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Читать книгу: «Schaurige Orte in der Schweiz», страница 3

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Denkt er und kämpft sich hinauf. Links oben das Gerippe der Kirche, von der Greg vorhin gesprochen hat. Hinter sich ein Keuchen. Ein weiterer Rennradfahrer, der die Schlusssteigung in Angriff nimmt, denkt Steffen und spannt die Muskeln etwas an, dich lasse ich nicht so schnell vorbei. Es gelingt ihm, das Keuchen in Schach zu halten. Was, denkt er, wenn das Greg ist? Vielleicht musste er austreten und ist jetzt hinter ihm. Oder er ist selber am Rand der Erschöpfung. Diese Vorstellung gefällt ihm. Mal schauen, was passiert, wenn er einen Zwischenspurt einlegt. Steffen geht aus dem Sattel und drückt die Kurbeln. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Habt ihr gesehen, wie ich das mache? Mit links, meine Lieben, mit links.

Einige Meter geht das so. Steffen voraus, doch das Keuchen bleibt an ihm dran. Dann der Hammer. Ein Wadenkrampf, den er nicht kontrollieren kann und der sein Bein völlig blockiert. Keine Möglichkeit, um zu reagieren. Eine Umdrehung noch, dann geht gar nichts mehr. Er versucht vergeblich, den Fuß vom Pedal zu lösen, und verliert das Gleichgewicht. Das Rad kippt samt Fahrer nach links, mit Hüfte und Schulter kracht er auf den Asphaltbelag. Der Schmerz zuckt heiß und hell durch seine Gelenke.

Als Steffen aufblickt, steht ein Mann neben ihm. Das Keuchen kommt vom Kopf, der aber nicht auf dem Hals sitzt. Den trägt der Mann locker unter dem Arm.

»Dumm gelaufen«, sagt der Kopf, als Steffen ächzend aufsteht und den Schaden an seinem Körper begutachtet wie die Karosserie eines beschädigten Fahrzeuges.

»Kann man sagen«, brummt er. »Scheißtag und Scheißtal!«

»Mich haben sie auch drangenommen«, sagt der Geköpfte und lächelt, »wenigstens wurde ich heiliggesprochen, was man von dir nicht sagen kann.«

Steffen will etwas erwidern, doch der Mann steigt nun die Straßenböschung hinauf und verschwindet zwischen den Bäumen.

Mit zitternden Beinen steigt Steffen wieder auf sein rotes Rennrad. Der Lenker ist nicht mehr ganz gerade, das Fahren geht aber einigermaßen. Er wählt den kleinsten Gang, fährt nun ganz langsam aufwärts, nimmt Kehre um Kehre, fast in Zeitlupe geht es an den Leitplanken entlang. Ich verstehe dich, Graf de Renesse, denkt Steffen, der wollte mit diesem Tal hier unten nichts zu tun haben. Das Hotel dreht dem Pass und dem Bergell den Rücken zu, schaut auf den See hinaus, auf die großen Wiesen. Ein Golfplatz sollte die Gäste anlocken und Bootsfahrten auf dem Silsersee würden die Herzen erfreuen.

Das Hotel müsste etwas für Verliebte sein, denkt er, etwas für Karin und mich. Die Ohrfeige, das möchte er ihr gleich morgen sagen, die war nicht gerechtfertigt. Natürlich hätte er sie nicht in diesen Putzraum hineindrängen sollen, ihr an den Hintern greifen und versuchen, den engen Rock hochzuziehen. Irgendwie war es ein Notfall. Ein nicht mehr zu kontrollierender Drang nach Nähe, nach Befriedigung. Und dann diese Klatsche. Sie schob ihn zur Seite, ordnete ihre Kleider und war weg, bevor er sich erklären konnte. Er will das nachholen. Wird ihr sagen, dass er an jenem Morgen den Anruf bekommen hatte wegen Lisa und Lara. Der Wagen ausgebrannt. Ein stinkendes Gerippe. Und von seinen beiden Liebsten blieb nur verkohltes Material übrig. Das alles musste er Karin sagen, wenn er morgen zur Arbeit kam.

Für Leute, wie er selbst einer war, wollte Steffen Träume wahr werden lassen. Die Ideen des Grafen weiterdenken. Es gab diese Geschichte vom Speisesaal, den er unter Wasser gesetzt haben soll, damit die Gäste mit Gondeln zum Buffet fahren konnten. Irgend so etwas sollte doch möglich sein. Der direkte Seeanschluss mittels eines Kanals steht auch ganz oben auf seiner Wunschliste. Ein Haus, in dem Träume wahr werden, so etwas schwebte ihm vor. Illusionen wecken, die Gäste erlösen, wie er sich selber erlösen muss aus diesem Albtraum. Neue Bilder an die Stelle der alten setzen.

