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Kapitel 2 DIE UNSICHTBAREN KETTEN

Völlig in meine Gedanken vertieft sitze ich an meinem Arbeitsplatz vor dem PC. Seit mein Mann und ich in Rente sind, habe ich ein Drittel unseres geräumigen Wohnzimmers beansprucht. Ich habe es in einen Multifunktionsraum umgestaltet. Das mittlere Drittel des Raumes gehört der Sitzgruppe mit Fernseher für die gemütlichen Abende und das hintere Drittel gegenüber der Fensterfront, die die ganze Breite des Raumes einnimmt, ist der Essplatz. Ich genieße den Blick auf die Pflanzen am Balkon. In diesem Jahr habe ich mir ein Miniaturparadies geschaffen. Ich habe die wartende Haltung aufgegeben. Sie hat mich mein ganzes Leben lang blockiert und davon abgehalten auf die Stimme meiner Seele zu hören.

Das hatte durch die Paradiesversprechungen funktioniert, wie sie zu Tausenden in den Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft nachzulesen sind. Sie folgen bis heute immer dem gleichen Muster. Zum Beispiel im Wachtturm vom 15. September 2012:

Titel: „Frieden für tausend Jahre - und bis in alle Ewigkeit!“

„[…] Wie sollte sich diese wunderbare Aussicht auf uns auswirken? Eine angemessene Unterkunft braucht jeder, das ist klar. Aber wäre es klug, uns heute schon unser Traumhaus bauen zu wollen - und uns dafür womöglich massiv zu verschulden? Wäre es nicht viel besser, uns auf das Versprechen Jehovas zu konzentrieren? […]

Lässt du dich von den herrlichen Aussichten, die durch das Königreich schon sehr bald Wirklichkeit werden, dazu motivieren, dich voll und ganz dem Willen Gottes zu widmen? Gibst du acht, dich nicht von der Welt Satans mit ihren falschen Hoffnungen und scheinbaren Erleichterungen ablenken zu lassen? Stehst du fest in deinem Entschluss, Jehovas Souveränität zu unterstützen und zu verteidigen, und das für immer und ewig? Dann zeige es durch das, was du heute tust. Dein Lohn? Ein glückliches, gesegnetes Leben in Frieden - für tausend Jahre und bis in alle Ewigkeit!“

Ich habe nicht wirklich gelebt, sondern ich habe auf das Leben in einer fernen Zukunft gewartet. Jetzt will ich meinen Garten nicht mehr in dem kommenden Paradies nach Harmagedon anlegen.

Diese bedrohliche Schlacht Gottes, bei der das gesamte weltliche System der Dinge – einfach alles was nicht zu der irdischen Organisation Gottes gehört, vernichtet würde, hat nicht nur mein Leben mit Furcht vergiftet, sondern vor allem auch das meiner Kinder. Das Wort Harmagedon in Verbindung mit den Begriffen Satan, Teufel, Dämonen, Vernichtung war allgegenwärtig.14 In den Nachschlagewerken zur Wachtturmliteratur ergeben diese Suchbegriffe zehntausende Treffer.

Mit Suggestivfragen wurde das Gewissen manipuliert. Mit dem Argument, es gäbe nur die Wahl zwischen Leben oder Tod kam Angst vor der falschen Entscheidung auf. Wer weiß …, was, wenn sie doch Recht haben?

Wer für seine eigenen Bedürfnisse sorgte, anstatt sich für die Wachtturm-Interessen zu verausgaben, sollte sich schuldig fühlen.

Aus dem Wachtturm, Studienausgabe, 15. 02. 2013, Seite 23, letzter Absatz:

„Achte auf dein Herz“

„Mit zunehmendem Alter könnte jemand so sehr um die finanzielle Absicherung im Alter besorgt sein, dass er eher bereit ist, an Zusammenkunftsabenden Überstunden zu machen oder andere christliche Verantwortlichkeiten zu vernachlässigen. Sollte er sich nicht vor einer solchen Neigung hüten? Oder nehmen wir einen jungen Menschen, der weiß, dass es nichts Besseres als den Vollzeitdienst gibt. Trotzdem verschiebt er den Pionierdienst, weil er meint, er müsse sich zuerst finanziell absichern. Sollte er nicht lieber jetzt sein Bestes geben, um Gott gegenüber reich zu sein? Wer weiß, ob er morgen noch am Leben ist?“

