Читать книгу: «Vor der Zeit», страница 2

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Die junge Frau war mir gleich bei meiner Ankunft aufgefallen. Ich war mir nicht sicher, ob es dieselbe Person war, die ich tags zuvor am Strand beobachtet hatte. Plötzlich wandte sie den Kopf in meine Richtung. Hatte sie meine Aufdringlichkeit bemerkt? Ich versuchte ihrem Blick standzuhalten, während sie langsam auf mich zukam.

«Das gibts doch nicht!», rief sie aus, während sie einen Schritt vor mir stehen blieb.

«Anita?»

Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie ein Trugbild loszuwerden. «Dass wir uns hier begegnen?»

Ich glaubte, mich zu erinnern, von ihr geträumt zu haben. «Ich hätte dich kaum wiedererkannt …»

«Es sind seither ja auch mehr als zehn Jahre vergangen.»

«Du hast dir die Haare geschnitten …»

«Schon lange», winkte sie ab und trat auf mich zu.

Die Umarmung fühlte sich vertraut und fremd zugleich an.

«Du kamst mir irgendwie bekannt vor», sagte ich, nachdem ich einen Schritt zurückgetreten war, und es klang wie eine Rechtfertigung.

«Du mir auch.» Sie warf ihr asymmetrisch geschnittenes Haar aus der Stirn. «Aber erzähl, was machst du hier?»

«Was ich hier mache?» Ich sah mich um. «Ferien. Ich mache Ferien, Bildungsreisen und so.»

Sie nickte.

«Und du?»

«Was wohl? Dasselbe wie du. Ich wollte schon lange nach Sizilien.»

Sie verstummte, und ich überlegte, wie ich das Gespräch wieder in Gang bringen konnte.

«Bist du allein hier?», kam sie mir zuvor.

Ich nickte.

Sie warf einen Blick in die Runde. «Wollen wir uns den Park gemeinsam anschauen?»

«Gemeinsam?» Ich sah auf die Anzeige meines Mobiltelefons. Mein Informant hatte schon mehr als zwanzig Minuten Verspätung. «Ja, doch, zusammen machts bestimmt mehr Spaß.»

«Das klingt ja richtig begeistert.»

«Nicht doch. Ich bin einfach ein wenig – konfus»

Sie musterte mich lächelnd. «Komm, gehen wir. Warst du schon im Tempelinnern?»

Ich verneinte, und also stiegen wir die Stufen zum Podium hoch, besichtigten die Überreste der Cella und stolperten in den Trümmern der beiden Tempel F und G herum, bevor wir den Weg zur Akropolis unter die Füße nahmen. Sie lag weiter westlich auf einem Hügel, der zum Meer hin senkrecht abfiel.

Wir setzten uns in den Schatten einer Pinie, tranken aus Anitas Wasserflasche und gaben uns der überwältigenden Aussicht hin.

«Wohnst du auch in Marinella?»

Ich nickte.

«In welchem Hotel?»

Ich verriet ihr den Namen.

«Nicht übel.»

«Ja.» Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund. «Ich dachte, wenn ich schon mal Ferien mache …»

Anita schlüpfte aus den Sandalen und begutachtete ihre Nägel in der Farbe geronnenen Blutes.

Mein Blick schweifte wieder aufs Meer hinaus. «Irgendwo da drüben liegt der unbekannte schwarze Kontinent …»

«Sag mal, hast du dich etwa nicht eingecremt?»

«Eincremen? Wozu?»

«Damit du dich nicht verbrennst zum Beispiel.»

«Ich glaube nicht, dass das nötig ist …»

«Das denkst du jetzt, aber heut Abend wird es dir leidtun …»

Sie griff in ihren kleinen Rucksack und zog eine Tube hervor. «Hier. Mit extra hohem Schutzfaktor für Nordmänner.»

Ich öffnete sie und roch daran.

«Was ist?»

«Ich lieg ja nicht den ganzen Tag in der Sonne.»

«Wie du willst.»

Wir sahen uns die Ruinen der Akropolis an. Beim Anblick der Trümmerhaufen musste ich an meine zweijährige Tochter denken, daran, wie sie die von mir aufgebauten Bauklötze jeweils umgehend wieder zum Einstürzen brachte.

«Gehst du heute noch an den Strand?», fragte Anita, als sich in Marinella unsere Wege trennten.

Ich zuckte mit den Achseln. «Ich werd mich ein wenig hinlegen, glaube ich – hab kaum geschlafen letzte Nacht.»

