Читать книгу: «Das Geschenk der Psychothriller-Parodie», страница 2

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3.

Das Kapitel, vor dem vierten Kapitel

Merlan war keinesfalls der geborene Kriminelle. Wahrscheinlich wäre er im Beruf als Maurer oder Bäcker, der ihm Routine auferlegte, viel besser gewesen. Dazu hatte er noch das ein oder andere Wehweh, das ihn immer wieder in Bedrängnis brachte. Leider war er auch kein großer Kämpfer, sondern gehörte eher zu denen, die Schläge blutend einsteckten.

Aber wie jeder andere Mensch musste auch Merlan sein Geld verdienen. Eine Zeit lang hatte er es aufgrund seines Namens als Zauberer versucht, und war damit recht erfolgreich gewesen. Doch der Bus, den er brauchte, um seine Requisiten, Hasen und Tauben umherzufahren, war eines Tages verschwunden und damit seine Existenzgrundlage. Sicher, er hätte alles neu anschaffen und sich etwas Geld leihen können, doch der Sprung in die Kriminalität war schlicht einfacher. Auch wenn Merlan die Tage vermisste, in denen er nicht Gefahr lief, zusammengeschlagen oder verhaftet und mit Formularen geplagt zu werden.

Pflichtbewusst hatte er seine Wohnung mit der Sturmhaube auf verlassen. Er musste nur noch in das Restaurant gehen, das Geld abkassieren und verschwinden. Er hatte der Frau hinreichend eingetrichtert, sich nicht zu wehren.

Auf dem Weg nach Berlin-Hallensee waren ihm schon mehrere entsetzte Personen entgegengekommen. Weihnachten stand vor der Tür und die Leute umklammerten ihre Einkäufe fester, als sie Merlan kommen sahen. Die meisten zumindest. Eine große Dogge, die mit einer kleinen Frau Gassi ging, bekam es derart mit der Angst, als sie Merlan sah, dass der Hund sein Frauchen schnurstracks hochhob, auf den Arm nahm und hastig davoneilte. Ein Mann blickte von seinem Smartphone auf, zog die Augenbrauen zusammen und knallte frontal gegen einen Laternenmast.

Die Sache verlief alles andere als unauffällig.

Leider liefen jedes Jahr um Weihnachten wieder die Kevin-allein-zu-Haus-Filme im Fernsehen, und gerade Kinder sahen sich dazu ermutigt, jedem potenziellen Ganoven die Stirn zu bieten, in der Hoffnung, sich eine goldene Nase zu verdienen.

Merlan hatte die Sturmhaube gerade wieder hochzogen, um in dem stinkenden Ding nicht zu ersticken, als ein fesch aussehender Junge in Knickerbocker und Schiebermütze vor ihm stand. Er hielt einem Knüppel in der Hand, den er wiederholt in der Fläche seiner anderen Hand niedergehen ließ.

„Wenn haben wir denn da?“, fragte der Junge, der sich einen schwarzen Kreis um das eine Auge geschminkt hatte. „Sind wir etwa auf dem Weg, um etwas Verbotenes zu tun?“

„Äh … äh …“, sagte Merlan. „Nein. Ich will in die Berge zum Skifahren und muss meine neue Maske eintragen, damit sie vor Ort nicht mehr so juckt.“

„Oh, sehr schade. Ich hätte Ihnen gerne diese Broschüre gegeben“, sagte der Junge und zog einen Zettel hervor.

Merlan tat angetan und nickte. Leider konnte er nicht lesen, was da stand. Er war dabei, jemanden zu überfallen, und hatte seine Lesebrille zu Hause gelassen.

„Danke dir“, sagte Merlan. „Ich werde mir die Sache zu Herzen nehmen.“ Er griff nach dem Zettel und steckte ihn sich am Arsch vorbei in die hintere Hosentasche.

Er ließ den Jungen hinter sich und zog weiter. Immerhin war er nicht zum Spaß unterwegs. Es galt, „Frisch aus dem Fett“ um die Tageseinnahmen zu erleichtern. Abschließend würde er schnell zum Penny gehen und einkaufen. Danach hatte er noch einen Friseurtermin.

