Читать книгу: «Die Unbeirrbare», страница 4

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Gertruds Studienwahl erhält familienintern Anerkennung, und aus Brasilien lässt Paul seine Schwester Bertha befriedigt wissen: «Heute überraschte mich der charmante Brief v. Student. Die Überlegung, sich als Jurist auszubilden, aus dem einfachen Grund, weil das Studium kürzer & das materielle Rendement analog der Mediziner ausfällt, fand meine Anerkennung. Kurz, der Brief zeigt klaren Menschenverstand.» Daraufhin gewährt Paul seiner Schwester freien Zugriff auf seine Bankkonten: «Ich kenne Deine Tugenden als bewährte Stauffacherin & erwarte weder Dankesrufe noch Lobgesang, sondern vernünftige Verwaltung.»27 Trotz Krise sollen seine Nichten eine «erstklassige» Ausbildung bekommen und Ferien geniessen. Mit schlechtem Gewissen – «ich hatte immer das Gefühl, als tue ich ein Unrecht» – lässt sich Bertha von seinem Konto Geld auszahlen und entschuldigt sich:

«Wir geben uns Mühe uns der Situation anzupassen. Hans & ich gehen jeder unnötigen Ausgabe ängstl. aus dem Weg – & danken Gott, dass Hans doch immer noch eine Anstellung hat & unser Brot verdient. Ausser den paar Tag Ferien, die wir uns erlaubten – trieben wir keinen Luxus. Wir hatten gesundes Essen & gesundes Wohnen und das kostet so viel – dass wir immer zielen mussten durchzukommen.»28

Mit Stolz fügt sie hinzu: «Die Kinder entfalten sich gut zu uns. grössten Freude – natürl. kosten sie, es müssen Opfer gebracht werden.» Elisabeth wird eine Lehre als Damenschneiderin beginnen und später die Kunstschule besuchen, Gertrud nimmt an der Universität Zürich ihr Rechtsstudium in Angriff. Sie tritt dem Schweizer Frauen-Alpenclub bei und fährt im August 1935 abenteuerlustig mit den Anfängerinnen ins Wallis. Was sie hier erlebt, schildert sie ihrem brasilianischen Gönner auf drei Briefseiten, zum Beweis, dass sie seiner Förderung würdig sei.


«Es wurde 9h, bis wir den Einstieg in den Felsen erreichten, dann aber folgte eine 4-stündige Gratkletterei, wie ich vorher noch keine gemacht habe, sehr rassig war sie. Der Westgrat des Besso ist an Schönheit & Schwierigkeit dem Matterhorn ebenbürtig.»

Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann

Gertrud Heinzelmann am Seil des Bergführers im Val de Zinal, Wallis, 1935.