Ich denke mit Schaudern an die grauenvollen Bilder von Feuer, Zerstörung und Menschen in Panik in den Büchern und Zeitschriften und daran, dass wir sie unseren Kindern erklären mussten. Mein Blick wandert zu der langen Reihe von Büchern im Regal neben der Schrankwand. Meine Augen heften sich auf einen Titel nach dem anderen. Ich habe alle diese Bücher nicht nur gelesen, sondern im Laufe der vergangenen 60 Jahre die Lehren darin auswendig gelernt.

Die Erinnerung an die Vergangenheit tut mir weh. Ich bin mir tief bewusst, dass ich einer Illusion von Liebe gefolgt bin. Beteuerungen wie „du bist so eine Bereicherung für unsere Versammlung“ oder „wir sind so dankbar, dass du und dein Mann bei uns sind“, kommen mir in den Sinn. Wir haben das sehr gerne gehört. Um dieses Ansehen zu erhalten haben wir uns verausgabt, ja selbst verleugnet. Der Preis war unser selbstbestimmtes Leben im Diesseits. Der Lohn sollte das ewige Leben im Jenseits, dem irdischen Paradies sein. Nun haben sich alle Beteuerungen der Liebe als Schall und Rauch erwiesen. Sie waren an die Bedingung geknüpft, dass ich immer tue was man von mir erwartet. Eigenständiges Denken und Handeln wurde als Feindschaft ausgelegt und war Grund genug, mich mit totaler sozialer Isolation zu bestrafen. Die unmissverständliche Aussage ist: Wenn Du nicht tust was wir sagen wirst Du einsam sein.15

Was waren die unsichtbaren Ketten, die uns so unentrinnbar gebunden hielten?

Mir kommt gerade das Höhlengleichnis von Platon in den Sinn. Unsere Professorin hat es bei der letzten Vorlesung erzählt, die ich im Rahmen der Erwachsenenbildung besucht hatte. Ich kann zwar meinen Traum von einem richtigen Studium an einer Universität nicht mehr verwirklichen, aber ich kann Seminare und Vorlesungen zu allen Themen besuchen, die mich brennend interessieren. Diese Freiheit genieße ich in vollen Zügen.

Platon beschreibt Menschen in einer höhlenartigen Wohnung. Diese hat einen gegen das Licht geöffneten Zugang. Die Menschen sind gegenüber diesem Zugang an ihrem Platz gefesselt. Sie können sich nicht vom Fleck bewegen und nur in die eine Richtung gegen die Wand schauen. Alles, was diese Höhlenbewohner wahrnehmen können, sind die Schatten der Menschen, Dinge und Ereignisse, die hinter ihnen vorüberziehen. Doch da die Menschen von Kindesbeinen an nichts anderes kannten, halten sie die vorübergleitenden Schatten für die Wirklichkeit.

Platon beschreibt nun die Erfahrung eines dieser Höhlenbewohner, der gezwungen wird, sich von den Fesseln zu befreien, aufzustehen und hinauszugehen aus der Höhle in das Licht, das er gesehen hat. Das Licht blendet ihn. Er sieht zunächst nichts. Es schmerzt ihn. Nur langsam erkennt er Spiegelungen und es dauert lange, bis er bereit ist, seine Wahrnehmung zu verändern und die neue Wirklichkeit zu sehen.

Vor mehr als 2 000 Jahren hat dieser weise Philosoph bereits erkannt, dass es ein harter Weg ist, Neues zu erforschen, den Sinn an neue Erkenntnisse und Gedanken zu gewöhnen. Doch wenn man erst damit begonnen hat, neue Wirklichkeiten zu begreifen, kann das einen unbändigen Forscherdrang auslösen. Wenn man akzeptieren kann, dass nicht alles Gold ist was glänzt, dass unsere Wahrnehmung täuschen kann, dass die Sonne keine Scheibe ist und die Fata Morgana keine Oase, wächst der Mut nach neuen Ufern zu streben.