In seinem Hinterstübchen fragte er sich immer, warum ihm so viel daran lag, Geld zu ergaunern, und nicht einfach von Stadt zu Stadt zog und sich nahm, was er wollte. Ein gratis Einkauf oder Haarschnitt waren nur davon abhängig, wie schnell man rennen konnte und wie weit der nächste Bahnhof entfernt war. Merlan hörte auf, darüber nachzudenken, bevor sein Kopf anfangen konnte zu schmerzen. Er bog um die Ecke, vorbei an Vanessas Kiosk und schlenderte direkt auf das spärlich beleuchtete Restaurant zu, von dessen Neonreklame nur noch einzelne Buchstaben leuchteten, die ein unanständiges Wort ergaben, das wir hier aus Gründen des guten Geschmacks aussparen wollen.1

Er öffnete die Tür, und blickte auf eine Inneneinrichtung, die zweifelsohne schon mehrere Dutzend Pächter überlebt hatte. Mit den verschnörkelten Holztischen bayrischer Art, den chinesischen Schriftzügen an der Wand und Decke, der American Diner-artigen Bar mit Hockern und Küche dahinter und dazu noch einem Fußboden, der aus einem Mischmasch von Teppich, grünen Fliesen und Kork bestand, war nur schwer zu sagen, ob der Besitzer an kompletter Geschmackserblindung litt, oder noch schlimmer, es genau so gewollt hatte. Bevor Merlan jedoch noch weitere Details aufsaugen konnte, hörte er einen lauten dumpfen Knall!

BUMM!

Seine Brust brannte, als hätte man ihm Salzkugeln unter die Haut geschossen.

Eine Frau zielte sie mit einer Schrotflinte auf ihn. Der linke Lauf der Waffe rauchte. Und als sie den Hahn des anderen Laufs spannte, verzog sie den Mundwinkel.

„Gib mir einen guten Grund, dir nicht zwischen die Augen zu schießen“, sagte sie und legte an. Diesmal zielte sie auf Merlans Kopf.

„Ich …“, sagte der und hob den Finger. Blut floss ihm die Brust hinunter. Das Nächste, was ihm einfiel, würde über sein Leben entscheiden.2

1 Mir ist klar, dass Sie beim Lesen dieses Werkes öfters Dinge sagen werden wie „Das hätte man besser weggelassen“. Was ich in weiser Voraussicht getan habe. Bitte sehr, Sie wurden erhört. Ein fortschrittliches Buch ist das hier, finden Sie nicht? Viele Autoren nehmen sich die Kritik ihrer Leser erst Werke später bis gar nicht zu Herzen.

2 Und über Ihr Schicksal schier endlose Rückblendungen zu lesen. Aber wir sind erst am Anfang. Vielleicht hat Merlan einen Zwillingsbruder, Merlon, der genauso aussieht wie er. Vielleicht war Merlon auch die ganze Zeit über Merlan und hat sich für seinen Bruder ausgegeben, weil er ihn in Verruf bringen will. So viele Möglichkeiten. Glauben Sie mir, Sie wollen meiner schier grenzenlosen Fantasie nicht ausgeliefert sein. Es gibt schlimmere Dinge als körperliche Folter.

4.

Das Kapitel nach dem dritten Kapitel

Oder

Ein Haufen Exposition – wussten Sie schon?

25 Monate später

Warum? Darum1

„Zuallererst“, sagte die Beziehungstherapeutin, „möchte ich mich bedanken, dass Sie sich für mich entschieden haben. Ich weiß, es gibt viele Therapeuten in den eBay-Kleinanzeigen, aber ich bin nun mal die günstigste. Wie in der Anzeige beschrieben, möchte ich Sie am Ende der Sitzung lediglich bitten, zwei Tabletten meiner Wahl zu nehmen und sich gegenseitig im Auge zu behalten, was die Symptome des anderen angeht. Sollte jemand sterben, gibt es natürlich das Geld zurück.“

Tabea schaute Merlan verdutzt an. Der lächelte nur doof.