Lisa, Lara, Lisa, Lara. Tränen laufen Steffen über das Gesicht. Er wollte doch nicht weggehen, wollte sie beschützen, doch das war nicht mehr möglich. Und so ging alles in Flammen auf, er hätte es verhindern können, denkt er, wenn er dabei gewesen wäre, wäre das nicht passiert.

Wie der Graf musste auch er Träume erfüllen, Glück bringen, Schuld tilgen. Doch was hatte es Camille gebracht? Ich darf dich doch so nennen, fragt er, als schon der Turm Belvedere oben am Pass sichtbar wird, den der Graf als persönliche Residenz gebaut hatte. Um sich gegen das Bergell und die Geister zu schützen, denkt Steffen, eine Burg, die das Böse abwenden soll. Auch das war ein Traum, den Renesse nicht realisieren konnte.

Steffen spürt, wie das Dunkle den Pass hinaufkriecht und ihm auf den Fersen bleibt, lauert, um zuschlagen zu können, wenn er eine Schwäche zeigt. All die verschütteten Menschen, die verbrannten Hexen und der enthauptete Heilige, sie sind hinter ihm her, und plötzlich weiß er, dass ihm nur der Turm des Grafen Sicherheit geben kann. Diese Gewissheit gibt ihm Kraft, hilft ihm, die Straße zu meistern und den Kulminationspunkt des Passes zu erreichen, bevor ihn die Welle von Blut, die die Straße heraufschwappt, einholt und wegschwemmt.

Von Gregor keine Spur. Das ist Steffen nur recht. Er fährt hinüber zum Turm Belvedere, lehnt sein Rennrad gegen die Mauer und nimmt die Champagnerflasche, die neben dem Eingang steht.

»Danke, Camille«, sagt er und steigt langsam die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf.

*

Der belgische Graf, sagt man, habe sich im Champagnerrausch vom Turm Belvedere oben am Pass ins Bergell gestürzt, in den Tod. Andere Quellen berichten, dass er 1904 in Nizza gestorben sei, wo er christliche Literatur verfasst haben soll. Das ist fast zu wenig dramatisch.

Steffen Schmidt, unser ehemaliger Eventmanager, muss die Geschichte gekannt haben. Möglicherweise wollte er, weil er seiner Aufgabe nicht gewachsen war, dem Grafen nachfolgen. Bei seinem Sturz in die Tiefe erlitt er schwere Verletzungen, die nun in einer Zürcher Privatklinik behandelt werden und, wie man hört, nur langsam ausheilen. Was an seelischen Narben zurückbleibt, kann niemand sagen. Den Stresstest, den ich mit ihm durchgeführt habe, hat er jedenfalls nicht bestanden. Als sein Vertrauter und engster Mitarbeiter bin ich selbstverständlich bereit, all seine Funktionen zu übernehmen.

Ach ja, noch etwas: Karin und ich werden bald heiraten, meinen Antrag hat sie schon angenommen.

03 Der Kragenwäscher
von Sunil Mann

Um 1701 wird das Antistitium, das Pfarrhaus neben dem Zürcher Großmünster, von einem Poltergeist heimgesucht, der den obersten Kirchenvorsteher Antonius Klingler und seine Frau in Angst und Schrecken versetzt. Der Teufel selbst soll die Hand im Spiel haben, meint der Antistes und merkt erst viel später, was es mit dem Spuk auf sich hat.

*

Wieder haben sie ihn gemartert, gepeinigt im Namen Gottes und seinen Körper dabei fast in Stücke gerissen. Schier besinnungslos vor Schmerz starrt er in die Dunkelheit, sein Mund staubtrocken, die Kehle rau von all den Schreien. Er hat sich nicht gerührt, keinen Zentimeter, zusammengekrümmt liegt er da, hingeworfen wie ein räudiger Kadaver.

Manchmal glaubt er, Stimmen zu hören, ein lockendes Wispern aus dem Fluss, Flüstern auf den Gängen, aus den finstersten Ecken fixieren ihn glühende Augen. Doch wenn er blinzelt, ist da nur noch diese undurchdringliche Schwärze, die ihn tröstend umschlingt, ihn allmählich durchdringt, jede Nacht ein Stückchen mehr. Bis alles schwarz wird, bis er selbst zu Dunkelheit wird, sich auflöst, nicht mehr ist. Weit und breit kein Licht, der letzte Hoffnungsschimmer vor Tagen schon verglommen.

