriften ignorieren und Glander die Ergebnisse seiner Tests mitteilen, wenn sie vorlägen. Glander hatte ihr erzählt, dass er den alten Freund in der gemeinsamen Schulzeit einmal aus dem Wannsee gezogen hatte, nachdem die Klassenrowdys ihn mitsamt seinem schweren Ranzen hineingestoßen hatten. Glander war damals schon wie ein Fisch geschwommen und hatte gewusst, dass der Brille tragende Klassenkamerad nicht schwimmen konnte und untergehen würde wie ein Stein, also war er hinterhergehechtet und hatte den prustenden Lutz aus dem Wasser gezogen. Danach hatte es Senge für den Anführer dieses gefährlichen Streichs gegeben, und Lutz hatte fortan Ruhe. Er war seitdem Glanders ergebenster Freund und scherte sich nicht um die innerbehördlichen Regeln, wenn es um Glander ging. Erachtete er es für nötig, fanden seine Ergebnisse den Weg zu seinem alten Jugendfreund und Lebensretter.

Glander öffnete seinen Laptop. »Okay, dann wäre das entschieden, wir helfen den beiden. Lea, du befragst die Nachbarn. Sie sollen dir alles erzählen, an das sie sich erinnern können – vom Verschwinden von Annie Lehmann und von ihrem Eindruck von der Familie. Frag sie auch, ob ihnen irgendwelche Fremde in der Gegend aufgefallen sind. Es ist lange her, aber die Leute waren damals alle relativ frisch hierhergezogen, ich kann mir vorstellen, dass sie sich an diese Anfangszeiten noch gut erinnern. Merve, du durchforstest bitte die Zeitungsarchive und bringst in Erfahrung, ob in der Zeit um das Verschwinden von Annie Lehmann irgendetwas Interessantes vorgefallen ist. Und du suchst den kleinen Bruder. Der war zwar noch keine drei Jahre alt, als seine Mutter verschwand, aber ich möchte ihm trotzdem ein paar Fragen stellen, und die Runen haben uns ja gebeten, ihn ausfindig zu machen. Sie sagten, sie wüssten nicht, wo er sich jetzt aufhält. Der Kontakt sei abgebrochen, nachdem er als Teenager in die falschen Kreise geraten sei. Vielleicht lebt der Kollege noch, der damals die Ermittlungen in der Vermisstensache Annie Lehmann führte, und kann uns seine Eindrücke schildern. Merve, kannst du deine Bekannte aus der Personalabteilung bitten nachzuschauen, ob sich etwas findet? Ich werde mich dann, sobald es geht, mit dem Kollegen treffen. Wie wollen wir den Fall nennen? Merve, du bist an der Reihe, einen Namen auszusuchen.«

Glander und Merve hatten sich dafür entscheiden, ihren Fällen Namen zu verleihen. Fallnummern waren schön und gut, und sie mussten solche auch vergeben – ihre Steuerberaterin bestand darauf –, aber jede Sonderermittlung beim LKA oder BKA bekam einen Namen, und sie gaben nun ihren Fällen auch welche.

Merve überlegte nicht lange. »Rabenmutter. Das ist eines der gemeinsten Wörter der deutschen Sprache. Gudrun Lehmann hat den Begriff gestern mehrfach verwendet, angeblich haben die Nachbarn ihre Mutter damals so genannt. Eine Frau, die ihre drei Kinder einfach so zurücklässt, war ein gefundenes Fressen für die Geier. Gudrun Lehmann sagte mir auch, es hätte ihr jedes Mal wehgetan, wenn sie dieses Wort hörte, denn sie habe nur gute Erinnerungen an ihre Mutter. Sie sei sehr liebevoll gewesen. Genau genommen ist dieses Wort in solch einem Zusammenhang total unpassend. Weibliche Raben sind sehr vorbildlich in der Aufzucht ihres Nachwuchses. Und generell sind diese Tiere sehr erfindungsreich und intelligent. Deshalb müsste die Bezeichnung Rabenmutter eigentlich ein Kompliment sein. Bedenkt man dies, wäre der Begriff wiederum sehr passend, denn Annie Lehmann hat ihre Kinder ja nicht im Stich gelassen.« Mit einem düsteren Blick in die Runde fügte sie sotto voce hinzu: »Sie wurde ihnen genommen …«