„Aber wir bezahlen Sie ja gar nicht“, sagte Tabea. „Was für Geld bekommen wir dann zurück, wenn jemand stirbt?“

„Also“, sagte die Therapeutin freudig und legte die Hände über ihr Klemmbrett. „Dann wäre alles geklärt. Lassen Sie uns beginnen. Mein Name ist Dr. Simonette Tulpenstein, ich behandele Beziehungsstörungen jeder Art und fahre einen komplett elektronischen Golf. Wenn Sie Freunde haben, die meine Hilfe benötigen, empfehlen Sie mich gerne weiter. Ich kann immer wieder neue Laborratten … ich meine natürlich Patienten gebrauchen.“

Merlan hatte schon beim Betreten des Hauses das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte. Die meisten Arztpraxen waren in schicken Gebäuden und ordentlich eingerichtet. Das hier war eine heruntergekommene Wohnung in Berlin-Kreuzberg, deren Außenwand mit obszönen Graffitis besprüht war. Auch war das keine Praxis, sondern eine normale Wohnung. Frau Dr. Tulpenstein hatte sie gebeten, auf einem abgeschrammelten Sofa in ihrem Arbeitszimmer Platz zu nehmen, in dem es unangenehm nach einer Mischung aus Vanille-Zimt Raumduft und kalten Marihuana-Rauch stank. In der Ecke stand ein Computer. Ein Apple Mac II. Ein Computer so alt, dass die Maus die mit ihm verbunden war, damals als technische Revolution galt. Merlan düngte, die Frau hatte das Gerät nur aufgestellt, damit sie möglichst professionell wirkte.

Es half aber nicht.

Die Paartherapeutin war gekleidet wie ein Hippie, der schlecht gealtert war. Sie trug eine Aladinhose2, ein Batikshirt und eine abnormal riesige Brille aus den Siebzigerjahren. Die Haut in ihrem Gesicht war glatt und rein. Einer dieser Menschen, die viel mehr hermachen würden, wenn man ihnen verbieten würde, sich selber anzuziehen.

„Wie genau haben Sie sich denn kennengelernt?“, fragte die Therapeutin.

„Ach Sie wissen schon, eine dieser Geschichten“, sagte Tabea und gestikulierte, als würde sie vom Stau gestern auf dem Heimweg erzählen. „Er wollte das Restaurant überfallen, in dem ich gearbeitet habe, und ich hab ihm eine heiße Ladung Schrot in die Brust geschossen.“

Die Therapeutin blinzelte irritiert. „Wie bitte?“

„So war es“, sagte Merlan und drückte Tabeas Hand. Auch wenn sie beide noch jung waren, er mit 33 und sie mit 31, das Feuer ihrer idiotischen Liebe brannte lichterloh.

„Sie“, sagte die Frau Dr. Tulpenstein und zeigte auf Merlan, „wollten Ihre Frau ausrauben und Sie haben Ihrem Mann mit einer Schrotflinte in die Brust geschossen?“ Ihr stand der Mund offen.

„Ganz recht“, bestätigte Tabea.

Die Therapeutin presste ihr Klemmbrett fester an sich. „Wie romantisch!“, schwärmte sie. „Da wollten Sie wahrscheinlich gerade Feierabend machen, da kam Ihr Zukünftiger vorbei, wollte Ihnen an die Kasse, aber Sie haben sich gesagt, nix da Freundchen und …“, sie formte eine Waffe mit der Hand. „BAM!“, schrie sie. „Haben Sie ihn über den Haufen geschossen. Sagen Sie, Tabea“, fragte sie und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, „haben Sie ihm die Schrotkugeln selber aus der Brust gezogen?“

„Aber natürlich!“, bestätigte Tabea.

Die beiden Frauen kicherten und klatschten ab. Merlan verstand nicht.

„Hach, so sind sie, die Männer nicht wahr?“, sagte Frau Dr. Tulpenstein. „Man muss sie gleich von Anfang an in ihre Schranken weisen, damit sie wissen, wo sie hingehören.“

„So habe ich es von meiner Mutter gelernt“, sagte Tabea. „Ich habe ihn ins Hinterzimmer gebracht und ihn vor die Wahl gestellt. Entweder er ist von jetzt ab anständig oder ich streue ihm Zitronenextrakt in die Wunden und blase ihm das Hirn mit der zweiten Schrotladung gegen den Kühlschrank.“