Ich erinnere mich daran, wie ich meine erste EMMA gekauft habe. Das werde ich nie vergessen. Ich hatte Herzklopfen und Schweißperlen auf der Stirn. Als die nette Verkäuferin das Titelbild mit einem Flyer abdeckte, war ich ihr insgeheim sehr dankbar.

Warum war das für mich so eine außergewöhnliche Tat? Als ich in diesem Buchladen stand, wirkten die Warnungen der vergangenen Jahrzehnte auf mich. Sie triggerten16 meine Angst vor der weltlichen Weisheit, die unter der Macht des Teufels steht.

Mit Ratschlägen wie die nachfolgend zitierten wuchs ich auf, habe sie befolgt und vor allem auch an meine eigenen Kinder weitergegeben:

Manche Mütter achten nicht sonderlich darauf, daß die Kleidung ihrer Jungen luftig ist, denn sie wissen nicht, wie es sich auf das Leben eines Jungen auswirken kann, wenn er Kleidung trägt, die unten herum eng ist. Es ist so, wie ein Arzt sagte:, Durch eine Unterhose, die so eng anliegt, daß das Geschlechtsteil dauernd am Verschluß scheuert, wird die Aufmerksamkeit so sehr darauf gelenkt', daß es dem Kind zur Gewohnheit wird, sich daran zu schaffen zu machen. Hat es sich das einmal angewöhnt, dann ist es schwierig, es sich wieder abzugewöhnen. … diese üble Gewohnheit könnte bewirken, daß er das seelische Gleichgewicht und die Selbstbeherrschung verliert. Durch diese Gewohnheit wird die Aufmerksamkeit auf den Körper und dessen Begierden gelenkt, auch bringt sie einen auf unsaubere und unanständige Gedanken, und das kann zur bestimmten Zeit zu unrechten Handlungen führen — zu Homosexualität, Hurerei usw. Ein Arzt schrieb:, Diese Gewohnheit mag sich im späteren Leben schädlich auswirken, weil die geschlechtliche Reizbarkeit gesteigert und dadurch die Voraussetzung zur Unsittlichkeit geschaffen wird.’“17

Dementsprechend voluminös war meine Kleidung, denn sinngemäß wurde das natürlich auch auf Mädchen übertragen. Als ich 20 Jahre alt war, kaufte mir mein heimlicher Verlobter für einen ganzen Wochenlohn ein wunderschönes Kleid. Es war figurbetonend geschnitten, aus cremefarbenem Bouclé.

Ich werde die bewundernden Blicke nie vergessen, die ich in seiner Begleitung geerntet habe. Aber ich werde auch den Zorn meines Vaters nie vergessen, der es als Skandal empfand und der schließlich verhinderte, dass ich es je wieder tragen konnte.

Die Rolle der Frau in dieser unerkannten Scharia war die einer demütig dienenden und gehorsamen Gehilfin des Ehemannes – ihres Hauptes. Ihre einzige Bestimmung war, für das Wohl der Familie zu sorgen und zu predigen, beziehungsweise den Menschen zu verkünden, dass sie bald vernichtet werden, falls sie sich nicht zu dieser Religion bekehren lassen. Sie hatte dabei stets einen stillen und milden Geist18 an den Tag zu legen. Das negative Vorbild der Königin Isebel wurde als abschreckendes Beispiel und Warnung vermittelt, nicht wie sie zu sein.19

Die Zeitschrift EMMA, die für eine ganz andere Rolle der Frau eintritt, zu kaufen, wäre mir früher nicht möglich gewesen. Zu solch einer ketzerischen Tat hätte ich niemals den Mut aufgebracht.

Inzwischen konnte ich mich mit der Hilfe meines Sohnes aus den Ketten meiner Höhlenbehausung befreien. Dafür stehe ich nun völlig isoliert in einer fremden Welt und versuche mit Herzklopfen herauszufinden, was an den früheren Warnungen vor diesem so bösen System wahr ist.