Sie sah mich mit gespieltem Mitleid an.

«Aber wir können zusammen zu Abend essen», schlug ich vor.

«Gute Idee. Willst du mich gegen sieben abholen?»

Ich nickte, verabschiedete mich und ging zu meinem Hotel, ohne mich noch einmal nach ihr umzusehen.

Die Sonne explodierte am Himmel, transformierte die Vorhänge in holografische Bilder, das Zimmer in eine tausendfach glitzernde Lichtzelle. Ich lag im Bett und wartete, dass die Tabletten zu wirken begannen.

Meine Gedanken kreisten um Anita. Wie viel Zeit vergangen war, seit wir uns kennengelernt hatten. Ich war damals mit einer Geschichte beschäftigt, in die am Rand auch sie verwickelt war. Sie hatte sich in der Folge mit mir angefreundet, sich meine Nachforschungen einverleibt und schließlich für eine aufsehenerregende Reportage verwendet, ohne dass ich dagegen etwas hätte unternehmen können.

Ich drehte mich vorsichtig auf die Seite und winkelte die Beine an. Wann ich wohl das letzte Mal an sie gedacht hatte? Bruchstücke ihrer Biografie stiegen auf – Tochter einer Filipina, aufgewachsen bei Adoptiveltern, einige Semester Publizistik und Germanistik, diverse Reportagen für die Wochenendbeilage einer großen Tageszeitung.

Dass sie zum Vergnügen hier war, glaubte ich nicht. Bestimmt war sie hinter der Sache mit Thelmann her. Ich musste unbedingt herausfinden, was sie darüber wusste.

Ich drehte mich wieder auf den Rücken. Wenn ich die Augen schloss, sah ich Anita. Die neue Frisur stand ihr nicht einmal schlecht. Überhaupt hatte sie sich gut gehalten – wenn ich daran dachte, was die Zeit bei mir an Spuren hinterlassen hatte.

Ich ging zum Vorhang und schloss eine Lücke. Dann legte ich mich wieder hin. Wegen Anita hatte ich meinen Informanten verpasst. Wahrscheinlich hatte er sich verspätet und mich am vereinbarten Treffpunkt nicht vorgefunden. Oder er hatte mich zusammen mit Anita gesehen und war deshalb im Hintergrund geblieben.

Kurz nach sechs erwachte ich. Die Kopfschmerzen waren weg. Dafür brannte mein Gesicht, als wäre es noch immer der Sonne ausgesetzt. Ich stand auf, ging ins Badezimmer und wechselte einen Blick mit meinem Spiegelbild – einem cholerischen Gymnasiallehrer, der kurz davorstand, die Beherrschung zu verlieren.

Pünktlich um sieben fand ich mich vor Anitas Hotel ein. Sie ließ mich eine ganze Weile warten und erschien endlich in einem Sommerkleid, das sich über ihren Knien im Rhythmus ihrer Schritte hob und senkte. Ich registrierte die Blicke der anwesenden Passanten, während sie sich mit maliziösem Lächeln näherte.

«Ein bisschen Schadenfreude kannst du mir nicht verübeln.» Sie hauchte mir drei Küsschen auf die Backen. «Du glühst ja regelrecht!»

«Du siehst aber auch nicht schlecht aus.»

Sie überhörte das Kompliment. «Gehen wir zur Strandpromenade?»

«Ich hab gelesen, dass man hier auch ganz gut isst …»

«Hier? Im Hotel?»

«Im Innenhof – eine Empfehlung meines Reiseführers.»

Sie lachte. «Deines Reiseführers? Den musst du mir mal vorstellen. Aber wenn du darauf bestehst …»

Ich bestand darauf.

«Nehmen wir etwas Wein?», fragte Anita, nachdem wir uns die Speisekarte angesehen hatten.

«Ein Schluck zum Essen, warum nicht», antwortete ich, wohl wissend, dass es dabei nicht bleiben würde.

Anita ertappte mich, wie ich meine Stirn befühlte.

«Es hat dich wirklich bös erwischt», stellte sie fest. «Im Zimmer hab ich eine kühlende Salbe – soll ich sie holen?»

Ich zögerte den Bruchteil einer Sekunde. «Morgen ist es wieder vorbei.»

«Wirklich, kein Problem.» Sie nahm den Zimmerschlüssel aus der Handtasche. «Den muss ich sowieso noch abgeben.»

«Danke, lass gut sein …»

Nachdem wir angestoßen hatten, erkundigte sich Anita, was ich in den vergangenen Jahren denn so getrieben hatte.