„Ach“, sagte die Therapeutin verträumt. „Ich weiß noch, wie ich meinen Mann damals kennengelernt habe. Vor über zwanzig Jahren! Mensch, ist das schon lange her. Er wollte mich im Park überfallen, das Dummerchen. Es war Mitternacht und ich war auf dem Weg durch den Tiergarten zu einer Dinnerparty. Er hatte einen Kinderwagen dabei und war komplett vermummt. Albrik war alleinerziehend, müsst ihr wissen, und verzweifelt. Er konnte sich die Babynahrung und die neue Siedler-von-Catan-Erweiterung nicht leisten, daher wurde er wie so viele brettspielsüchtige alleinerziehende Väter kriminell. Es war Liebe auf den ersten versuchten Totschlag. Ich weigerte mich natürlich, und er stach mir mit dem Messer in die Brust. Ich zog es heraus und steckte es ihm in den Oberschenkel. Ich werde nie vergessen, wie der kleine Jöri in seinem Kinderwagen gekichert hat, als sein Papa vor Schmerzen geschrien hat.“

„Haben Sie ihn auch verarztet, sich in ihn verliebt und nach spätestens einem halben Jahr mit ihm gevögelt?“

„ZING!“, rief Merlan und schnipste mit dem Finger. Dafür boxte ihn Tabea liebevoll in den Bauch.

„Iwo Kindchen“, sagte Frau Dr. Tulpenstein. „Das waren andere Zeiten, damals hat man die Männer nicht gleich wieder aufgepäppelt. Ich habe ihn in den Keller gesperrt, für Jahre. Seinen Sohn habe ich als den meinigen aufgezogen und Albrik erst wieder rausgelassen, als Jöri seinen zehnten Geburtstag hatte. Neun Jahre war er in meinem Keller, das hat ihn vielleicht hörig werden lassen, glauben Sie mir. Ein Mann ist wie eine gute Tasse Tee. Sie müssen ihn ziehen lassen, er muss eine Weile schmoren. Sonst werden diese Kerlchen nur vorlaut und glauben, ihre Meinung hätte mehr Gewicht als eine Briefmarke. Noch heute liest er mir jeden Wunsch von den Lippen ab, und ich schicke ihn regelmäßig in den Keller, um Getränke zu holen. Letzten April habe ich zum Spaß die Türe hinter ihm zugeschlagen, der ist vielleicht erschrocken“, sagte sie und lachte.

Tabea lachte mit.

Merlan überlegte, wie schnell er im Notfall wegrennen konnte.

„So nun aber genug des Geplänkels. Erzählt mir mehr über euch, ich brauche Details. Wo seid ihr aufgewachsen? Welche Schuhgröße habt ihr? Was gibt es für Schmutz in eurer Vergangenheit, mit dem man euch erpressen könnte?“

An gewisse Dinge würde sich Merlan für immer erinnern können, mit anderen war das so eine Sache. Er war in Island aufgewachsen und hatte schon immer darunter gelitten, dass seine Heimat ähnlich dem Lummerland langsam im Meer versank. In seiner Kindheit hatte er sich dreimal den Schädel, zweimal das Bein und einmal die linken Zehen gebrochen. Alles in allem nichts, was sich nicht mit etwas Krankenhaus, einer Tube Uhu Alleskleber und einer kühlen Packung Erbsen heilen ließ. Dennoch, irgendetwas in ihm wollte nicht vor dieser Frau seine privatesten Details auspacken. Es war nicht seine Idee gewesen, diese Therapie zu beginnen. Tabea hatte sich diesen Schritt gewünscht. Etwas musste er jedoch preisgeben, sonst könnte seine Geliebte ihm nachher vorwerfen, er würde die Sache nicht ernst nehmen.

„Mein Elternhaus war schwierig“, fing Merlan an zu erzählen. „Mein Vater war nie sonderlich gut mit Geld, nur wenig davon hat er mit nach Hause gebracht. Ich habe mich immer um ihn gekümmert, und seine achtundzwanzig Meerschweinchen. Er war ein Tiermessie.“

Frau. Dr. Simonette Tulpenstein machte sich eifrig Notizen. „War Ihr Vater spielsüchtig?“

„Nein, nein, er hat das meiste des Geldes immer verloren. Löcher in den Hosentaschen, wissen Sie. Er fand die Idee einer Lohntüte immer so romantisch, war aber immer zu knausrig, um sich die Löcher in den Taschen stopfen zu lassen. Ein Teufelskreis müssen Sie wissen.“

„Schlimm … Schlimm“, bestätigte Frau Dr. Tulpenstein und prüfte auf ihrem Smartphone das Wetter, ohne aufzusehen.