Im Val de Zinal übt sie Klettergriffe – «an einer Wand hing der Rücken, an der andern die Schuhnägel»29 – und auf dem Weisshorngletscher lernt sie den korrekten Umgang mit dem Eispickel. Das Üben ist ihr schon bald zu wenig: «Ich gesellte mich zu den Kanonen zur Diablon-Traverse.» Der Bergführer schätzt das Können der «Kanone» anders ein und nimmt sie aus Sicherheitsgründen zuvorderst ans Seil, sollte sie auf dem Grat aus Unerfahrenheit eine falsche Bewegung machen oder vor Müdigkeit stolpern. Nach Braslien meldet die «Kanone»: «Obwohl ich weitaus die jüngste war, hatte ich die Ehre am Führerseil zuorderst zu sein.» Es sei eine «sehr schöne Klettertour» geworden. Nach einem Ruhetag und einer Nacht auf «höllisch harten Strohsäcken» wagt sich Gertrud Heinzelmann an ihren ersten Viertausender, den Westgrat von Besso. Während Stunden klettert sie in schwindelnder Höhe einem Grat entlang, sieht in den Abgrund hinunter, darf den Mut nicht verlieren und darf nicht aufgeben, auch wenn sie möchte, sie muss Müdigkeit überwinden, mit schmerzenden Füssen und klammen Fingern fertig werden, alles nicht der Rede wert, jedenfalls gesteht sie ihrem Onkel nichts dergleichen ein. Die Tour gelingt – «rassig war sie». Doch «zu feig» sei die Mannschaft gewesen, um nach dem Abstieg noch am selben Tag ins Tal nach Zinal zu den wartenden Kolleginnen hinunter zu «tippeln». Die Gruppe übernachtet inmitten von Gletschern in der Mountet-Hütte. Am nächsten Tag blicken die Kletterinnen bei strahlend blauem Himmel am Zinalrothorn empor – «der wunderbare Gipfel lockte immer mehr» – und drei Kolleginnen und Gertrud Heinzelmann nehmen sich vor, auch diesen Viertausender zu erklimmen. Auf seinem Gipfel befindet man sich auf Augenhöhe mit den Berühmtesten, dem Matterhorn und der Dufourspitze, und weit, weit unten liegt der Kurort Zermatt. Vor Sonnenaufgang ziehen sie mit zwei Bergführern los, durchqueren den Gletscher, der steil zum vereisten Blanc-Grat hinaufführt. Hier werden sie von einem Wetterumsturz überrascht: «Leider hatte das Wetter sich verschlechtert, auf dem Grat begrüsste uns ein förmlicher Sturm, der einem den Pickel direkt in der Hand schüttelte, wenn man ihn einstecken wollte.» Ein Unwetter mit bissigen Windböen, einschlagenden Blitzen und heftigem Eisregen, der die Felsen im Handumdrehen glitschig und gefährlich macht, alles möglich, aber die «Kanone» schreibt dazu nichts. Die Gruppe kehrt nicht um, kämpft unter Lebensgefahr auf dem Eisgrat weiter, erreicht schliesslich den blanken Granit – «nur schade, dass ausgerechnet jetzt ein Hagelwetter ausbrach» – und klettert, zu allem entschlossen, am Felsen hoch. «Um 9 h war der Gipfel geschafft. Vor Freude über unsere Leistung flogen sich alle förmlich in die ‹Arme›, meine Kameradin & ich erhielten zur Feier des grossen Moments von unserem Führer ein ‹baiser pour le grand courage›.» Der Sturm tobt auch während des Abstiegs, der nicht ohne «Intermezzi» verläuft, wie Gertrud Heinzelmann die Zwischenfälle umschreibt, die glücklicherweise harmlos verlaufen, vielleicht ebenso hätten tödlich enden können. Der Betreiber der Mountet-Hütte, ein erfahrener Alpinist, befürchtet längst Schlimmes und sucht mit dem Fernglas den Grat und die Felsen ab. Dann, am frühen Nachmittag, trifft die Gruppe wohlbehalten «beim Papa Hüttenwart» ein: «Der Alte war fast ausser sich vor Freude, dass wir trotz des schlechten Wetters das Zinalrothorn geschafft hatten.»

Die 21-jährige Gertrud Heinzelmann kehrt erschöpft nach Wallisellen zurück – «die ganze letzte Woche noch hatte ich nachzuschlafen» – doch am Schluss ihres Briefes lässt sie Onkel Paul wissen:

«N.B. Zinalrothorn ist schwieriger als Matterhorn.»

Revolutionäre Stimmung beim Kartoffelanbau

Die Doktorandin der Rechtswissenschaften ringt im Zweiten Weltkrieg mit der katholischen Kirche und verfasst ihre Grundsatzerklärung. Sie überschätzt ihre Kräfte und bricht zusammen.

Im Sommer 1940 jätet und bewässert Gertrud Heinzelmann die Gemüsebeete, die sich in langen Bahnen vom Doktorhaus bis zum Gartenzaun hinunter ziehen. Zwischen den Buchseinfassungen wachsen Kartoffeln, Karotten, Krautköpfe und Sellerie, Nahrhaftes für Kriegssuppen und harte Winter. Dem Zaun entlang reifen Johannisbeeren und Brombeeren, es gibt Pflaumen und Mirabellen. An die Gemüsebeeten schließt sich ein Obstgarten an, der bis zum nächsten Bauernhaus reicht, und ein zweiter befindet sich hinter der Scheune, wo einst Kutschen und Pferde der Vorfahren standen. Jeden Morgen bestellt Gertrud Heinzelmann ihren Garten, womöglich hantiert sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit Stechgabel und Hacke. «Ein Haus auf dem Land zu besitzen, ist sehr schön, und in diesen Zeiten geradezu ein tröstlicher Gedanke. Die Kehrseite, eine Unmenge Arbeit»,1 schreibt sie nach Brasilien. Wäre nicht im Vorjahr der Weltkrieg ausgebrochen, sie würde nicht in Boswil schuften und für die Familie Wintervorräte anlegen. Es hätte sie auch diesen Sommer in die Alpen gezogen. Längst ist sie keine selbsternannte «Kanone» mehr, die der Bergführer zuvorderst ans Seil nimmt, sondern inzwischen führt sie am Seil die Unerfahrenen über Bergkämme. Seit sie im Sturm auf dem Zinalrothorn gestanden hatte, bestieg sie manchen berühmten Gipfel, auch das Matterhorn. Bis die letzten Äpfel gepflückt und auch der letzte Krautkopf abgeräumt ist, solange will sie in Boswil ausharren. Denn die vergangenen Kriegsmonate verhießen nichts Gutes, Dänemark, Norwegen, Holland und Belgien wurden von Hitlers Wehrmacht besetzt, der Angriff auf Frankreich begann, Italien trat in den Krieg ein, dann kapitulierte Frankreich, und soeben verkündete General Guisan die schweizerische Selbstbehauptung mit militärischen Mitteln.