Glander nickte bekräftigend. »Also dann: Wir ermitteln im Fall Rabenmutter. Ab jetzt läuft die Uhr, und es werden Belege gesammelt.« Als er Leas zweifelnden Blick bemerkte, zwinkerte er ihr zu. »Keine Sorge, die beiden bekommen Vorzugskonditionen. Wir möchten sie ja noch möglichst lange als Nachbarinnen behalten. Dennoch mache ich gerne alles beim Fiskus geltend, was möglich ist.«

Glander fuhr kurz darauf in seine Agenturräume in Schöneberg und Merve in ihre Wohnung in Kreuzberg. Da Lea zunächst nicht so recht wusste, was sie mit sich anfangen sollte, backte sie Zucchinimuffins. Die ließen sich schnell zubereiten, und das Hantieren in der Küche lenkte sie ab, sodass sie ihre Gedanken sortieren konnte.

Die Nachbarinnen waren wohl bei ihren Pferden, denn als sie ihnen Bescheid geben wollte, dass sich Martin und Merve des Falles annehmen würden, reagierte niemand auf ihr Klingeln. Lea hinterließ ihnen eine kurze Notiz. Anschließend schaute sie im Grundbuchauszug nach, der dem alten Kaufvertrag ihres Hauses beilag, und fand die Namen der Erstbesitzer, die das Haus Mitte der Siebziger an Erwin Bäcker verkauft hatten. An einem Sonntag wollte sie den für ihre kleine Siedlung zuständigen Verwalter nicht mit einem Telefonat belästigen, deshalb schickte sie ihm eine SMS mit der Bitte, sie möglichst zeitnah wissen zu lassen, ob und, wenn ja, wie die Erstbesitzer zu kontaktieren seien. Die müssten weit über achtzig sein, wenn sie noch lebten.

Lea holte die Zucchinimuffins aus dem Ofen, stellte sie zum Abkühlen auf die Arbeitsplatte und brach dann zu ihrer üblichen Mittagsrunde mit Talisker auf. Auf dem Rückweg traf sie auf eine kleine Gruppe von Nachbarn.

In Reihenhaussiedlungen neigen die Bewohner zur Clusterbildung, wenn etwas den Alltag unterbricht, und das Eifelviertel stellte da keine Ausnahme dar. Die Nachbarn standen einmal mehr dicht zusammen, und alle waren sie in warme Mäntel oder Jacken gekleidet. Lea wunderte sich wie jeden Winter darüber, dass fast keiner von ihnen eine Mütze trug. Es war kalt, und der Wind war unangenehm. Ab November war die Beanie ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Garderobe, je nach Winterwetterlage sogar bis in den März hinein. Die älteren Nachbarn schienen für Wind und Kälte am Haupt unempfindlich zu sein.

Zu den Hundebesitzern, denen Lea regelmäßig begegnete, hatten sich auch einige andere Eigenheimbesitzer gesellt. Und Lea war klar, dass sie nicht einfach so an ihnen vorbeigehen konnte.

Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie ihre Freundin Kati Keller in der Menschentraube. Der Tratsch würde deshalb nicht allzu lange dauern. Sie waren beide geübt darin, sich gegenseitig aus derartigen Situationen herauszuhelfen. Madame Bovary, Bo, Katis Irish-Setter-Hündin, schmachtete Talisker an, der zielsicher ihr Hinterteil unter die Lupe nahm. Doch dieses Mal war das nur eine freundschaftliche Begrüßung, wie sie unter Hunden so üblich war. Und da die beiden großen Tiere schon viel Bewegung hinter sich hatten, legten sie sich kurz darauf entspannt nebeneinander aufs Straßenpflaster.