Er verliert beinahe das Bewusstsein, schreckt auf, die Zunge klebt am Gaumen, das Gefühl zu ersticken. Ein nicht enden wollender Albtraum. Angst ist längst nur noch ein Wort, bedeutungslos nach allem, was sie ihm angetan haben, geblieben ist einzig die Sehnsucht nach Erlösung.

Schwer atmend liegt er auf dem harten Boden, wie lange schon, weiß er nicht. Tag und Nacht in Dunkelheit, er hat jedes Zeitgefühl verloren. Durch die dicken Mauern ist das gleichmäßige Rauschen des Flusses zu hören. Leise tropft Feuchtigkeit von den Steinen, kriecht in seine Kleider, klebt eisig kalten Stoff an seine Haut. Er schlottert. Weint leise.

Mit einem Weidling haben sie ihn zum Wellenberg gefahren, dem Gefängnisturm mitten in der Limmat, eine kurze Fahrt vom Rathaus. Das hier ist nicht der Oetenbach, das Stadtgefängnis, hierher werden die Schwerverbrecher gebracht. Verhältnismäßig angenehm in den oberen Etagen, da gibt es zwar auch keine Heizung, aber immerhin dreimal täglich warme Mahlzeiten, er weiß das vom Hörensagen. Ihm stellen sie Wasser und Brot hin.

Die Folterkammer hingegen ist ihm nur zu gut bekannt. Dort haben sie ihn kurz nach seiner Ankunft auf das »Bänkli« gesetzt, wie man das in Zürich nennt, auf die Streckbank gebunden, haben mit dem Handhebelrad das Seil angezogen, bis es fest gespannt war, und ihn über Nacht in dieser Position zurückgelassen. Allerdings ohne das Geständnis von ihm zu erhalten, auf das sie alle so gehofft hatten.

Dass der Aufenthalt im Wellenberg nur kurz ist, haben sie ihm gleich am ersten Tag klargemacht. Der Pfarrer Zeller vom Fraumünster und Diakon Ulrich, die ihn jeden Tag besucht und mit ihm gebetet haben, ihm zugeredet haben, mal sanft, dann wieder mit aller Härte, damit er gestehe, damit er endlich die Wahrheit bekenne.

Dabei hat er die Angelegenheit zu Beginn kaum ernst genommen. Mit Witz und Scharfsinn wollte er sich verteidigen, so sicher war er sich, dass sich der Kleine Rat über die Lächerlichkeit des Tatbestands im Klaren sein musste. Doch mit der Wut des Antistes, des obersten Pfarrers am Großmünster und Vorsitzenden der reformierten Kirche, hat er nicht gerechnet, nicht mit seinen furiosen Memorials, in denen er ihn, Bernhard Wirz, der Zauberei und Hexerei beschuldigte und behauptete, der Teufel habe seine Hand im Spiel gehabt, Wirz habe gar mit Satan selbst paktiert.

Bernhard Wirz hat tatsächlich gedacht, er käme heil aus der ganzen Sache raus. Doch er hat sich geirrt, so gründlich wie noch nie in den 29 Jahren seines Lebens.

Er stöhnt, versucht, seine Position zu verändern, sich aufzurichten, gibt den Versuch gleich wieder auf. Tastet mit der Hand über die tropfende Decke des Verlieses, sie hängt tief, an ein aufrechtes Sitzen ist nicht zu denken. Zwei solche »Hüsli« gibt es im Wellenberg, beide zuunterst im Turm zu finden, niedrige Zellen ohne Fenster.

Langsam dreht sich Bernhard zur Seite, der Schmerz verschlägt ihm den Atem. Es fühlt sich an, als stünde sein Körper in Flammen. Die Gelenke überdehnt, ausgekugelt womöglich, die Wirbelsäule ein glühender Spieß, der seinen Körper durchbohrt, der Rücken geschändet. Höllenqualen, kaum auszuhalten.

Als die Verhöre auf der Folterbank keine Resultate zeigten, haben sie ihm die Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt und ihn an der Winde hochgezogen, haben ihm einen Stein an die gefesselten Füße gehängt und ihn immer wieder verhört, immer wieder dieselben Anschuldigungen, immer wieder dieselben Fragen, doch er hat bloß das Nötigste gestanden, bis sie von ihm abließen, der Ratsherr Gessner und Zunftmeister Bodmer. Nur um am nächsten Tag wiederzukommen und die Tortur fortzuführen.