Ich nahm einen kräftigen Schluck und kalauerte, dass nach meinem letzten Roman «Alles still» um mich geworden sei. «Ich hab zwar zwei, drei größere Arbeiten fertiggestellt, aber mein Verleger hielt sie allesamt für unverkäuflich.»

Ich merkte, dass in diesen Worten eine Verheißung lag, etwas wie Trost und Hoffnung; aber vielleicht war es auch nur die Wirkung des Weins auf nüchternen Magen, von dem ich mir in dem Moment ein zweites Glas nachschenkte.

Um zu verhindern, dass ich mir Anitas Abriss der letzten Jahre anhören musste, in dem sich Erfolgsmeldungen mit den Taten verantwortungsvoller Erwachsener abwechselten, lenkte ich das Gespräch auf unser gemeinsam erlebtes Abenteuer, darauf, wie wir im Drogen-und Rotlichtmilieu ermittelt und uns in große Gefahr gebracht und dabei die Machenschaften einiger einflussreicher Persönlichkeiten aufgedeckt hatten. Anita zeigte sich dieser heroisierenden Darstellung nicht abgeneigt und begann ihrerseits in Erinnerungen zu schwelgen, ohne freilich unsere amourösen Verwicklungen zu erwähnen.

Je länger der Abend dauerte und je mehr Wein ich trank, desto entschlossener sah ich dem entscheidenden Augenblick entgegen. Als sich Anita mit einem Lächeln entschuldigte und das Publikum für Sekunden von ihren braunen Beinen in Anspruch genommen war, langte ich in ihre Handtasche und nahm den Zimmerschlüssel an mich. Ich wartete einige Sekunden und stieg dann in den ersten Stock. Dort vergewisserte ich mich, dass mich niemand bemerkte, schloss die Tür auf und trat ein. Auf der gehäkelten Decke des Tisches lagen ein Laptop, ein Notizheft und ein Stapel Bücher. Bis auf zwei waren es Leihbücher, Werke mit Titeln wie «Das Zeitalter der Hohenstaufen in Sizilien», «Sizilien im Mittelalter. Das Reich der Araber, Normannen und Staufer» oder das abgegriffene «Die Regentschaft Papst Innozenz iii. im Königreich Sizilien», das Anita wohl antiquarisch erworben hatte. Nach Ferienlektüre sah das nicht aus. Ich nahm das Notizheft zur Hand. Es war zu einem Drittel beschrieben mit einer Schrift, die ich unmöglich entziffern konnte. Mein Blick irrte durch den Raum, als ich Schritte auf dem Gang vernahm. Ich hielt den Atem an. Dann hörte ich Lachen – die Schritte entfernten sich wieder.

Ich ging auf den Nachttisch zu, wo ein weiteres Buch lag: «Stupor mundi: Friedrich der Zweite und das arabische Zeitalter», verfasst von – mein Atem stockte – Ralph Thelmann. Als ich das Buch zur Hand nahm, fiel ein Blatt Papier zu Boden. Ich bückte mich und las es auf. Es handelte sich um jenes Interview mit Ralph Thelmann, das ich zum ersten Mal im «Adler» gesehen hatte. Verflucht, ich lag mit meinem Verdacht genau richtig!

Ich ließ das Blatt sinken. Vom Gang her waren entschlossene Schritte zu hören. Ich überlegte noch, die Tür zu verschließen oder unters Bett zu kriechen – aber es war bereits zu spät. Anita erwischte mich mitten auf meiner Flucht ins Badezimmer.

«Was tust du hier?!»

Ich räusperte mich umständlich. «Weißt du …»

Sie stemmte die Arme in die Hüften. «Du nimmst meinen Schlüssel und spionierst in meinem Zimmer?!»

«Nun ja … Dafür gibt es eine plausible Erklärung …»

«Da bin ich aber gespannt.»

«Es ist …», begann ich, während ich fieberhaft nach einer Ausflucht suchte, «das ist mir nun wirklich sehr peinlich …»

Ihre Haltung, zwar immer noch drohend genug, entspannte sich ein wenig.

«Es geht … um den Sonnenbrand», fiel mir der rettende Gedanke zu. «Dass ich mich schämte, dieses parfümierte Zeug … auf deine Hilfe angewiesen zu sein …»

Ich sah ihr abwartend entgegen.

«Du warst … zu stolz?», sie sah mich ungläubig an.

«So ungefähr, ja.»

Sie begann zu lachen. «So was Verrücktes!»