Hartmut, Hardy, Michalke war wie üblich nicht zu überhören. Seine Statur verlieh seiner herrlichen Berliner Schnauze eine kräftige Lautstärke. Er trug einen ordentlichen Kessel vor sich her. Und so mancher Opernsänger hätte nicht wenig für seinen Klangkörper gegeben. »Det muss man sich ma vorstelln! Da lebste jahrzehntelang mit so ’ne Leichen im Kella. Det dit keena jemerkt hat! Det muss man doch jerochen ham! Jenfalls ann Anfang. Ick kann det jar nich jloom. Bei uns inne Siedlung! Det is doch wie auss ’n Fernsehn. Kohl Käs Eifelviertel, oda? Frau Storm, wat sagen Sie denn dazu? Det is doch allet in Ihre Zeile passiat.«

Frau Storm hatte dazu keine Meinung, die sie in dieser Runde hätte mitteilen wollen. Cold Case Eifelviertel traf es allerdings gut. Seit sie ihrem fiebrigen Infekt mit dem schottischen Wasser des Lebens am Vorabend hatte Einhalt gebieten können und wieder erheblich besser beieinander war, hatte sie an wenig anderes als an den grausigen Fund, der zwei Häuser weiter gemacht worden war, denken können. Sie zwang sich zu einer gelassenen Antwort. »Offensichtlich sind manche Häuser solider gebaut worden als andere, Herr Michalke …« Den Rest des Gedankens ließ sie bewusst in der Schwebe. Die Häuser im kleinen Eifelviertel waren zwar in zwei verschiedenen Bautypen baugleich, dennoch gab es große Unterschiede in der Lärmdurchlässigkeit. Lea hatte einmal mit Margot Wieland über dieses Phänomen gesprochen, und die hatte nur gelacht und trocken gemeint, dass man beim Innenausbau in vielen Bauabschnitten offensichtlich nicht immer das gleiche Maß an Genauigkeit an den Tag gelegt habe. Die Pläne der Architekten hatten selbstverständlich Luftschichten zwischen den Brandmauern vorgesehen. Wenn aber, aus welchem Grund auch immer, ein Mauerstein aus dem oberen Stockwerk heruntergefallen und auf halbem Weg zwischen den Mauern stecken geblieben war, hatte man damals kein Aufheben darum gemacht, sondern unbeeindruckt weitergebaut. Die durch diese Nachlässigkeit erzeugten Lärmbrücken sorgten nun dafür, dass man in manchen der Häuser die Nachbarn husten hören konnte, während man in anderen dazu geneigt war, regelmäßig nachzuschauen, ob nebenan alles in Ordnung war, weil man so gar keine Lebenszeichen von drüben vernahm. Lea hatte Glück, ihre Zeile war solide gebaut. Überdies waren die Nachbarinnen Lehmann selten daheim und gingen generell zeitig zu Bett, sodass es auch abends sehr ruhig im Haus nebenan zuging.

Lea liebte diese Ruhe am Rande der bundesdeutschen Metropole und ganz speziell in ihrer abseits liegenden Ecke der Siedlung. Sie selbst fand es charmant, dass kaum eine der noch vorhandenen Wände im ursprünglichen Teil ihres Hauses ganz gerade war. Aber ihr verstorbener Mann Mark und sie hatten auch viel an dem Haus verändert. Es erinnerte nur noch vage an das Reihenendhaus, das im Frühjahr 1965 fertiggestellt worden war. Sie hatten einen Anbau von der Größe des Hauses und einen L-förmigen Wintergarten an den Süd- und Westseiten hinzugefügt. Mark hatte stützende Mauern durch Stahlträger ersetzen lassen und ihrem Heim dadurch ein offenes, lichtes und weitläufiges Flair verliehen, um das Lea nicht von wenigen Nachbarn beneidet wurde.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
260 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783955522407
Издатель:
Правообладатель:
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