„Leider habe ich nie gelernt“, fing Tabea an, „wie man sich anständig kleidet. Meine Mutter führte einen Secondhand-Store, und ich bekam immer die Ausschussware der letzten Session zu tragen.“

Merlan betrachtete Tabeas Kleider. Heute trug sie einen Cord-Minirock, dazu türkisfarbene Strumpfhosen mit pinken Turnschuhen, die ihr eine Größe zu klein waren, und als Oberteil eine Seemannsuniform. Die gleiche, die sie am Tag getragen hatte, als sie auf ihn geschossen hatte. Er konnte sogar noch Rückstände seines eigenen Blutes erkennen. Er musste dringend mal wieder die Waschmaschine anwerfen.

„Und ich habe eine Tochter, Linda“, sagte Tabea. „Ich bin damals mit vierzehn schwanger geworden. Das war vielleicht eine verrückte Sache! Es war Liebe auf den ersten Blick, aber ich will Sie nicht mit zu vielen Informationen überschütten. Man wird ja immer früh reif, wenn man auf sich selbst gestellt ist. Lindas Vater war bei ihrer Zeugung selber erst zwölf Jahre alt. Es war wirklich schwer, ihn auf Unterhalt zu verklagen, wir waren beide noch nicht volljährig. Es geschah aber alles einvernehmlich, Linda hat regelmäßigen Kontakt zu ihrem Vater, auch wenn der nichts davon weiß.“

„Interessant, interessant“, murmelte die Therapeutin und schien dabei, eine Skizze anzufertigen.

„Wirklich?“, fragte Merlan.

„Ich möchte Ihnen nur ungern die Wahrheit sagen“, gab die Paartherapeutin zurück. „Aber sagen Sie doch. Was hat Sie hierher geführt?“

In diesem Moment juckte Merlans Brust mal wieder. Dass Tabea damals die Schrotkugeln selber herausgezogen hatte, war zwar nett gewesen, doch rückblickend wäre ihm ein Arzt lieber gewesen. Er war sich sicher, dass bis heute ein paar der Kugeln in seiner Brust steckten. Er traute sich nur nicht, etwas zu sagen, weil die Diskussion sicher sofort in „Es hat keiner gesagt, dass du mich überfallen sollst“ umschlagen würde. Und wenn er ins Krankenhaus ging, müssten die die Schusswunde melden und Tabea würde vielleicht ins Gefängnis kommen. Das wollte er nicht.

„Sagen Sie“, begann Frau Dr. Tulpenstein, „warum sind Sie heute hier? Wo liegt das Problem zwischen Ihnen beiden?“

„Meine Frau ist chronisch unzufrieden mit mir“, äußerte sich Merlan mutig.

Der Blick, den er dafür einstecken musste, ließ ihn seine Worte sofort bereuen. Er legte die Ohren an wie ein Hund, der wusste, dass er etwas Böses getan hatte.

„Er verheimlicht mir etwas“, sagte Tabea.

„Ach Liebes“, sagte die Therapeutin und winkte ab, „jeder Mann hat seine Geheimnisse. Wollen wir wirklich wissen, dass er sich um zwei Uhr morgens einen herunterholt und sich dabei Videos von nackten Frauen beim Wandern ansieht? Ich denke nicht.“

„Nein, es ist etwas anderes. Da ist etwas in seinem Leben, etwas Unheimliches, Finsteres. Und ich fürchte, es wird uns beide einholen und verschlucken.“

„Uuuuuuhhhh“, machte die Therapeutin und zappelte geheimnisvoll mit den Fingern, lachte und wurde wieder ernst. „Der größte Schreck im Leben eines Mannes sollte immer seine Frau sein. Es ist deine Aufgabe, alle Gräueltaten und verdorbenen Gedanken deines Mannes zu überschatten, Liebchen. Er ist dein Mann, er gehört dir. Nur weil du ihn gebraucht bekommen hast, sind die Probleme der Vorbesitzer nicht gleich deine, und was immer er an Ballast mit sich herumträgt, hat er gefälligst zu unterdrücken, nicht wahr“, sagte sie und grinste Merlan debil an. „Das ist nicht alles“, sagte die Paartherapeutin fordernd. „Kommt schon. Spuckt es aus. Je länger ihr hier sitzt, desto mehr Tabletten müsst ihr nachher nehmen.“

„Also gut“, sagte Tabea. „Ich habe ihm damals angeboten, mit mir im Restaurant zu arbeiten. Welcher Depp überfällt Leute und verdient so seinen Lebensunterhalt?“

„Es gibt viele ehrliche Kriminelle, die Mord und Totschlag ihre Brötchenarbeit schimpfen!“, wandte Merlan ein.