Die Zeugen-Höhlenbewohner müssen dem Wachtturm vom 15. April 2012, Seite 12 gehorchen:

„Was aber, wenn wir mit jemand, der ausgeschlossen werden musste, verwandt oder eng befreundet sind? Dann steht jetzt unsere Treue auf dem Prüfstand, und zwar, nicht gegenüber dieser Person, sondern gegenüber unserem Gott. Jehova schaut nun darauf, ob wir uns an sein Gebot halten, keinen Kontakt mehr mit jemandem zu haben, der ausgeschlossen ist.“

Meine Familie hält sich treu an dieses Gebot. So hielt ich also meine erste EMMA Winter 2012 in der Hand, hatte Herzklopfen dabei und war dieser netten Verkäuferin dankbar dafür, dass sie das Titelbild, die Demonstration mutiger, barbusiger Frauen gegen Sextourismus, verdeckte. Ich bin sicher, dass sie meine Verlegenheit gespürt hat.

Kapitel 3 DIE BRÜCKE ZUM EINSTIEG – VERTRAUEN

Man kann eine durch Jahrzehnte geprägte Lebensführung nicht einfach mit einer Willensentscheidung über Bord werfen. Es ist eine Sache, rational mit dem Kopf zu wissen, dass etwas verkehrt gelaufen ist. Doch es ist eine ganz andere Sache, dieses Wissen auch in das Herz oder die unbewussten Steuerungsvorgänge dringen zu lassen.

Obwohl es unglaublich einfach sein könnte, eine bedrückende Gemeinschaft zu verlassen, da es ja keine sichtbaren Ketten der Gefangenschaft gibt und alle Türen offen stehen, gelingt es nur, wenn man die Täuschung erkennen kann. Es ist wie mit dem Goldfisch im Glas. Er könnte leicht herausspringen, doch es wäre sein sicherer Tod. Solange ich unserer Leitung ohne zu zweifeln vertraute, war ich überzeugt, es wäre mein oder Mitgliedern meiner Familie sicherer Tod, wenn ich diese Organisation verlasse. Falls ich oder eines meiner Kinder nicht durch einen schlimmen Unfall, eine Krankheit, einen Blitzschlag oder eine andere Katastrophe sofort zu Tode käme, würde ich doch spätestens in Harmagedon in dem Blutbad und Feuersee enden.

Offenbar ließen wir uns vor mehr als sechs Jahrzehnten von einem Schatten der Wirklichkeit, von einer Fata Morgana blenden. Sie sprach unser Gefühl und unsere natürlichen Sehnsüchte20 und Wünsche an, und wir gingen in die erste Falle der Seelenfänger – sie köderten uns, indem sie unser Vertrauen erschlichen.

Unser Unterbewusstsein sortiert die Informationen. Wenn sie aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammen, nehmen wir sie eher ungeprüft an. Wir vertrauen dem Überbringer der Botschaft. Sektenwerber sprechen das Gefühl an. Der Wunsch nach Anerkennung kann die klare Sicht trüben.

Meine Eltern entwickelten ein grenzenloses Vertrauen in die Worte der Heiligen Schrift, so wie sie von dem Vertreter der Wachtturm Organisation übermittelt wurden.

Sie wurden nicht skeptisch bei Erklärungen, die sich fundamental an die Buchstaben des Wortes hielten. Auch diese Methode war ausgezeichnet dazu geeignet, gegen Kritik von außen und gegen zweifelnde Fragen im eigenen Sinn immun zu machen.

Der verwendete Bibeltext war aus 2. Timotheus, Kapitel 3, Vers 16

alle Schrift ist von Gott eingegeben …“.

Man kann sagen, das ist gleich einem Dogma eine unverrückbare Aussage der Zeugen Jehovas. „Die Ganze Schrift ist von Gott inspiriert“, will sagen, dass alles, was in diesem Buch steht, gleichwertig heilig und unantastbar ist. Ich möchte es mit einem riesigen Berg Lego-Bausteine vergleichen, die alle so genormt sind, dass sie sich zu beliebigen Konstruktionen zusammensetzen lassen. Damit kann man die unterschiedlichsten Modelle bauen. Große und kleine Häuser, Straßen, Autos, Flugzeuge usw. Die Steine passen immer zusammen. Wobei die Bibel selbst aus unterschiedlichsten Literaturgattungen zusammengestellt ist. Es ist eine kleine Bibliothek, die zu einem Kanon zusammengefügt wurde. Da gibt es Geschichtsbücher wie die Chronika und Könige. Sie enthält Weisheitsliteratur wie die Sprüche, Prediger oder Hiob. Auch Lyrik kommt nicht zu kurz, man denke an das Hohe Lied oder die Psalmen. Jeder kennt die Evangelien, die Apostelbriefe, die Apokalyptischen Bücher wie Offenbarung oder Daniels Prophezeiung.

