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1.4.4 Brigitte Rollett – die ‹Doyenne der Lerntherapie›

Bevor Brigitte Rollett 1979 als Leiterin der Abteilung für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie des Instituts für Psychologie an die Universität Wien berufen wurde, hatte sie ab 1964 Professuren für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück, der Gesamthochschule Kassel und der Ruhr-Universität Bochum inne.[10] Heute ist sie emeritiert – und immer noch aktiv.

Sie hat zusammen mit Mathias Bartram ab den 70er-Jahren das Langzeitprojekt der Lerndiagnose und Lerntherapie entwickelt und wissenschaftlich evaluiert. Die frühen Publikationen dazu erfolgten in Kooperation mit Bartram.[11] Dies ist von Bedeutung: das Konzept ist somit in Deutschland entstanden – die wissenschaftliche Forschung dazu ging ab 1979 in Wien weiter.

Ausgangspunkt bildet die Erfahrung, dass «in der Praxis der Erziehungsberatung und der Kinderpsychotherapie» zwar eine «Mehrzahl der Kinder wegen Schulschwierigkeiten vorgestellt wird», Lernprobleme aber häufig nur als «Symptom anderer emotionaler Störungen» verstanden werden. Eine Lerntherapie im engeren Sinne bleibt in der Regel dem «Geschick» und der «natürlichen Begabung» des Nachhilfelehrers überlassen (Rollett & Bartram, 1975, S. 81). «Charakteristisch für den lerntherapeutischen Ansatz ist, dass Lernstörungen nicht als bloßes Symptom angesehen werden, sondern als Teil der Ursachenmatrix für das gestörte Verhalten des Kindes. Die therapeutische Beeinflussung der Lernstörung wird daher systematisch in den Behandlungsplan miteinbezogen» (a.a.O., S. 82). Voraussetzung dazu ist eine differenzierte Lerndiagnose, die den schulischen Leistungsstand erfasst und mögliche Störbedingungen des Aneignungsprozesses im Persönlichkeitsbereich oder in sozialen Beziehungen der Klienten identifiziert.

Und weiter: «Um Chancengleichheit zu gewährleisten, ist es notwendig, die Techniken der Lerndiagnose und -therapie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage aufzubauen und sie in der Schule zu institutionalisieren», wie dies mit dem Beispiel der «Implementation der Legasthenikerförderung im Bildungsplan des heutigen Schulsystems» gelungen ist (a.a.O., S. 82). Das Projekt verfolgt also das ambitionierte Ziel einer ins Schulsystem integrierten Lerntherapie – was auch impliziert, dass sie allen ihrer Bedürftigen offenstehen sollte.

Die Autorin und der Autor definieren die Lerntherapie sehr allgemein: Sie «beschäftigt sich mit jenen Verfahren, die die Herstellung eines bestimmten ‹sachstrukturellen Entwicklungsstandes› ermöglichen» (a.a.O., S. 82). Da muss man genau hin-lesen: Die Lerntherapie wird hier nicht als die Tätigkeit der Lerntherapeutin oder des Lerntherapeuten verstanden, sondern als Sammlung verschiedener Verfahren verschiedener Fachleute.[12] Diese reichen von heilpädagogischen Programmen zur Behebung spezifischer Lernstörungen, von pädagogisch-psychologischer Beratung von Klienten, Eltern und Lehrkräften bis hin zu psychotherapeutischen Einzel-, Gruppen- oder Familientherapien. Im Terminus des sachstrukturellen Entwicklungsstandes steckt einerseits Normatives, welches durch die schulstufenspezifischen Curricula des Bildungssystems vorgegeben ist. Anderseits muss der Begriff für die Lerntherapie weiter gefasst werden, damit im Prozess der Klärung der Ziele der therapeutischen Intervention «die Wünsche und Bedürfnisse des Klienten und der unmittelbar betroffenen Sozialpartner» ebenso einbezogen werden können, «wie die lerndiagnostischen Befunde» (a.a.O., S. 83).

Wo lerntherapeutische Interventionen geplant und wissenschaftlich evaluiert werden sollen, sind Verfahren aus der Kinderpsychotherapie, aus der Heilpädagogik und der empirischen Unterrichtsforschung zu integrieren – was methodische Fragen türmt, deren «Problematik in der Regel hinsichtlich ihrer Komplexität unterschätzt wird» (a.a.O., S. 115). Die jeder Behandlung notwendigerweise vorangehende Entwicklung einer Zielmatrix muss zunächst mit einer individueller Lerndiagnose (die aktuell gegebene Verhaltensmatrix) abgeglichen werden. Aus diesem Vergleich erfolgt in einem dritten Schritt eine Bestimmung konkreter Behandlungsziele bezüglich der zu erlernenden Sachbereiche und der Beseitigung von – innerpsychischen oder sozialen – Störbedingungen des Lernvorgangs. Erst jetzt können Prioritäten lerntherapeutischer Ziele in einen Zeitplan umgesetzt und die geeigneten lerntherapeutischen Methoden ausgewählt werden (siehe auch Rollett, 1981).