Der noble Glanz des Doktorhauses ist verblasst und sein Komfort veraltet. Salesia Rietschi, alt und gebrechlich geworden, ließ am Haus nichts erneuern, und als sie vor Kriegsausbruch starb, hatte die Familie Heinzelmann keine Freude an diesem Erbe. Ein «Trinkgeld» hätte sich mit dem Verkauf der Liegenschaft herausschlagen lassen:

«Zudem sind die finanziellen Verhältnisse in Boswil sehr misslich, – die Bauern sind gegenseitig verbürgt um sehr hohe Beträge – einer hängt am andern, einer kracht nach dem andern. – Dazu die prächtige allgemeine Weltlage, – die Verhältnisse auf dem Kapitalmarkt insbesondere. – So haben wir uns wohl oder übel entschlossen, das Haus bis auf weiteres zu behalten, die notwendigsten Reparaturen vorzunehmen, & zu vermieten. So haben wir wenigstens ‹Grund und Boden›, auch wenn das Ganze für uns wenig rosig aussieht & für uns ein schlechtes Geschäft ist.»2

Der Krieg verschafft den Bauern neue Einnahmen. Wer nicht in der Armee dient und auf dem Hof nichts zu tun hat, geht zum «Güsle» in die umliegenden Moore, wie im Dorf das Torfstechen genannt wird. Zwischen Bünzen und Muri soll das Sumpfland entwässert und für die Kriegswirtschaft bepflanzt werden. Die Männer stechen Briketts, füllen Schubkarren, Förderbänder gibt es keine, die Frauen legen den Torf zum Trocknen aus und sammeln ihn wieder ein. Die Familie Heinzelmann lässt das Doktorhaus renovieren, und als Teigwaren und Reis, Fett, Zucker und Öl rationiert werden, sind alle froh, das Erbe nicht verschleudert zu haben. Der untere Stock wird vermietet, Gertrud Heinzelmann bewohnt allein den oberen Hausteil, wo sich der Biedermeiersalon befindet und die Sixtinische Madonna neben anderen frommen Zuwendungen aus dem Kloster Muri hängen. Die gute Stube liegt, fremden Blicken entzogen, hinter der Küche. Hier herrscht zwischen Büfett, Tisch und Eckbank kleinbürgerliche Behaglichkeit. In zwei Kammern stehen die Betten und über Nachttischchen und Türrahmen sind dunkle Holzkreuze befestigt.

Frühmorgens vor der Gartenarbeit liest Gertrud Heinzelmann historische Abhandlungen über die römisch-katholische Kirche, studiert lateinische Gesetzestexte, als wären sie in Französisch oder Englisch geschrieben, und tippt mit der Schreibmaschine wichtige Textstellen ab. Am Nachmittag setzt sich die Rechtsstudentin wieder an den Schreibtisch. Vor Kriegsausbruch hat sie nach acht Semestern die Doktorarbeit begonnen. Der Professor warnte vor den Tücken ihres Vorhabens, aber sie wollte unbedingt über «Das grundsätzliche Verhältnis von Kirche und Staat in den Konkordaten» schreiben. Staatsrecht war im Studium ihr Lieblingsfach, und Kirche und Religion üben auf sie immer noch diese starke Anziehung aus. Es gibt keine Notizen oder Briefe von ihr, die Hinweise geben würden, warum sie ausgerechnet Kirchenrecht mit Staatsrecht vergleichen will. Zur Lektüre für die Doktorarbeit gehören die Werke, die ihr einst der Walliseller Priester in den Sprechstunden empfohlen hatte, damit sie endlich einsehe, dass die Stellung der Frau in der Kirche so ist, wie sie nach Meinung der großen Theologen zu sein hat. Als Gymnasiastin war ihr der Inhalt dieser Bücher unverständlich, doch jetzt besitzt sie das nötige Rüstzeug. Es ist denkbar, dass sie mit der Doktorarbeit bewusst die Gelegenheit ergreift, sich ein wenig vom bisher verschlossenen theologischen Gebiet anzueignen. Gertrud Heinzelmann muss sich in den letzten Studiensemestern, spätestens aber während ihrer Doktorarbeit, eingestanden haben, dass sie selbst gerne eine Priesterin wäre. Hätte sie dies früher gewusst, als sie sich für ein Studium entscheiden musste, es hätte ihr nichts genützt, denn Frauen sind noch an keiner Universität zum katholischen Theologiestudium zugelassen.