Viele Redewendungen, die charakteristisch für die blumige Sprache der Semiten sind, kann man nur verstehen, wenn man die Bibel mit den Augen der damaligen Kultur und dem damaligen Wissen betrachtet. Eine wörtliche Übersetzung aus den ursprünglichen Schriften kann meilenweit von der eigentlichen Bedeutung entfernt sein. Gerade die blumige Sprache der Semiten, das Aramäische, enthält unzählige Redewendungen, die man nicht wörtlich übersetzen oder anwenden kann.21

Sollte es da verwundern, dass ein Wort aus dem obigen Bibeltext nicht genau wiedergegeben ist? Es wird einfach ignoriert, dass dort steht, die Schrift sei „nützlich“. Mit der erlernten selektiven Wahrnehmung haben wir solche Worte ausgeblendet. Es wäre ja verwirrend gewesen, dass eine Aussage lediglich „nützlich“ ist und kein unumstößliches Gebot.

Manipulation durch Erlernen der selektiven Wahrnehmung. Der Aussage, die von einer Quelle stammt, der man vertraut, wird zugestimmt, auch wenn sie nur zu einem Teil wahr ist. Der Rest – zum Beispiel eine schlichte Behauptung, wird ausgeblendet.

Auf diese Weise wird ohne Rücksicht auf Zeit und Ort der Aufzeichnung, auf den Kontext oder den Grund der Niederschrift, von irgendeiner Stelle nach der Rösselsprungmethode ein Zitat verwendet. Es scheint eine Behauptung oder Lehre zu stützen und es als Gottes persönlichen Willen auszugeben. Sobald man eine Aussage mit einem Bibeltext verbinden kann, gilt sie als biblischer Grundsatz.

Widersprüchliche Texte gelten nicht als Widersprüche, sondern als falsch verstandene Aussagen. So lässt sich erklären, dass einmal eine Zahl buchstäblich zu verstehen ist, ein andermal symbolisch. Einmal wird erklärt, der „Sauerteig“ sei positiv zu verstehen. Ein anderes Mal steht er für die negativen Folgen der Zerstörung des Glaubens. Es gibt für diese Art der widersprüchlichen Lehre unzählige Beispiele. Für jede Auslegung findet man auch einen Text, der passt, wie die genormten Lego-Bausteine.

Durch verwirrende Aussagen entsteht Konfusion. Das ist die Voraussetzung, dass wir die Schuld immer bei uns selbst suchen. Mit uns muss etwas nicht stimmen, wenn wir es nicht verstehen. Wir wollen konform sein mit der Gruppe und geben die „richtige Antwort“, obwohl sie falsch ist. (Nach Liftons Methode der Bewusstseinskontrolle)

Das Vertrauen, das meine Eltern in die Bibelerklärungen der Zeugen entwickelten, übertrugen sie unmerklich auch auf alles, was sie in den Schriften, die ihnen gegeben wurden, lesen konnten. Da sie der Quelle vertrauten, haben sie auch dem Überbringer vertraut. Sie kannten das Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht“. Dass alle Religionen Unrecht haben, weil sie angeblich falsche Erklärungen der Bibel verbreiten, wurde uns mit ganz simplen Bibelsprüchen „bewiesen“. Wir sollten glauben, nur die Bibelforscher – wie man damals zuweilen noch Zeugen Jehovas nannte –, sagen die absolute Wahrheit.