«Also, ich verzieh mich dann mal …» Ich wollte an ihr vorbei zur Tür zu gehen.

«Moment!», sie lief ins Badezimmer und kam mit einer Tube zurück. «Da, ich schenk sie dir.»

Ich hatte keine Wahl, ich musste mir das Gesicht und – weil Anita darauf bestand – den Nacken einfetten, bis ich roch wie ein Modepüppchen. Dann gingen wir, Anita einen halben Schritt hinter mir, zurück an unseren Tisch im Innenhof.

Als ich am nächsten Tag den Speisesaal betrat, waren die Frühstückszeiten längst vorbei. Ich setzte mich an einen Fensterplatz und blinzelte auf die glitzernde Fläche des Meers hinaus. Ein Kellner servierte mir den Kaffee und zog sich wieder zur Theke zurück, wo er an einen Pfosten gelehnt in sarazenischen Gleichmut verfiel.

Anita und ich hatten nach dem peinlichen Zwischenfall noch einen Streifzug durch die Strandbars unternommen und dabei zu unserer alten Vertrautheit zurückgefunden. Ich hatte erfahren, dass sie noch immer für dasselbe Zeitungsmagazin arbeitete, Mutter einer dreijährigen Tochter und mit einem Greenpeace-Biologen verheiratet war. Das Wissen um ihren tatsächlichen Aufenthaltsgrund hatte mir keine Ruhe gelassen; aber solange sie glaubte, ich sei zur Erholung hier, hatte ich zumindest einen kleinen Vorteil. Nachdem sie gegen drei Uhr schlafen gegangen war, hatte ich noch eine geraume Weile am Strand gestanden und unter der sternfunkelnden Unendlichkeit in meine betäubte Seele hineingehorcht.

Für den späteren Nachmittag war ich mit ihr am Strand verabredet. Die bis dahin verbleibende Zeit wollte ich nutzen, um ihren Wissensvorsprung über das mittelalterliche Sizilien wenigstens in Grundzügen wettzumachen. Ich bestellte einen weiteren Kaffee, setzte mich auf die beschattete Terrasse und begann im Geschichtsteil meines Reiseführers zu blättern. Als die Normannen im elften Jahrhundert Sizilien eroberten, blickte die Insel auf beinahe zweihundert Jahre arabischer Herrschaft zurück. In dieser Zeit war Palermo zu einer bedeutenden Stadt aufgestiegen – ein Begegnungsort von Gelehrten aus Ost und West, Zentrum des kulturellen und geistigen Lebens. Die neuen Herrscher waren klug genug, die Errungenschaften ihrer Vorgänger wie die bestehende Verwaltung beizubehalten. Griechisch, Arabisch und Lateinisch waren Amtssprachen. Bemerkenswert im Zusammenhang mit Thelmanns Ankündigung erschienen mir die «Assisen von Ariano», die Gesetzgebung Rogers des Zweiten, in der nach arabischem Vorbild die Gleichbehandlung von Untertanen verschiedenen Glaubens festgeschrieben war. In diesem Licht, so Thelmann in seinem Interview, sei auch die «streng geheime Zusammenkunft aus hochrangigen Vertretern der drei monotheistischen Religionen» zu betrachten. Der Normannenkönig hatte sich davon entscheidende Impulse versprochen, wie sein Reich, in dem griechische und lateinische Christen, Muslime und Juden lebten und das von Apulien über Sizilien bis nach Nordafrika reichte, in Fragen der Religion zu gestalten sei.

Ich legte den Reiseführer beiseite und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Das viele Lesen hatte mich schläfrig gemacht. Ich beschloss, auf mein Zimmer zu gehen und mich eine Weile hinzulegen.

Anita lag unter einem Sonnenschirm im Halbschatten, stützte sich auf die Ellbogen und las in einem kleinen Buch, das sich beim Näherkommen als Reclamheft herausstellte. Der Sand glühte in der nachmittäglichen Sonne.

Ohne aufzublicken wies sie mir den Schattenplatz neben ihrem Badetuch an. Ich ignorierte den Geruch von Sonnenmilch und erhitzter Haut, breitete mein Badetuch aus und schälte mich aus meinen Kleidern. Als ich bei den Badehosen angelangt war, forderte ich Anita zu einem Sprint ins Wasser auf, aber sie lehnte ab.

«Siehst aus wie eine Leiche», schimpfte sie, als ich etwas später neben ihr Platz nahm.

Ich steckte mir eine Zigarette an. «Was liest du eigentlich?»