Bernhard starrt in die Dunkelheit. Pedell ist er, ist er gewesen, Abwart des Kirchenrates, er hat auf eine Anstellung innerhalb der Kirche gehofft. Dass er ins Antistitium, das Pfarrhaus des Kirchenvorstehers, gerufen wurde, war das Glück, das sich als sein Unglück herausstellen sollte.

Er schließt die Augen und verwünscht zum tausendsten Mal den Poltergeist. Lauscht auf das Gurgeln des Wassers, das sich an der Turmmauer bricht, auf das Wispern der Stimmen, die jäh verstummen, sobald er sich nach ihnen umsieht. Der Aufenthalt im Wellenberg ist nur kurz, haben sie ihm gesagt. In der Zwischenzeit hat er herausgefunden, weshalb.

Turbental, 21. April 1705

Geliebter Bernhard,

was soll ich sagen? Du hast dein Versprechen lange gehalten, hast meinen Namen nicht erwähnt, obschon sie Dich aufs Bänkli gesetzt und ins Hüsli geworfen haben. Dafür danke ich Dir. Dass Du mich nun doch verraten hast, nach tagelanger Folter, will ich Dir verzeihen. Man hat mich rechtzeitig gewarnt und ich bin noch am selben Tag nach Turbental geflüchtet, zu meinem Schwager, Diakon Steinbrüchel, wo ich mich verstecken will, bis sich die Lage beruhigt hat. Bis Gras über die Sache gewachsen ist.

Lieber Bernhard, ich wünschte, Du hättest auf mich gehört, hättest meinen Hinweis ernst genommen, den ich Dir bei unserem heimlichen Rendezvous auf dem Lindenplatz gegeben habe. Dass mein Onkel, der Antistes, tobe vor Wut, auf Rache sinne und zum Äußersten entschlossen sei, selbst auf Folter wolle er nicht verzichten. Spaß versteht er keinen, das war schon immer so, doch jetzt ist er ernsthaft beleidigt. Er nimmt sich sehr wichtig, lässt sich sogar mit »Exzellenz« anreden, aber das weißt Du ja alles. Hast Dich oft genug über ihn lustig gemacht, ihn wegen seines geradezu kindlichen Aberglaubens verspottet. Dummheit und Selbstüberschätzung, eine gefährliche Mischung, ich habe Dich gewarnt. Aber Du wusstest es ja besser, wolltest in der Stadt bleiben und Dich mit Humor und Charme rausreden, so wie Du es immer getan hast.

Ich wünschte mir so, geliebter Bernhard, wir hätten mehr Zeit gehabt in jener Nacht, dieser eine Kuss hat meine Leidenschaft wieder geweckt, mehr als mir vielleicht lieb ist.

Aber warte … Von unten sind Stimmen zu hören, alle reden durcheinander, Aufregung herrscht.

Nun gut, es gibt Neuigkeiten, keine guten, befürchte ich. Mein Bruder ist eben eingetroffen, er kommt direkt aus Zürich und berichtet, dass die Frau Oberpfarrerin fuchsteufelswild sei und mich beschuldige, faul zu sein, mit Dir unter einer Decke zu stecken. Diese einfältige Schnepfe, wenn die wüsste! Oder hast Du es bereits gestanden? All unsere gemeinsamen Nächte in der Stube? Ich hoffe nicht!

Mein Bruder meint, ich müsse auf der Stelle meine Sachen packen, der Bürgermeister und der Rat haben angeblich einen Boten losgeschickt, um mich vorzuladen. Sie wollen mich verhören, und Du weißt, was das heißt. Die schrecken vor nichts zurück, um die Wahrheit zu finden. Oder das, was sie für die Wahrheit halten.

Mein Bruder meint, es sei das Klügste, für einige Zeit von der Bildfläche zu verschwinden, mein Schwager will gar nicht erst wissen, wohin ich gehe. Morgen um fünf in der Früh ist Aufbruch. Aber ich werde Dir weiterhin schreiben, liebster Bernhard, selbst wenn ich es nicht wage, meine Briefe abzuschicken.

In Liebe

Deine Regula

Diese plötzliche Stille, als sie die Sihlbrücke erreichen. Nur das Knarren der Holzplanken unter den schweren Schritten ist zu hören und Pfarrer Zellers pfeifender Atem, selbst der Diakon ist verstummt und geht nun schweigend neben ihnen her. Immer wieder hält Zeller inne, gönnt seinem Schutzbefohlenen und sich selbst eine Verschnaufpause, sie kommen nur langsam voran. Hinter ihnen drängen sich städtische Würdenträger, die Schaulustigen folgen mit etwas Abstand.