„Sagen Sie, Merlan, können Sie zaubern?“, fragte die Therapeutin.

„Ist das Ihr Ernst?“, fragte er eingeschnappt. Er hasste diese Frage.

„Merlan hat den Job im Restaurant angenommen“, fuhr Tabea fort. „Ich konnte unseren Chef überzeugen, ihn einzustellen. Er ist jetzt der Koch.“

„Wow“, sagte die Therapeutin und verzog die Lippen. „Hochachtung. Es braucht sicher einiges, die Dose mit dem Salat aufzumachen und die vorpanierten Schnitzel einer Frittenbude ins Fett zu werfen.“

„Sie sind gemein …“, sagte Merlan.

Frau Dr. Tulpenstein zog eine Sprühflasche mit Wasser hervor und sprühte Merlan zweimal ins Gesicht.

„Hey, was soll das denn?“, fragte der und blinzelte wild.

„Regeln, Grenzen, Konsequenzen, junger Mann. Ich lasse in so einem Tonfall nicht mit mir reden. Beschuldigen lasse ich mich von Ihnen gleich gar nicht.“

„Wissen Sie“, sagte Tabea. „Merlan ist hochbegabt. Wie er mit dem Ketchup kleine Gesichter neben die Pommes malt oder die Rosen auf den Tischen so schneidet, dass sie aussehen wie Karotten, zauberhaft. Er ist außerdem ein Schwimmer von olympischen Qualitäten, im Bett ein begnadeter Liebhaber. Er fährt Auto wie Walter Röhrl. Er ist ein guter Zuhörer und er putzt immer fleißig die ganze Wohnung.“

„Man sagt ja, die Liebe macht blind“, sagte die Therapeutin. „Und wo liegt dann das Problem?“

„Er hat ein katastrophales Gedächtnis. Er vergisst alles und das ständig und überall. Es ist ein Wunder, dass er es schafft, sich das Müsli in den Mund und nicht in die Ohren zu löffeln.“

„Ist das so“, sagte Frau Dr. Tulpenstein nachdenklich.

Merlan erinnerte sich an die Unterhaltung, die er und Tabea damals im Restaurant geführt hatten. Sein Gedächtnis driftet des Öfteren auf merkwürdige Weise ab. Sobald Leute mehr als zwei Sätze wechselten, ohne ihn mit einzubeziehen, blickte er nur aufmerksam von Person A zu Person B und verschwand in der Welt in seinem Kopf.

Damals, als sie ihm die Schrotkugeln mit einer Grillzange aus der Brust gezogen hatte, hatte Tabea ihn gefragt, warum ein charmanter Kleinkrimineller wie er nicht längst irgendwo fest angestellt war. Mit Aussicht auf Betriebsrente und Zahnersatz.

Später hatte er nachgeschlagen, wie genau sich das Helfersyndrom definierte, unter dem Tabea zweifelsohne leiden musste. An ihrer Stelle hätte er ein zweites Mal abgedrückt und die Polizei gerufen. Doch ihre Schwäche war seine Chance gewesen. Mit seiner damaligen Antwort hatte er sie verzaubert: Ich leide an Vergesslichkeit. Laut dem Statistischen Bundesamt leiden in Deutschland über 68% der Männer an chronischer krankhafter Vergesslichkeit. Trotz all unserer Bemühungen gesetzlich als geistig verarmte Umstandstrottel anerkannt zu werden, sind wir es bis heute nicht. Meine Unfähigkeit, mich zu erinnern, gilt nicht als Behinderung, sonst hätte ich mich schon längst auf irgendeine Stelle beworben und hätte selbige über den Behindertenbonus ergattert. Doch so bin ich verdammt zum gesellschaftlichen Außenseiter. Kann ich denn schuld sein an mir selbst, wenn ich überhaupt nicht weiß, wieso ich bin, wie ich schon immer war?