«Lessing, Nathan der Weise …», sagte sie mit ihrer immer ein wenig heiseren Stimme.

Ich zeigte ihr meinen Goethe.

«Dieser snobistische Höfling!», zischte sie. «Zu seiner Zeit stöhnte Sizilien unter der Bourbonenherrschaft. Aber für solche sozialen Niederungen interessiert sich der Schöngeist natürlich nicht – mal abgesehen von seiner Anteilnahme am Schicksal einer betrogenen Familie, der er zu helfen vortäuscht, um ein bisschen Milieustudie betreiben zu können.»

«Immerhin hat er den Tourismus gefördert.»

«Du siehst ja, wozu das geführt hat», verwies sie auf das nah gelegene Strandhotel, wo ein Animator eine Gruppe Frauen anstiftete, sich im Rhythmus fröhlicher Popmusik zu verausgaben.

Ich überlegte, ob ich sie mit irgendetwas verärgert hatte. Vielleicht hatte sie mich inzwischen durchschaut und ahnte, dass ich – genau wie sie – wegen Thelmann auf Sizilien war.

Sie begann wieder zu lesen, was ich ebenfalls versuchte. Aber schon nach wenigen Seiten taten mir alle Glieder weh. Ich bewunderte Anita, die in ihre Lektüre versunken war, mal sitzend, mal liegend, immer in den anmutigensten Posen, und dabei vollkommen entspannt wirkte.

Als ich von einem Spaziergang entlang des Uferstreifens zurückkam, war sie in ein Telefongespräch vertieft. Anscheinend sprach sie mit ihrer Tochter; sie erkundigte sich, ob sie auch Gemüse esse und gut schlafe, und war über jeden Ausspruch der Kleinen entzückt. Dann wechselte sie den Tonfall, und ich folgerte, dass sie nun mit ihrem Biologen sprach. Ich wartete, bis sie das Gespräch beendet hatte, und nahm wieder auf meinem Badetuch Platz.

«Ich vermisse sie schon ein wenig», sagte sie auf einmal ganz verändert. «‹Mama, musst du noch lange weit weg sein?›»

Ich räusperte mich und fragte nach ihrem Namen.

«Elena. Sie geht nun seit einiger Zeit auf die Toilette und ist mächtig stolz darauf.»

Ich musste an meine eigene Tochter denken, daran, dass ich keine Ahnung hatte, ob sie Gemüse aß, immer noch in die Windeln machte und ob sie mich allenfalls vermisste.

Anita hielt mir eine Fotografie hin, die sie als Lesezeichen verwendete. Ich studierte den koboldgesichtigen Blondschopf und murmelte etwas, was als Ausdruck begeisterter Anteilnahme aufgefasst werden konnte.

«Wie siehts eigentlich bei dir aus? Möchtest du auch mal Kinder haben?»

«Ich bin bereits Vater», sagte ich, ohne lange zu überlegen.

Anita sah mich verwundert an. «Und das sagst du erst jetzt? Erzähl, wie alt ist es, Mädchen oder Bube?»

Ich begriff, dass ich durch meine Vaterschaft in ihrer Achtung stieg.

«Ein Mädchen, ungefähr drei Jahre.»

«Was heißt hier ungefähr?»

«Sie wird im September drei.»

«Und wie heißt sie?»

Das Mädchen – ich hatte bei der Namensgebung mein Mitspracherecht bereits verwirkt – hieß Jessica-Anastasia.

«Ihr Name ist Hanna.»

«Hanna?! So wollte ich meine Tochter auch nennen – aber Roland meinte, das erinnere ihn an ‹Homo Faber›.»

«Meine Freundin ist zum Glück nicht so belesen …»

«Was macht sie denn? Ich erzähl dir meine ganze Lebensgeschichte, und du verschweigst mir, dass du eine Familie hast!»

Ich genoss es, mit einem Mal als verantwortungsvoller Familienvater dazustehen und verdrängte den fahlen Beigeschmack der Lüge.

«Sie ist in der Modebranche tätig», umschrieb ich den Umstand, dass sie zwei Tage die Woche in einem Kleidergeschäft arbeitete.

«Sie ist sicher sehr schön.»

Vermutlich war sie das. Ich nickte und versuchte, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken.

Als die Sonne sich anschickte, irgendwo in der Straße von Gibraltar unterzugehen, fragte ich, ob wir später zusammen essen gehen wollten.