Was für eine feierliche Prozession!, denkt Bernhard Wirz, trotz seiner wenig erbaulichen Situation blitzt Schalk in seinem Blick auf. Wie oft wird man schon von einem Pfarrer höchstpersönlich durch die Stadt geführt, die Straßen voller Zuschauer, die einzig gekommen sind, um einen zu sehen?

Als hätte er diese frohe Regung gespürt, legt Zeller ihm die Hand auf die Schulter, weist ihn mit sanftem Druck vorwärts und murmelt dazu ein Gebet, so leise, dass es kaum zu verstehen ist.

Es dauert einen Moment, bis sich Bernhards Augen an das Halbdunkel der gedeckten Brücke gewöhnt haben. Ruhig ist er geworden in den letzten Tagen, in sich gekehrt und vor allem erleichtert, dass die Tortur und die endlosen Nächte im Hüsli endlich ein Ende gefunden haben. Mühsam setzt er einen Schritt vor den andern, leise stöhnend, jede Bewegung begleitet von unbeschreiblichem Schmerz.

Ein freundlicher Tag, dieser 13. Mai im Jahre 1705, ein Mittwoch, der Weg vom Fischmarkt über die Rathausbrücke, den Rennweg hinab bis zur Sihlbrücke war gesäumt von Menschen. Es kommt nicht oft vor, dass ein Mitarbeiter der Kirche zum Schafott geführt wird. Und dann auch noch der Pedell, der im Antistitium gewohnt hat, die rechte Hand seiner Exzellenz, des Kirchenvorstehers! Eine Sensation im kleinen Zürich.

Köpfe reckend, drängte sich das Publikum entlang der Strecke, selbst aus den Fenstern der Häuser lehnten Menschen. Die meisten Arbeiter hatten von ihren Vorgesetzten freibekommen, ein Volksfest, keiner wollte sich das Spektakel entgehen lassen. Bernhard kannte etliche Zuschauer und winkte den einen freundlich zu, andere grüßte er mit einem Nicken. Wohlwissend, dass er in der Stadt nicht nur als Pedell bekannt war, sondern ebenso als Frohnatur und Lebemann, der oft spätnachts – und selten nüchtern – in den Kaschemmen im Kratz anzutreffen war, dem Quartier der Wäscherinnen, Kesselflicker und Prostituierten hinter dem Fraumünster. Dort war er schon gesehen worden, wie er mit dem Scharfrichter und seinen Knechten Schnaps trank und als Musiker verkleidet zum Tanz aufspielte. Ein verbi divini minister und angehender Kanzelprediger! Dass er darüber hinaus unzählige Liebschaften unterhielt, versteht sich von selbst. Mehrere junge Frauen hielten sich für seine zukünftige Braut, wie im Verlauf der Ratsverhandlungen bekannt geworden war.

Schwer atmend bleibt Bernhard am Ende der Brücke stehen, eine kurze Pause bloß. Im Rücken die Tore der Stadt, vor ihm die weiten Felder und Bauernhöfe von Aussersihl, eine friedliche Szene. Doch sein Blick wandert unweigerlich zur Kapelle St. Jakob und dem dazugehörigen Friedhof.

Sie haben ihn am frühen Vormittag aus dem Wellenberg geholt und vors Rathaus geschleppt, wo sein Urteil verlesen wurde.

»Helf dir Gott!«, hat der Junker ihm noch zugerufen, ehe sich der Zug in Bewegung gesetzt hat.

Bernhard zuckt zusammen, als urplötzlich die Armsünderglocke im Kapellenturm zu schlagen beginnt, er spürt die Hand des Pfarrers, die seine Schulter drückt, und seine Nackenhaare sträuben sich.

Ein ungestümes Klingeln reißt die Frau Oberstpfarrer aus dem Tiefschlaf. Erschrocken richtet sie sich auf und starrt in die Dunkelheit, das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Juli 1701. Die erste Nacht im Antistitium nach ihrem Kuraufenthalt in Bad Zurzach, deshalb dauert es einen Moment, bis sie sich zurechtfindet, bis sie begreift, woher der Lärm kommt. Wieder klingelt das Glöckchen, schrill und fordernd, und ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Verängstigt rutscht sie tiefer unter die Decke, zurrt die Schlafhaube fest und wartet, die Fäuste um die Bändel geballt, dass das Glöckchen endlich verstummt. Es ist durch eine Schnur direkt mit dem Kinderzimmer des kleinen Dorotheelis verbunden, eingerichtet vor einiger Zeit, als das Kind krank war, damit es schnell und auf simple Weise nach der Mutter rufen konnte. Nur ist das Dorotheeli immer noch mit seinem Vater, Antistes Antonius Klingler, im Hardturm, dem Landsitz der Familie, wo sie auf der Rückreise haltgemacht haben, das Zimmer also unbewohnt.