Abschließend hatte er fleißig mit den Augen geklimpert, um so viel Mitleid wie möglich zu erwecken. Vergesslich war er wirklich wie Sau. Er trug selten ein Paar Socken, die sich gleich waren, ganz zu schweigen von den Schuhen. Himmel, er war schon froh, wenn er Socken und Schuhe an hatte. Das waren die guten Tage! An den schlechten wartete er in Unterhosen mit der Zahnbürste auf den Bus und wusste dann schon nicht mehr, wohin er überhaupt fahren wollte.

Er war nicht einfach, durch das Leben zu gehen, wenn man ständig vergaß, wo man hin wollte.

Sicherlich, es hatte auch Vorteile. Er konnte die eigenen Wünsche und Träume nicht behalten, hatte praktisch keine Ansprüche, da er sich täglich neu definierte. Leider verschaffte ihm das auch eine in höchstem Maße instabile Persönlichkeit. Jemand, der nicht wusste, ob er Tomatensuppe mochte oder nicht, war schließlich zu allem fähig, nicht wahr?

„Was würden Sie sich für Merlan wünschen?“, fragte die Paartherapeutin.

„Ich will, dass er mir sein Geheimnis verrät.“

„Niemals!“, rief Merlan aufbrausend, sprang auf und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Tabea.

Frau Dr. Tulpenstein griff wieder zur Wasserflasche und besprühte Merlan so lange, bis dieser wieder Platz genommen hatte. „Aus“, schrie sie immer wieder. „So etwas machen wir nicht.“

„Sie sehen, er ist äußerst launisch. Seine Vergesslichkeit ist gefährlich.“

„Wisst ihr beide denn, wie das Gedächtnis funktioniert?“

„Nein“, sagte Tabea.

Merlan schüttelte den Kopf.

„Ich werde es euch erklären. Habe es gerade im Internet nachgelesen. Es gibt sechs Gedächtnisarten. Das sensorische Gedächtnis speichert Sinneswahrnehmungen.“

„Häh?“, machte Merlan.

„Riechen und Sehen und so, du Simpel“, sagte Tabea.

„Ach so …“

„Dann haben wir das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen nur vorübergehend, welche dann bei wiederholten Eindrücken und Gedanken an das Arbeitsgedächtnis weitergeleitet werden. Dort werden sie für Wochen und Monate gespeichert und landen unter Umständen im Langzeitgedächtnis für das ganze Leben. Erinnerungen, Wissen, das ihr aus Wikipedia herausgelesen habt, und persönliche Erlebnisse landen im deklarativen Gedächtnis. Zwischen den Informationen im Langzeit- und deklarativen Gedächtnis bestehen Straßen, die den Informationsaustausch ermöglichen. Nennt man Engramme, ist aber nicht so wichtig. Wie im echten Leben sind manche dieser Straßen besser, andere schlechter und manche gar nicht ausgebaut. In deinem Fall, Merlan, hat dein geistiges Tiefbauamt wohl den Dauerstreik angekündigt. Vermutlich kann dein Gehirn aufgrund eines Defektes nicht zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterscheiden.“

„Was genau bedeutet das?“, fragte Tabea.

„Schwer zu sagen. Entweder das Kurzzeitgedächtnis funktioniert wie das bei einem Goldfisch, es hält nur drei Sekunden, oder aber es überträgt mit einer geradezu wahllosen Selektivität Informationen ins Langzeitgedächtnis. Und deine Gedächtnisstraßen sind schlecht ausgebaut. Schon ein Wunderwerk so ein Gehirn. Sagen wir, jemand wischt Merlans geistige Tafel immer so schnell ab, dass sie mit dem Abschreiben gar nicht hinterherkommen. Da ist guter Rat teuer. Haben Sie schon versucht, ein Notizbuch zu führen?“

„Ja, aber ich vergesse, wo ich es abgelegt habe. Und wenn ich es finde, weiß ich nicht mehr, was ich damit anfangen soll.“

„Ein verzwickter Fall.“

„Dürfte ich an der Stelle anmerken, dass ich Merlan das Lesen und Schreiben beigebracht habe?“

„Wirklich?“

„Ja, er war Analphabet. Es hat ewig gedauert, bis er mir das gebeichtet hat. Er hat versucht, sich drumherum zu lügen, was mal absolut gar nicht funktioniert hat. Es ist gar nicht so schwer, es zu erlernen, die Hemmschwelle war das größte Manko. Wenn sich jemand erst einredet, etwas nicht zu können, ist es schwierig, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Ich habe ihm erst das Alphabet beigebracht. Dann haben wir zuerst Babybücher gelesen und später Pettersson und Findus. Irgendwann Jugendromane und später sogar die Barry-Trotter-Bücher. Seine Handschrift ist zwar eine Katastrophe, aber er kann schreiben.“

„Bravo, Frau Drang, bravo“, sagte Frau Dr. Tulpenstein.