Mit großen Erwartungen sitzt sie in Boswil am Tisch, vor sich das Hauptwerk des Theologen und Scholastikers Thomas von Aquin. Der Titel der deutschen Übersetzung verspricht die Antwort auf alle Sinnfragen: «Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des heiligen Thomas von Aquin». Die zehn Bände sollen nach päpstlichem Urteil frei von Fehl und Tadel sein. Der Gelehrte aus dem 13. Jahrhundert wurde bald nach seinem Tod heilig gesprochen und zum maßgebenden Kirchenlehrer erhoben. Seither wurden Generationen von Geistlichen nach seiner Theologie gedrillt, nach seinen Worten wurde im Religionsunterricht geschulmeistert und von der Kanzel gepredigt. Unter anderem blättert Gertrud Heinzelmann auch in seiner «Lehre über die Frau».

Von da an ist es mit ruhigem Studieren vorbei. Was sie über das Wesen der Frau zu lesen bekommt, schockiert sie, obwohl sie solches vom Walliseller Priester und seinem Stellvertreter oft gehört hatte. Die Lektüre nimmt sie gefangen, sie schläft schlecht, ist unkonzentriert. In Boswil, diesem Tausend-Seelen-Dorf, kennt sie niemanden, mit dem sie darüber hätte sprechen können, auch in der Familie gibt es für den «Betblätz» keinen Rückhalt. Als sie sich nicht mehr anders zu helfen weiß, spannt sie ein Blatt Papier in die Schreibmaschine, tippt zuoberst auf die Seite «1. Stellen über die Frau» und beginnt aus Thomas von Aquins Lehre abzuschreiben:

«Nun ist das Weib der Natur dem Manne unterworfen, weil der Mann fester und scharfblickender in der Vernunft ist.»3

Dann hämmert sie in die Tasten:

«Womit stützt Thomas seine Behauptung? Und wenn es Frauen gäbe, die weiser sind als die Männer, wie würde da der Schluss lauten?»4

Thomas von Aquin zog Gertrud Heinzelmanns Schluss nie, denn das Verhältnis der Geschlechter sieht er vom Himmel herab für alle Ewigkeit geregelt: «Der Mann ist das Princip für die Frau und ihr Zweck, wie Gott das Princip für die ganze Kreatur und ihr Zweck ist.»

Gertrud Heinzelmann scharfsinnig:

«Hat der Mann die Frau erschaffen?»

Darauf fällt sie ihr Urteil:

«Was Thomas sagt, ist die Redeweise des männlichen Hochmuts».

Diese Erklärung hätte Thomas von Aquin nicht verstanden, schließlich handelt es sich für ihn bei der weiblichen Unterordnung um eine logische Ableitung aus göttlicher Wahrheit, die keines weiteren Beweises bedarf und lautet: Der Mann ist der vollendete Mensch, die Frau eine Abweichung. Für den Gelehrten aus dem Mittelalter ist die Frau ein Missgeschick, verursacht durch dumme Zufälle beim Beischlaf. Der Mann wolle stets seinesgleichen zeugen. Gelinge dies nicht, dann hätten unglücklicherweise während der Kopulation «feuchte Südwinde» geblasen, oder der Mann sei nicht in Hochform gewesen, sodass nur ein mangelhafter Mensch, ein «Weib», zustande gekommen sei. Die Frau treffe bei der Zeugung keine Schuld, denn sie diene dem Mann «wie ein Ackerboden, in den gesäet wird». Gertrud Heinzelmann entgegnet:

«Zu der ungezählte Male wiederkehrenden Behauptung: der Mann ist bei der Zeugung das tätige, also höhere Princip, die Frau das leidende, empfangende, sie bietet den formlosen Stoff etc. etc., möchte ich bemerken, dass nach heutigen naturwissenschaftlichen Resultaten feststeht, dass die Befruchtung kein Willensakt sei. Im Übrigen weise ich hin auf die Entdeckung der weiblichen Eizelle!»

Im Glauben an die Überzeugungskraft naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und rationaler Argumente kämpft Gertrud Heinzelmann mit der Kirchenautorität, auf gleicher Augenhöhe gewissermaßen, er ein Gelehrter, sie eine Akademikerin, und nach wissenschaftlichen Regeln wird seziert. Sie hält ihm logische Widersprüche vor, kontert seine Thesen mit Antithesen, selbst die ärgste Frauenfeindlichkeit versieht sie korrekt mit Kapitel- und Seitenangaben und setzt ihre eigenen Bemerkungen diszipliniert in Klammern.