Ein Poltergeist!, denkt Frau Klingler voller Grauen und rutscht noch tiefer unter die Decke, während das Glöckchen zwei weitere Male klingelt.

Am nächsten Morgen eilt sie als Erstes ins Zimmer ihrer Tochter, doch, wie erwartet, ist Dorotheelis Bett leer und unbenutzt. Obschon sie innerlich aufgewühlt ist, lässt sich Frau Oberstpfarrer nichts anmerken, als sie sich in die Küche begibt. Das Gesinde braucht nicht zu wissen, dass sie sich in der Nacht geängstigt hat. Schließlich ist sie für ihre Strenge und mehr noch ihre Sparsamkeit bekannt, manche Angestellten fürchten sich regelrecht vor ihr. Man könne ihr nichts recht machen, tuscheln sie hinter ihrem Rücken, das ist der Klinglerin durchaus bekannt. Das Bild einer vor Furcht zitternden Herrin würde nur ihre Autorität untergraben, sie womöglich zum Gespött in den Kammern der Mägde machen. Deswegen gibt sie sich noch unerbittlicher als sonst, selbst Tränen rühren sie nicht.

Gleich nach dem Frühstück befiehlt sie, das Haus auf Vordermann zu bringen, die Böden zu schrubben, das Bettzeug zu waschen, da der Hausherr bald anreise. Danach kontrolliert sie alle Ecken auf liegen gebliebenen Staub, späht hinter jeden Schrank, fährt mit dem Finger prüfend über Regale und Ablagen. Und wenn sie auf etwas stößt, das nicht zu ihrer Zufriedenheit erledigt ist, brüllt sie nach den Mägden, der Anna und dieser Bernerin, deren Namen sie immer vergisst, oder schimpft die Haushälterin Regula aus, die nichtsnutzige, faule Nichte ihres Mannes.

Doch je näher der Abend rückt, desto banger wird ihr, desto heftiger erfasst sie die Angst vor der Nacht, bis sie schließlich nach dem Abendbrot Anna zur Seite nimmt.

»Du schläfst heute in meiner Kammer«, befiehlt sie und bemerkt nicht, wie die Magd unauffällig die Augen verdreht.

»Wieso?«, will die junge Frau wissen.

Sekundenlang starrt Frau Klingler Anna an, bis ihr eine Ausrede einfällt: »Damit du mir Wasser holen kannst, sollte ich aufwachen und Durst verspüren.«

»Wie Sie meinen.« Anna zuckt mit den Schultern.

»Ich verbitte mir diesen Ton!«, ruft die Klinglerin ihrer Angestellten hinterher, doch die junge Frau steigt bereits die Treppe ins obere Stockwerk hinauf.

Es ist kurz nach Mitternacht, als die Frau Oberstpfarrer von einem entfernten Schlurfen geweckt wird. Mit angehaltenem Atem lauscht sie in die nächtliche Stille und schreit entsetzt auf, als das Geräusch plötzlich aus dem Zimmer über ihr erklingt.

»Was ist los?« Schlaftrunken meldet sich Anna von der anderen Seite des Bettes.

»So hör doch!«, flüstert Frau Klingler.

»Ich kann nichts …«

Jetzt kommt das Schlurfen von den Lauben, es klingt nach Holzschuhen.

»Er ist es!« Frau Klinglers Stimme zittert, Anna greift nach ihrer Hand.

Beinahe gleichzeitig fällt eine Tür krachend ins Schloss und beide Frauen kreischen auf. Dann herrscht wieder Stille.

»Wir wollten Sie nicht beunruhigen, liebe Frau Klingler, aber …«

»Wovon sprichst du, Anna?«

»Als Sie zur Kur in Bad Zurzach waren …«

»So red doch!«

»Das geht schon die ganze Zeit so, jede Nacht. Im Saal, dann wieder in den Kammern, auf den Lauben, in der Küche. Er lärmt herum, knallt Türen zu, geht mit schweren Schritten die Treppen hinauf und hinab, dabei schlägt sein Degen klirrend gegen jede Treppenstufe. Und er pfeift wie …«

»… ein Rittmeister.« Mit einem kraftlosen Stöhnen lässt sich die Klinglerin in die Kissen zurücksinken und ist froh um die Dunkelheit. Denn sonst hätte Anna bemerkt, wie blass sie geworden ist.