Hätte uns doch damals jemand über die Grundlagen von Fundamentalismus und Extremismus aufgeklärt! Hätten wir doch erkennen können, dass die wortwörtliche Anwendung fundamentaler schriftlicher Überlieferungen ein Verharren in dem Wissensstand der zurückliegenden Jahrhunderte bedeutet. Fundamentalisten weigern sich Texte zu interpretieren und sie in ihrem Kontext und dem ursprünglichen Zweck der Niederschrift, sowie dem seinerzeitigen Wissen zu reflektieren.

Wahrscheinlich wäre uns dann der kurze Weg vom Fundamentalismus zum Fanatismus oder Extremismus aufgefallen. Hätten dann meine Eltern nicht aus ihrer Erfahrung mit den fanatischen Nationalsozialisten eher skeptisch reagiert? Davon bin ich jedenfalls überzeugt.

Wie sehr hätte uns das Wissen beschützt, dass man destruktive Kulte an der Behauptung erkennt, die einzig wahre Lehre zu besitzen. Die einen behaupten zum Beispiel, alle Menschen seien hypnotisiert. Allein diese Gruppe würde mit ihren Methoden de-hypnotisieren. Alle Menschen leben angeblich in Finsternis oder unter der Macht Satans, nur diese eine Gruppe nicht. Nur der Führer, Guru, die erleuchtete Mutter dieser Gruppe sei auserwählt, besitze die göttliche Energie, Weisheit, das Licht, offenbare die heiligen Geheimnisse, usw. Auch hierfür gibt es unzählige Beispiele.

Sicher wäre uns dann aufgefallen, dass sich mit einem besonderen Bauplan ein sehr simples Erklärungsmodell bauen lässt. Das Prinzip Vorbild/​Gegenbild kann man auf alles anwenden, was als Vorschrift für gruppenkonformes Denken und Handeln vermittelt werden soll.

Episoden aus der biblischen Geschichte dienen als Grundsatzmodell für das gegenwärtige Verhalten oder als Muster für die Endzeitprognosen. Mit dem Vorbild wird oft eine sogenannte Gewissensentscheidung, ungeachtet der historischen Hintergründe, angemahnt.

Wieder bekommt das Vorgehen ein Siegel von der höheren Instanz durch ein Bibelzitat:

„ … was vorzeiten geschrieben wurde, ist zu unserer Unterweisung geschrieben worden, …“22

Weil die Schlange vom Teufel benützt wurde, Eva im Paradies zu verführen, ist auch heute der Teufel ständig auf der Lauer, wie er Menschen zur Sünde verführen kann. Zum Beispiel verführt er kleine Kinder dazu, mit Plastikspielzeug zu spielen, das einen Zauberer darstellt. Wie es in dem neuesten Video der Wachtturm-Gesellschaft „Werde ein Freund Gottes“ suggeriert wird. Das wäre mit der Sünde Evas zu vergleichen, die von der verbotenen Frucht gegessen hat.

Weil Gott eine schlechte Welt durch eine Sintflut vernichtet hat, wird es die gegenbildliche Erfüllung, den großen Krieg Gottes, Harmagedon genannt, geben, in dem alles Böse, womit das gesamte menschliche System gemeint ist, von der Erde ausgerottet werden wird.

Weil eine arme Witwe ihre letzte kleine Münze in den Tempelschatz gegeben hat, ist sie ein Vorbild für die Gläubigen, sich mit allem, was sie haben, Schätze im Himmel anzuhäufen, indem sie ihre materielle Habe für die sogenannten Interessen des Königreiches (weltweite Neumitgliederwerbung) spenden.

Durchforscht man die Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft nach Lebensberichten und Erfahrungen, begegnet man sehr häufig den Aussagen: „Wir haben unser Haus oder unser Geschäft oder Besitz verkauft, ein Studium abgebrochen, auf eine Karriere verzichtet, die Lebensversicherung oder die Altersversorgung vorzeitig gekündigt, weil wir glaubten, in der kurzen Zeit bis Harmagedon sei nichts wichtiger als die gute Botschaft vom Königreich zu predigen.“ Aber man sucht in der Wachtturm-Literatur vergeblich nach einer direkten Aufforderung Häuser und Besitz zu verkaufen oder die Lebensversicherung und Altersversorgung vorzeitig zu kündigen.

399
557,31 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
270 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783954888481
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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