Erstmals nimmt sie ihre eigenen Schwierigkeiten mit der Kirche als Auswirkung einer weit reichenden, Frauen verachtenden Tradition wahr. Ihre belastenden Erfahrungen beim Beichten, die Zurückweisung als Ministrantin erschienen Gertrud Heinzelmann bisher als etwas Singuläres, auch die Ansichten der Walliseller Priester über das weibliche Geschlecht hielt sie stets für persönliche Äußerungen. Was sie bis anhin als einzelnen Willkürakt wahrnam, ist plötzlich in der historischen Entwicklung fassbar geworden. Sie sieht die Quellen, die Lehre von Augustinus und die Werke von Frühscholastikern, auf die sich Thomas von Aquin stützt, und sieht, wie seine Lehre wiederum die theologischen Vorstellungen der nachfolgenden Jahrhunderte beeinflusste. In der Geschichte der katholischen Kirche trug Thomas von Aquin wesentlich zur Unterdrückung der Frauen bei. Seine Lehre verfestigte das negative Frauenbild in der Theologie und verankerte die Begründung für den Ausschluss der Frauen aus allen höheren Kirchenämtern. Gegen die Weihe von Priesterinnen führt der mittelalterliche Gelehrte wiederum den Zeugungsvorgang und die weibliche Unvollkommenheit an. Es stehe dem «Weib» als dem dümmeren, untergeordneten Wesen nicht zu, in der Öffentlichkeit und in der Kirche die Männer zu belehren. Ausserdem wecke der Anblick einer Frau fleischliche Lust. Darum kümmere sich das «Weib» seiner Natur gemäß um den Nachwuchs und gehorche dem Mann und Haupt der Familie. Gertrud Heinzelmann bemerkt dazu:

«Der Geist der Frau hat keinen selbständigen Wert gegenüber dem des Mannes. Die Funktion der Frau ist die Sexuelle.»

Gertrud Heinzelmann rennt in ihren Notizen gegen kirchliche und männliche Definitionsmacht an, begehrt auf gegen die Reduzierung auf Körper und Gebärfähigkeit und kämpft für weibliche Intellektualität. Sie verteidigt dabei ihre «religiöse Bereitschaft»5, Priesterin sein zu wollen und versteckt hinter ihrem Argumentieren die Verletzung, für die Kirche ein mangelhafter und zweitrangiger Mensch zu sein. In einigen Kommentaren schwingt ihre Tragik mit, sich zur Priesterin berufen zu fühlen, ohne die Möglichkeit dazu zu haben. Unter «Einführung» notiert sie beispielsweise:

«Wo Thomas von der Frau spricht, tut er es auf eine Weise, die das Bewusstsein Mensch zu sein im Tiefsten verletzt. Und nicht nur er ist es, der die Frauen erniedrigt, erwürgt, wo es um das Tiefste und Höchste geht, was der Sinn des Menschen erfassen kann, vor ihm, mit ihm, nach ihm tat dasselbe die Kirche.»

Oder an anderer Stelle wirft sie die Frage auf: «Ist es kein verderblicher Kult, wenn einer inneren Wirklichkeit, ich denke an das geistige, religiöse Leben der Frauen, überhaupt kein Zeichen des Ausdrucks verliehen wird?»

Die theologischen Studien politisieren Gertrud Heinzelmann, und sie entdeckt zwischen Religion und Gesellschaft, zwischen kirchlicher Moral und staatlicher Gesetzgebung Zusammenhänge, die sie zuvor nicht in dieser Schärfe wahrgenommen hatte. Aus der Distanz von vierzig Jahren schildert sie ihre Politisierung so:

«Aufgrund des bearbeiteten Materials erkannte ich, dass die Diskriminierung auf staatlich-gesellschaftlichem Boden nur einen Teil jener viel grösseren geistigen Diskriminierung darstellt, welche durch das Christentum in seinen zahlreichen kirchlichen Ausformungen – insbesondere in der mir von Jugend an vertrauten katholischen Kirche – auf die Frauen gelegt worden war.»6

Im Alltag ist das Nachwirken von theologischen Denktraditionen für die Studentin mit Händen zu greifen. Katholische Frauenbücher, Lebensratgeber und Heiligenbiographien, bis weit in die Fünfzigerjahre hinein unermüdlich von Priestern zur geistigen Erbauung und sittlichen Formung der Katholikinnen produziert, verbreiten in zwei Varianten ein einziges Lebensmodell: Leibliche Mutterschaft oder geistige Mutterschaft, entweder Heirat und Kinder oder für Unverheiratete mütterlich-karitatives Wirken im Dienste der Gesellschaft. Die katholische Männerwelt präsentiert sich dagegen machtvoll nach Ämtern geordnet, vom Vereinsvorstand bis zum Zentralsekretär und Parteipräsidenten, vom einfachen Ortsgeistlichen und seinem Vikaren bis zu den Eminenzen und Exzellenzen. Die Konservative Volkspartei spielt politisch den verlängerten Arm der Kirche und betreibt eine Familien- und Bevölkerungspolitik, die Frauen ins Private abdrängt. Propagiert werden hohe Einkommen für den Mann als Alleinernährer der Familie und staatliche Unterstützung kinderreicher Familien statt Geburtenregelung.