Hans-Konrad, du bist es, denkt sie und das blanke Entsetzen packt sie, du bist es tatsächlich. Du bist zurückgekommen.

Erst im Juni ist ihr Sohn aus erster Ehe, ein ungehobelter Geselle mit miserablen Manieren, von einem Pferdehuf tödlich getroffen worden. Dies, obschon er mit Pferden besser umgehen konnte als mit Menschen, nicht umsonst hat man ihn zum Rittmeister ernannt. Ein schlichtes Gemüt, der Hans-Konrad – und der Enkelsohn des reichsten Mannes von Zürich. Auf den Gassen der Stadt munkelt man seither, dass Frau Klingler nach dem Tod ihres Sohnes etliche Hundert Gulden von seinem Erbe unrechtmäßig abgezweigt habe.

Deshalb!, begreift die Frau Oberstpfarrer in diesem Moment. Deshalb spukst du jetzt durch mein Haus, Hans-Konrad.

Am nächsten Tag lässt die Frau Oberstpfarrer schleunigst die Kutsche bespannen und eilt zu ihrem Gatten, der sich noch immer im Hardturm aufhält. Als sie Antonius in die Arme fällt, bricht sie zusammen und weint so bitterlich, dass er sich ernsthaft Sorgen um sie macht.

Am selben Tag trifft die Familie im Antistitium ein, sie wird bereits von ihren verängstigten Angestellten erwartet. Die Mägde sind den Tränen nahe, auch die Haushälterin Regula ist fahl im Gesicht und wirkt fahrig. Der Poltergeist macht ihnen Angst.

Die Bernerin berichtet unter Tränen, das Gespenst habe ihr eines Nachts die Bettdecke weggerissen, während die Pfarrersfamilie in Bad Zurzach weilte, die rein weibliche Belegschaft hätte daraufhin den Pedell Bernhard Wirz gebeten, während dieser Zeit zu ihnen zu ziehen und sie zu beschützen. Daraufhin sei die Situation etwas erträglicher geworden.

»Na, dann soll der junge Mann doch wieder herkommen«, meint der Antistes, der Oberstpfarrer, während er beherzt das Haus betritt und gleich als Erstes ein Gebet spricht.

»Aber wir können unmöglich hinten in den Belegschaftsräumen bleiben«, wirft Anna ein. »Wir sterben vor Angst. Angeblich hat es dort schon früher gespukt!«

»Aber wo wollt ihr denn übernachten?«, wundert sich Frau Klingler.

»Wir richten unsere Betten in der Stube ein«, erklärt Regula, die sich offenbar bereits im Vorfeld Gedanken zur Lösung des Problems gemacht hat. »Dann kann der Herr Wirz auch gleich dort sein Lager errichten und uns vor dem bösen Geist beschützen.«

»Was für eine großartige Idee!« Der Antistes nickt wohlwollend.

Der Poltergeist ängstigt den Geistlichen zwar, aber er sieht es als seine Herausforderung an, den Teufel zu vertreiben, der zweifelsohne hinter dem Ganzen steckt. Denn dem Antichristen den Garaus zu machen, das ist sein ganzer Ehrgeiz, wo er ihn vermutet, lässt er ihn seine Macht, seine gnadenlose Härte spüren, wofür er weitherum geachtet wird. Ihm ist es zu verdanken, dass erst Anfang Juli Elsbetha Rutschmann aus Wasterkingen der Hexerei überführt worden ist. Auch ihre Tochter Anna und die Schwägerin Margaretha haben sich auf der Folter zur Wahrheit bekannt. Sie haben gestanden, sich lüstern dem Teufel hingegeben und Zauberei betrieben zu haben, indem sie einen Ochsen den Wagen nicht mehr haben ziehen und das Bein eines Kindes haben anschwellen lassen, Küchlein sind beim Backen nicht aufgegangen, Läuse wurden in den Haaren einer Bäuerin gefunden. Die Rutschmann wurde unten an der Sihl bei lebendigem Leib verbrannt, das Mädchen und die Schwägerin wurden erst enthauptet und dann eingeäschert. Doch noch sind die Hexenprozesse nicht zu Ende, weitere Angeklagte aus demselben Dorf harren im Wellenberg ihrem Urteil.