«Weißt du», Anita wich meinem Blick aus. «Bin dummerweise schon verabredet. Ich treffe mich mit einer Freundin, sie macht in der Nähe Ferien … Aber vielleicht morgen wieder.»

«Ja, klar doch.» Ich hatte auf einmal einen trockenen Mund. «Vielleicht morgen wieder.»

Im Hotel erkundigte ich mich, ob eine Nachricht hinterlegt worden war. Dann kaufte ich an einem Marktstand einen Strohhut und eine dunkle Sonnenbrille und setzte mich in eine Gartenwirtschaft, von der ich Anitas Hotel bequem überblicken konnte.

Kurz vor neun erschien sie auf der Straße, sah sich um und brach in Richtung Strandpromenade auf. Ich folgte ihr unauffällig. Nachdem sie mehrmals die Straßenseite gewechselt hatte, machte sie einen Schwenker und verschwand in einer Seitengasse. Einen Moment lang fürchtete ich, sie verloren zu haben, aber da erblickte ich sie inmitten einer Gruppe deutscher Touristen. Plötzlich wandte sie den Kopf in meine Richtung. Ich trat blitzschnell in einen Hauseingang zurück, wo ich mich einige Sekunden nicht zu rühren wagte. Dann spähte ich vorsichtig hinter der Mauer hervor und stellte fest, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Nach einer Weile ging sie weiter und setzte sich in eine Strandbar. Ich bezog hinter einer schiefen Palme Stellung und wartete.

Nach einigen Minuten tauchte aus der entgegengesetzten Richtung ein Mann auf. Ich traute meinen Augen nicht: Es war Ernst Notter, derselbe Mann, der mich vor zwei Tagen in Palermo abgeholt hatte! Er sah sich um und setzte sich zu Anita. Ich war so nah an ihrem Tisch, dass ich jedes Wort verstehen konnte.

«Und, wie gefällt es Ihnen?», fragte Notter und provozierte mit seinem Gefuchtel den Kellner.

«Ist ganz in Ordnung», sagte Anita trocken.

Sie machten ihre Bestellungen.

Notter fragte: «Haben Sie es ihm ausgerichtet?»

«Soll ich ihn rufen?»

«Rufen?»

«Ja, rufen.»

«Sie meinen anrufen?»

«Nein, ich meine das hier.» Sie drehte sich um und sagte: «Willst du dich vielleicht zu uns setzen?»

Sie sah genau in meine Richtung. Ich warf einen Blick über die Schulter, aber da war niemand.

«Kannst ruhig aus deinem Versteck hervorkommen.» Es klang, als rede sie mit einem ungezogenen Kind.

Ich spielte mit dem Gedanken, mich rückwärts aus dem Staub zu machen; setzte mich dann aber zu ihnen an den Tisch. Notter schien nicht recht zu begreifen, was für ein Spiel wir trieben, und Anita beließ ihn im Glauben, es handle sich um einen Scherz unter alten Freunden.

Ich bestellte ein Bier und versuchte vergeblich, mit Anita Blickkontakt aufzunehmen.

Notter legte sein Smartphone auf den Tisch und sagte an mich gewandt: «Ich nehme an, Frau Felder hat Sie informiert. Wegen gestern.» Weil ich nicht reagierte, sah er von mir zu Anita. «Jedenfalls haben wir heute morgen miteinander telefoniert. Der Informant, den Sie beim archäologischen Park hätten treffen sollen, war leider verhindert. Deshalb habe ich diesen Treffpunkt vereinbart.»

«Wusste ich doch, dass du nicht zum Vergnügen hier bist», raunte ich.

Anita tat, als ob sie mich nicht hörte.

«Es ist der Wunsch Ihres Auftraggebers, dass Sie über Thelmanns Arbeit umfänglich berichten. Mit ihren je eigenen Möglichkeiten als Journalistin beziehungsweise als Verfasser eines Kriminalromans.»

«Kriminalroman», murmelte ich. «Wie stellen Sie sich das vor?»

«Er lässt Ihnen freie Hand. Legen Sie ein besonderes Augenmerk auf die Entführung, ihren Ausgang, die Hintergründe. Ihnen wird schon was einfallen.»

Anita, deren Auftrag vergleichsweise konkret formuliert war, konnte ihren Ärger nur mit Mühe unterdrücken. «Warum erfahre ich erst jetzt, dass ich nicht allein auf die Geschichte angesetzt werde?»

«Sie können sich in Ihren Recherchen doch ein wenig unterstützen. Das hat sich ja, wie ich mir sagen ließ, schon einmal bewährt.»