Gertrud Heinzelmann steht mit ihren kritischen Gedanken nicht nur quer zum katholischen Weltbild. In der Schweizer Öffentlichkeit ist in den Kriegsjahren von Gleichberechtigung und weiblicher Selbstbestimmung kaum mehr die Rede, viel hingegen von Selbstlosigkeit zu Gunsten von Familie und Nation. An der Landesausstellung 1939 in Zürich stimmen die Frauenorganisationen in ihrem Pavillon das Lob auf Mütterlichkeit und Hausfrauenart an, und der offizielle Ausstellungsführer rückt den Wirkungsort der Schweizerinnen ins Ewiggültige:

«Das Wirken der Frau wird im Leben des Volkes oft zu wenig gewürdigt. Doch hat die Frau zu allen Zeiten – sogar bei der Gründung des Bundes – an der Gestaltung des Kulturellen und des Staatslebens tatkräftig mitgewirkt. Als Mitarbeiterin ihres Mannes, als Hüterin des Herdes, als Erzieherin der Kinder, opfert sie sich auf für ihre Angehörigen und leistet damit im Verborgenen wertvollste Arbeit für die Gesamtheit.»7

Vorbehaltlos, ohne die Forderung nach dem Frauenstimmrecht zu stellen, bekräftigen die Frauenorganisationen, die bürgerlichen wie die sozialdemokratischen, ihre Mithilfe zur Landesverteidigung. Im Vorwort der gemeinsamen Broschüre heißt es: «In der heutigen gefahrvollen Zeit fühlen wir Schweizerfrauen, dass wir vereint mit den Männern mit all’ unsern Kräften unsere Staatsform und unsere Unabhängigkeit hochhalten und verteidigen müssen.»8 Katholikinnen und ihr Dachverband, der Schweizerische Katholische Frauenbund, weisen sogar jegliches Eigeninteresse wie politische Gleichberechtigung von sich – «sekundäre Dinge» – und fordern stattdessen «Besinnung auf die Urkräfte unseres fraulichen Seins». Für den Ehealltag wird die päpstliche Faustregel empfohlen: «Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau das Herz» (Papst Pius XI.).9

Als die Schweizerinnen zum freiwilligen militärischen Frauenhilfsdienst FHD aufgerufen werden, melden sich über zwanzigtausend, darunter auch Elisabeth. Gertrud hingegen hält es für eine Ehrensache, nicht mitzumachen – «Nicht einmal für die Brieftaubenabteilung hätte ich mich gemeldet.»10 Eine echte Frauenstimmrechtlerin, findet sie, solle die Schweiz und damit die eigene Rechtlosigkeit nicht verteidigen helfen. Kein Dienst am Vaterland ohne Stimmrecht, da bleibt sie strikt, und auch die Hoffnung, unter Umständen nach dem Krieg als Dank politische Gleichberechtigung zu erhalten, mag sie nicht teilen. Zudem ist der Frauenhilfsdienst in der Armee im untersten Rang angesiedelt. Im zweiwöchigen Einführungskurs werden die Freiwilligen «nicht zum weiblichen Soldaten» geformt, sondern unter Wahrung der «typischen Eigenart der Frau»11 in die Feldküchen, in die Lazarette und Flickstuben oder zum Dienst an Telefon und Schreibmaschine abkommandiert. Bei solchen Bedingungen pflanzt Gertrud Heinzelmann lieber für die Familie. Dann machen die ersten Witze die Runde, der Frauenhilfsdienst sei ein «Krampfadergeschwader» heißt es, und die Abkürzung FHD stehe für «Feldhurendepot». Gertrud Heinzelmann empört sich, sieht ihre Haltung bestätigt und wird 1949 in ihrem ersten Zeitungsartikel ihre Gefühle öffentlich machen:

«So ist es also häufig. Das ist also die volkstümliche Illustration zur Achtung, die der Frau als solcher und ihrer Funktion in der Armee entgegengebracht wird. Die patriotische Begeisterung junger Frauen ist also der Gosse verdächtig. – Mir stieg die Röte bis unter die Haarwurzeln, als ich zum ersten Mal diesen Superwitz hörte. Dass er eine schwere Beleidigung darstellt für jede Schweizerin als mögliche oder aktive FHD kommt keinem der Lachenden und der Erzähler in den Sinn. Sie rekrutieren sich eben aus jener Anzahl von Männern, welche eine Frau fragen können: ‹Weshalb kämpfen Sie eigentlich? Sie besitzen ja alles, was Sie brauchen!› Dass eine Frau sogar unter der Vorenthaltung der öffentlichen Rechte leiden kann, ist ihnen ein unbekanntes und unwahrscheinliches Phänomen, das höchstens im Zusammenhang mit Komplexen genannt wird.»12

In Boswil gilt Gertrud Heinzelmann nicht als Einheimische, sondern als eine, die nur insofern dazu gehört, weil ihre Vorfahren hier gelebt haben. Man wird wohl ab und zu fachmännisch einen Blick über den Gartenzaun auf das Wachstum in ihren Gemüsebeeten geworfen haben, man grüßt sich und im Übrigen bleibt man auf Distanz zu dieser Studentin mit Pagenfrisur. Das Dorf ist patriotisch gestimmt und stellt sich mit der Geistlichkeit und der Konservativen Volkspartei hinter die Landesverteidigung, da mischen sich katholische Frömmigkeit und Volksbrauchtum mit vaterländischem Pathos und Wehrwillen. Am Eidgenössischen Bettag im Herbst reisen Boswils Trachtenfrauen, im Krieg einer der aktivsten unter den Dorfvereinen, nach Brugg zur Gedenkstein-Einweihung der 5. Armeedivision, die im Ernstfall den Kanton Aargau an der deutschen Grenze zu verteidigen hatte. Ein würdiges und stärkendes Fest hätte es werden sollen, aber es regnet ununterbrochen, und von den sechshundert angemeldeten Trachtenleuten kommen keine hundert, doch die Boswilerinnen trotzen dem Regen unverdrossen. Schon den Bummel an die Landesausstellung ließen sie sich nicht entgehen, und sie fuhren an einem Sonntag nach der Frühmesse mit dem Jodlerklub «Heimelig», «geschmückt mit Blumen und Ährensträusschen singend und jauchzend», im Autocar nach Zürich. – «Wir Freiämter marschierten stolz hinter dem prächtigen Garbenfuder vom Sentenhof durch die Hauptstraßen.»13

Im Herbst ist Bertha tageweise in Boswil, um der Tochter bei der Obsternte zu helfen, «25–30 Doppelzentner»14, gegen drei Tonnen Äpfel und Birnen fallen an, dazu Kartoffeln und Wintergemüse – eine Mordsarbeit. Als erprobte Alpinistin beisst Gertrud Heinzelmann auf die Zähne, karrt trotz Müdigkeit im Leiterwagen, in dem sie einst mit Rossmist durch Wohlens Straßen gerasselt war, weitere Obstladungen für den Verkauf zur Landwirtschaftlichen Genossenschaft oder zum Bahnhof für den Transport nach Wallisellen. «Meine sportliche Muskulatur kam mir in diesem Krampf sehr zu statten, sonst hätte ich wohl ab und zu ‹gmaugget›», schreibt sie stolz nach Brasilien. «Gesundheitlich hat mir der bäuerliche Lebenswandel, dem ich mich wohl oder übel unterziehen musste, gut getan. Weniger angenehm war mir, dass ich für meine Arbeit viel Zeit verlieren musste.» Über ihre theologische Lektüre und ihre Gefühle verliert sie kein Wort. Dafür malt sie kindlich die Boswiler Idylle: «Mit den Bauern bin ich sehr gut ausgekommen, Lunzis Rosse nahm ich am Halfterband und fand ohne weiteres Gehorsam, einigen Kornfudern half ich vor dem Regen unter Dach, und vor allem hatten es mir die kleinen rosaroten Säuli angetan.»

Vor Wintereinbruch verlässt Gertrud Heinzelmann ihre «Landwirtschaft» und kehrt, mit der unfertigen Dissertation im Gepäck, nach Wallisellen zurück. Hier schenkt Bertha ihrer Tafelrunde brasilianischen Kaffee aus, trotz Rationierung täglich eine Tasse für jeden:

Wallisellen, Sonntag 10/11/40

Mein lieber Päuli,

Der erste Wintersonntag-Abend ist da – die Familie sitzt um den Tisch herum in der gr. warmen Stube. Wir sind ganz glücklich, warm zu haben, – in der Vorsaison haben wir gefrohren. Deine lb. Bfe. vom 8. IX. und 10. X. sind mir richtig geworden & haben mich interessiert & sehr gefreut. Von England kommen Nachrichten sehr, sehr spärlich. Was können wir mehr tun als all unsere Lieben dem Lenker aller Schicksale zu empfehlen?!