Doch alles Beten hilft nichts. Der Poltergeist ist längst nicht nur nachts unterwegs, neuerdings verrückt er sogar tagsüber Gegenstände. Als Regula beim Mittagessen aufspringt, fällt ein Buch vom Regal, ein Sessel verschiebt sich knarrend, als Bernhard die Stube betritt, Kerzenständer fallen um. Die schönen Schuhe der Angestellten sind eines Morgens unauffindbar, sodass keiner von ihnen zum Gottesdienst gehen kann, der Antistes stolpert beinahe über einen Degen, der mit der Scheide gekreuzt vor der Studierkammer liegt, flankiert von zwei Pistolen. So umtriebig das Gespenst auch bei Tageslicht ist, seine schweren Schritte sind weiterhin um Mitternacht auf den Treppen des Pfarrhauses zu vernehmen, Türen werden zugeknallt, Fenster sperrangelweit aufgemacht. Dem Dorotheeli reißt er im Schlaf die Decke weg.

»Mir hat er die Schlafhaube vom Kopf gezupft!«, schluchzt die Bernerin eines Morgens. »Sie flog zum einen Fenster hinaus und beim nächsten wieder herein!«

Tröstend drückt Anna ihren Unterarm, während der Antistes Bernhard Wirz zu sich winkt.

»Sie zeichnen ab sofort alle Vorkommnisse auf, ich will, dass dieser Spuk dokumentiert wird, als Beweis für die Nachwelt«, trägt er dem jungen Mann auf. »Wir werden das Werk Diarium Tragediae Diabolicae nennen«, sagt er, ehe er sich mit der Bibel unter dem Arm in sein Arbeitszimmer aufmacht, um gegen das Böse anzubeten. Längst ist ihm zu Ohren gekommen, dass man sich in der Stadt über ihn lustig macht, ihn für abergläubisch hält.

Was weiß das gewöhnliche Volk schon, was hier vor sich geht?, fragt er sich grimmig, während er sich hinkniet. Wissen die überhaupt, gegen wen ich diesen Kampf führe?

»Kragenwäscher« nennen die Leute den Poltergeist spöttisch, weil man an einem Sonntag vor dem Gottesdienst die steifen Mühlsteinkragen, die zur Würdentracht der Ratsherren und Seelsorger gehören, nicht im Ankleideraum vorgefunden hat, wo sie eigentlich hingehören, sondern dieselben im Hofbrunnen schwimmend entdeckte.

Der Oberstpfarrer schlägt die Bibel auf und vertieft sich in sein Gebet, doch in derselben Nacht schreit Anna das ganze Haus zusammen, weil ein ungewohntes Geräusch sie geweckt hat.

»Ich hatte fürchterliche Angst und musste mich überwinden, überhaupt nachzusehen«, berichtet sie.

Die Klinglerin nickt aufmunternd und der Antistes tauscht einen raschen Blick mit Wirz. Ein gewichtiger Eintrag für das Tagebuch.

»Ich schlich die Treppe hinab und da stand er, direkt vor dem Audienzzimmer, ein riesiger Mönch. Er leuchtete irgendwie und trug eine weiße Kutte, in der Mitte einen schwarzen Streifen …«

»Ein Skapulier?«, will der Antistes wissen, doch die Magd schüttelt bloß irritiert den Kopf. »So, wie du es beschreibst, handelte es sich um eine Ordenstracht des Klosters Wettingen.«

Anna sieht den Oberstpfarrer hilflos an und er lächelt ihr gütig zu.

Zürich, den 12. Januar 1702

Geliebter Bernhard,

zehn Tage ist es nun her, seit mich der Antistes aus dem Dienst entlassen hat. Er nimmt es mir übel, dass ich mein Eheversprechen nicht einhalten wollte und den Johannes Waser habe sitzen lassen. Aber ich liebe doch Dich! Nur, wie hätte ich ihm das erklären sollen, wie? Du weißt selber, wie stur er sein kann. Vermutlich hätte er es nicht verstanden, hätte gedacht, Du seist nur an meinem Vermögen interessiert. Viel ist es ohnehin nicht, aber die Summe ermöglicht mir zu überleben, bis ich eine neue Anstellung gefunden habe.

Manchmal frage ich mich, ob wir es zu weit getrieben haben. Aber dann wiederum war es jede Sekunde wert, ich hatte noch nie so viel Spaß in meinem Leben wie mit Dir, lieber Bernhard.

Wie ich höre, hat der Spuk im Pfarrhaus aufgehört? Der Antistes tönt herum, er habe den Teufel mit der bloßen Macht der Worte Gottes vertrieben, er allein. Überall lässt er sich dafür feiern und man jubelt ihm allenthalben zu. Manche lachen zwar über ihn, aber das merkt der Narr natürlich nicht.

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26 мая 2021
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