„Danke.“

„Könnten Sie bitte kurz diese Tablette nehmen?“, fragte die Therapeutin. „Wenn ich die Ihnen jetzt nicht gebe, vergesse ich es nachher wieder.“

Jeder bekam eine rote Tablette, beide schluckten die Dinger runter, damit der Rest des Kapitels schnell zu Ende erzählt werden konnte.

„Ja, das war wirklich lieb von dir“, lobte Merlan seine Frau. „Vergesslich zu sein, ist eine Sache, aber das mit dem Lesen und Schreiben war wirklich unangenehm.“

„Er ist noch immer launisch wegen seiner Vergesslichkeit. Doch es hat sich vieles gebessert.“

„Ich fühle mich wohl als Koch. Ich arbeite gerne für Paulchen Panther.“

Tabea rollte mit den Augen.

„Wie bitte?“, fragte die Therapeutin.

„So nennt er unseren Chef. Der trägt immer alles in Pink und zwirbelt sich am Schnurrbart umeinander.“

„Und er kommt immer wieder, keine Frage“, sagte Merlan und kicherte.

In seinem Kopf wurde ein Schalter umgelegt. Er schaute sich im Raum um. Da war eine bunt gekleidete Frau, die er nicht kannte. Sie hielt ein Klemmbrett. Neben ihm saß seine Tabea. Den Raum, in dem sie sich befanden, kannte er nicht. Warum war er hier?

Mit einem Mal wurde die Wohnung erschüttert. Die Bilderrahmen im Regal hüpften und die Erde zitterte.

„Was ist denn jetzt los?“, fragte Merlan. Er sprang auf und schaute instinktiv aus dem Fenster.

Draußen vor dem Haus stand es. Seine große braune Pranke war erhoben, und zwei schwarze Augen starrten ihm aus der braunen Masse an, die zu Boden tropfte. Es war riesig.

„Oh nein“, sagte Merlan. „Es hat mich gefunden!“

„Was?“, schrien die beiden Frauen im Chor.

„Das Nuss-Nugat-Monster. Es will meinen Tod!“

Die Erde wackelte wieder. Ein Schrei ertönte, und Holz splitterte. Das Monster war dabei, die Haustür einzuschlagen.

„Ist das dein Geheimnis?“, fragte Tabea.

„Nein“, sagte Merlan und hastet panisch im Raum umeinander.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Frau Dr. Tulpenstein.

„Ich habe einen Plan“, sagte Merlan. „Folgt mir.“3

1 Warum an einer spannenden Stelle weitermachen, wenn man sich diese für einen anderen Teil im Buch aufsparen kann. Merken Sie sich diesen Trick, sollten Sie selber mal etwas schreiben. Den Leser hinzuhalten, ist so wichtig, wie ihn zu unterhalten. So in etwa wie der Viehbauer mit zum Schlachter fährt, damit die Kühe denken: „Was soll schon groß passieren?“ Und dann spüren sie kaltes Metall auf der Stirn und zack bewirft sie jemand mit Paniermehl. Gute Beispiele waren übrigens noch nie meine Stärke.

2 Auch Pump- oder Haremshose genannt. Haben Sie sicher schon mal gesehen. Der Schritt hängt praktisch zwischen den Knöcheln. Sieht bescheuert aus.

3 Was für ein Twist! Was für eine Wendung! Ist es Ihnen zu bescheuert? Ach komm, haben Sie sich nicht so. Das Monster wird eine tragende und tragische Rolle in der Geschichte spielen. Der Verfolger, der niemals aufgibt und immer dann auftaucht, wenn Sie es am wenigsten erwarten! Es hat natürlich selbst auch eine Hintergrundgeschichte, dazu später mehr. Wir wollen die Geschichte ja nicht ins Lächerliche ziehen. Der volle Name des Monsters lautet übrigens Nathaniel Uterus Tella.

286,40 ₽
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325 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783752900835
Издатель:
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