Morgen fahre ich nochmals in unsere ‹Landwirtschaft› hinüber, nachher habe ich dann Ruhe, hoffentli!! Es gab sehr viel ‹Büez› den Sommer über – auch viel Freude & wir hoffen mit der Zeit, die richtigen Leute & Fahrplan finden zu können. (…)

Rationiert ist nun beinahe alles. – Gang mach; aber Hunger muss man keinen haben. Kleider sind gesperrt, nur Hüte & Corsetts & Büstenhalter! sind noch frei!! Schuhe sind vers. gekauft worden, ohne zu probieren! – Abends hat man erst Feierabend, wenn die Fenster verdunkelt sind – das darf ja nicht vergessen werden.

Und übers Kafi sind wir jetzt froh, chascht tänke – z. Zt. kriegst keine Bohne, – das wird schon wieder besser werden, aber wann? (…)

Die ganze Tafelrunde grüsst Dich herzlichst & besonders

s’Bertali Bertali!

Hin und wieder gibt es zum Kaffee Berthas «Kriegskuchen von Mais», bestehend aus «1 Tasse Milch, 1 Tasse Rahm, der auch etwas sauer sein darf, 1 Tasse Maisgries, 1 Tasse Zucker, 1 Tasse Mehl, 1 Ei, 1/2 Päckli Backpulver» und falls vorhanden, soll die Mischung mit geriebener Zitronenschale und getrockneten Weinbeeren verfeinert werden. Zu besonderen Anlässen serviert Bertha die «Kriegstorte» aus Haferflocken und einer Tafel geriebener Schokolade. Im Heinzelmannschen Haushalt regiert die «Frau Bundesrätin», wie Paul seine Schwester zu nennen pflegt. Das Dienstmädchen geht ihr zur Hand oder Fräulein Louise, die Lehrtochter, der Bertha nach einem Jahr ins Zeugnis schreibt: «Auf hauswirtschaftlichem Gebiet ist sie selbständig und tüchtig, und in ihren Charakter darf ein volles Vertrauen gesetzt werden.»15 Den Töchtern ist Bertha Gesetz gebende Instanz. Sie gesteht ihnen Freiheit zu, vorausgesetzt, Anstand und Familienehre bleiben gewahrt. Ihre Älteste respektiert sie nicht zuletzt wegen ihrem Durchsetzungsvermögen, ihrem juristischen und politischen Wissen. Als Achtzigjährige sieht Gertrud Heinzelmann ihr damaliges Verhältnis zur Mutter so: «Ich habe meine Mutter, ich möchte fast sagen, als die ältere Freundin erlebt.» Und Susi Schlegel-Lutz, die mit Gertrud das Gymnasium besuchte und von Bertha Heinzelmann tief beeindruckt war, sagt rückblickend: «Sie saß nicht oben drauf auf den Töchtern, überhaupt nicht. Mir scheint, sie hat sehr auf Gertrud abgefärbt.»

Auch im erweiterten Familiendepartement versucht die «Frau Bundesrätin» durchzugreifen, sie lernt Englisch, um sich mit der Ehefrau von Bruder Frank unterhalten zu können, für Paul schmiedet sie Heiratspläne, als sie die Richtige in Wohlen ermittelt hatte – «sie ist nicht schön aber auch nicht wüst & wenn man ihm in die Augen blickt & und mit ihm spricht, so entdeckt man bald den guten treuen Menschen.»16 Oder sie verordnet ihm Nichtstun, «dumm» sei dieses ständige Schuften für den Schuhhersteller Bally: «Du bist – nimm es mir nicht übel – der Sklave Deines Unternehmens geworden, leider, leider.»17 Vielleicht bescheinigt der Bruder seiner älteren Schwester auch bundesrätliches Format, weil sie politischen Weitblick besitzt. Zu einer Zeit, als viele Adolf Hitlers Gewaltregime nicht wahrhaben wollten, stellt Bertha ihren Päuli zur Rede. Nachdem der Führer 1934 seine innenpolitischen Gegner erschießen ließ, schreibt sie ihm: «Bis es im Tütsche usse ruhig wird, das geht noch sehr sehr lange, gewiss. – Vorher muss der Hitler-Mörder s’Heftli us de Hände gäh & das wird noch etwas absetzen. Rufst Du nach allem Geschehenem immer noch ‹Heil Hitler›!? Jetzt hat er gezeigt, wer er in Wirklichkeit ist!»18

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9783857919855
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