«Das erklärt noch lange nicht dieses alberne Versteckspiel.»

«Es sollte eine Überraschung sein.»

«Überraschung?»

Notter winkte ab. «Vielleicht kann ich zu einem späteren Zeitpunkt mehr darüber verraten. In dieser Sache ist höchste Diskretion gefordert. Außerdem führe ich zurzeit schwierige Verhandlungen mit Thelmanns Entführern.»

«Haben die sich nun doch gemeldet?», fragte ich.

Notter nickte. «Aber ich kann Ihnen dazu im Moment nichts sagen, ohne die Verhandlungen zu gefährden.» Er warf einen Blick auf sein Smartphone. «Ich werde Sie morgen Nachmittag zur Ausgrabungsstätte fahren, wo Thelmann entführt wurde. Ich denke, das könnte Sie interessieren.»

Er gab Ort und Zeitpunkt bekannt, und ehe wir noch eine weitere Frage stellen konnten, legte er etwas Geld auf den Tisch, entschuldigte sich und verschwand aus unserem Gesichtsfeld. Zurück blieb der Geruch nach Altherrenschweiß und seinem vermutlich unsinnig teuren Aftershave.

Nach einer Weile unbehaglichen Schweigens wandte ich mich an Anita: «Dann wusstest du also schon seit heute morgen Bescheid?»

Sie sah mich an, als hätte sie vergessen, dass ich mit ihr am gleichen Tisch saß.

«Warum hast du mir nichts gesagt?»

Sie zog die Brauen hoch. «Das Gleiche könnte ich dich fragen.»

«Stimmt. Aber warum verschweigst du, dass uns Notter hier treffen will? Du solltest es mir doch ausrichten.»

«Du bist in mein Hotelzimmer eingedrungen, hast in meinen Sachen spioniert!»

Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

Sie beugte sich ein wenig vor. «Du wolltest mich beschatten? Hast du gesehen, wie viele Männer hier Strohhüte tragen?»

Ich sah mich unter den Flanierenden um.

«Siehst du?», sagte sie und wandte sich wieder ab.

Durch eine üppig blühende Parkanlage gelangten wir in das umzäunte Gelände, auf dem sich die kleine Normannenkirche aus dem zwölften Jahrhundert befand. Bereits vom Parkplatz aus hatte ich einen Blick auf den fein ausgestalteten Kubus geworfen, wie er sich da inmitten von Kiefern und Dattelpalmen präsentierte – ein Gebäude wie eine Offenbarung aus Tausendundeiner Nacht mit seinen harmonisch geschwungenen Apsiden, seiner rötlichen Zentralkuppel und dem arabisch anmutenden Maßwerk in den Fensteröffnungen.

Im Innern der Kirche deutete nichts darauf hin, dass darin vor noch nicht allzu langer Zeit Sondierungen vorgenommen worden waren. Ich tat ein paar Schritte auf den glatten Steinfliesen und hob den Blick zur zentralen Kuppel, die auf vier korinthischen Säulen ruhte.

«Vielleicht sind sie unten in der Krypta», sagte Notter, der in der Tür stehen geblieben war.

Wieder im Freien, gingen wir um die Apsiden herum zur Außentreppe, die in einen gemauerten Schacht eingelassen war. Sie war aus demselben rötlich gelben Kalksandstein gefertigt, der dem Gebäude seine charakteristische Farbe verlieh. Wir traten in die von einem Kreuzgewölbe überspannte Gruft, in deren Nischen Grabplatten eingelassen waren. Auch hier war niemand.

Notter trat zurück in den Treppenaufgang, führte ein Gespräch auf seinem Smartphone und ging plötzlich mit hastigen Schritten zur Rückseite der Kirche. Zu unserer Überraschung entdeckten wir dort ein Grabungsfeld, das wir zuvor übersehen hatten.

Der Mann, der uns entgegenkam, stellte sich als der verantwortliche Grabungsleiter vor. Er bat uns unter das Sonnendach, wo auf einer Fläche von vier auf acht Metern systematisch Schicht um Schicht abgetragen worden war. Er wies auf die Fundamente einer Mauer. Notter übersetzte, dass sie vermutlich zu einem basilischen Kloster gehört hätten. Thelmann selbst habe nicht ausgeschlossen, dass an der Stelle der heutigen Kirche bereits eine Moschee gestanden habe, die wiederum auf den Fundamenten einer frühchristlichen Basilika errichtet worden sei.

Neben den Mauerresten waren sie auf Keramikscherben, einige Münzen und zwei Gräber gestoßen. Der Grabungstechniker zog einen Schädel aus einer Klarsichttüte. Er sei kein Anthropologe, sagte er und fuhr zärtlich über die Schädeldecke, der Form nach aber könnte es ein Grieche gewesen sein. Ich betrachtete die gebleckten Zähne und stellte mir vor, wie sie einst von der Zunge des Besitzers unendlich oft berührt worden waren.

Auf Thelmanns Verschwinden angesprochen begann er zu schildern, was an jenem Nachmittag vorgefallen war. Die Entführer seien bewaffnet gewesen und äußerst entschlossen vorgegangen. Trotzdem hätte er sich gewundert, wie bereitwillig Thelmann ihrer Aufforderung nachgekommen sei.

Anita erkundigte sich, inwiefern diese Ausgrabung mit Thelmanns Forschung zusammenhänge.

«Thelmann hat die Grabungen punktuell als wissenschaftlicher Berater begleitet», erklärte Notter.

Auf der Rückfahrt durch die bukolische Landschaft, die von Notters klimatisierter Limousine aus wie eine überbelichtete Vergangenheit erschien, erkundigte ich mich nach dem Stand der Verhandlungen.

«Sie werden darüber mehr erfahren, sobald ich Thelmann wieder freibekommen habe», sagte Notter.

«Haben Sie denn eine Vermutung, wer hinter der Entführung stecken könnte? Geht es um Geld, oder steht die Tat im Zusammenhang mit Thelmanns Arbeit?»

«Auch hier: Ich kann dazu im Moment nichts sagen.»

«Haben Sie denn gar keine Spur?» fragte Anita.

Notter dachte einen Moment nach. «Thelmann erwähnte, dass er nach dem Erscheinen des Interviews anonyme Anrufe erhalten hat.»

«Was war denn der Inhalt dieser Anrufe?», hakte sie nach.

Notter warf einen Blick in den Rückspiegel. «Nichts. Es wurde kein Wort gesprochen. Nur immer irgendso eine arabische Melodie im Hintergrund …»

Am nächsten Tag stand ich rechtzeitig auf, um das Frühstück nicht zu verpassen. Draußen ging das Meer unvermindert gegen den Strand an, die Sonne schien, und es war bereits wieder brütend heiß.

Ich hatte mich kaum angezogen, als es an der Tür klopfte.

«Du musst dich beeilen», sagte Anita. «In einer halben Stunde solltest du ausgecheckt haben.»

Ihr nasses Haar war nach hinten gekämmt in der Art, wie es das Hollywood der frühen Neunzigerjahre für seine starken Frauencharaktere vorgesehen hatte. Ich bat sie herein und ging ins Badezimmer, um mir den Schlaf aus den Augen zu waschen.

«Ich versteh dich nicht – warte einen Moment», rief ich, als ich damit fertig war.

«Also, noch einmal alles der Reihe nach.»

Sie drehte sich zu mir um. «Notter hat mich heute Morgen angerufen. Am Mittag soll in Palermo die Übergabe stattfinden – sie lassen Thelmann gegen Lösegeld frei.»

«Tatsächlich?»

«Er möchte, dass wir ihn begleiten. In einer halben Stunde kommt er uns abholen.»

Sie trug Jeans, Ballerinas und eine fliederfarbene Bluse, und sie sah so entschlossen wie hinreißend aus.

«Warum ruft er eigentlich immer dich an?»

«Keine Ahnung. Am besten fragst du ihn gleich selbst.»

Während das Mittelmeer aus unserem Blickfeld verschwand, dachte ich mit Bedauern, dass ich Anita nun nicht mehr am Strand treffen konnte, und somit die Attraktion meiner verstohlenen Blicke ein Gegenstand der Erinnerung bleiben würde. Die Autobahn entrollte das Inselinnere mit seinen Olivenhainen und einsamen Gehöften, den sonnenverbrannten Weiden und den Agaven, die ihre bizarren Arme beschwörend nach allen Seiten ausstreckten.

Gegen Mittag rückte Palermo näher, und ehe wir uns versahen, steckten wir im wilden Verkehr der Stadt. Notter, der sich offenbar so gut auskannte, dass er sich in dieses Durcheinander aus Vespas, Personenwagen, Bussen, Lastkarren, Pferdekutschen und Fußgängern hineinwagte, fluchte und hupte abwechselnd, während ihm der Schweiß wie flüssiger Wachs über die Stirn lief.

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