Die Autorin und der Autor beschreiben die methodischen Probleme eingehend und diskutieren Lösungsansätze und -möglichkeiten (Rollett & Bartram, 1975, S. 94ff.). Ohne diese hier eingehend referieren zu wollen, seien beispielhaft einige Punkte genannt. Sie scheinen auch 45 Jahre später für lerntherapeutische Belange gleichermassen relevant und anregend:

 Das wissenschaftliche Grossprojekt steht und fällt mit einer sorgfältigen Diagnostik mit vielfältigen Entscheidungs- und Planungsprozessen – welche «bei möglichst geringen diagnostischen Kosten […] zu möglichst hohem prognostischem Nutzen führen» sollen (a.a.O., S. 94). Sie präsentieren ein Beispiel eines algorithmischen Entscheidungsprozesses: ausgehend vom therapeutischen Grossziel Erzielen höherer Arbeitsgeschwindigkeit beim Rechnen sind diagnostische Fragen formuliert, welche schrittweise zu neun möglichen lerntherapeutischen Interventionen aus den Bereichen Schule, Verhaltensmodifikation, sozialpsychologischer und psychotherapeutischer Unterstützung bis hin zur Heilpädagogik reichen – die klein gedruckte Darstellung füllt eine ganze Seite (vgl. a.a.O., S. 96). Die Schreibenden sind sich bewusst, dass «perfektionistische Planungen, die alle möglichen Ausgänge von Entscheidungsprozessen vorweg abklären wollen, gewöhnlich zum Scheitern verurteilt» seien (a.a.O., S. 95). «Diese Entscheidungen können nicht durch eine einmalige ‹große Diagnostik› zu Beginn der Behandlung festgelegt werden. Die aufgrund zureichender diagnostischer Informationen zu Anfang erfolgte Grobplanung sollte vielmehr durch immer präzisere Feinplanung abgelöst werden» (a.a.O., S. 98), welche erst durch diagnostische Informationen aus dem therapeutischen Prozess selbst möglich wird. Rollett moniert (1977, S. 138f.), dass die von Untersuchenden gerne gebrauchten Diagnoseschemata die Klienten belasten, zudem hätten vor allem jüngere einen kürzeren Spannungsbogen und ermüdeten leichter als ältere. Sie plädiert für Sparsamkeit und dafür, zunächst von den wahrscheinlichsten Hypothesen auszugehen, welche mit dem schulischen Lehrplan assoziiert sind – also Legasthenieabklärungen dann, wenn das Zusammenziehen der Buchstaben, Dyskalkulieabklärungen dann, wenn der Zehnerübergang oder das Einmaleins angesagt ist.

 «Lerntherapie kann [sowohl] für ‹einzelne Schüler› als auch für ‹Gruppen von Schülern› durchgeführt werden» (Rollett & Bartram, 1975, S. 83, vgl. dazu auch S. 88ff.). Für schulbezogene Lerntherapien wird aber postuliert, dass diese aus ökonomischen Gründen für Gruppen konzipiert werden müssen. Individuelle Diagnosen und Einzeltherapien wären nur dann durchzuführen, «wenn sich die Lernstörungen gegenüber den allgemein therapeutischen Massnahmen als therapieresistent erweisen.» Die Gruppentherapien sind dort angezeigt, wo es sich um «klar definierte und isolierte Lernstörungen, wie etwa Legasthenie, Konzentrationsschwäche, motorische Ausfälle oder ähnliches handelt» (a.a.O., S. 83). Zur Bildung «diagnostisch relevanter Lerngruppen» entwickeln sie ein Testinstrument (Kombiniertes Lern- und Persönlichkeitsinventar, KLPI) und bestimmen daraus mit Hilfe statistischer Verfahren Lerngruppen, welche sehr ähnliche Muster in den Subtest-Leistungen aufweisen. Pro Gruppe werden lerntherapeutische Vorgehensweisen abgeleitet (a.a.O., S. 108ff.). Entsprechendes wird auch für Gruppenpsychotherapien vorgeschlagen, welche störende innerpsychische Begleitumstände von Lernschwierigkeiten und Fehlentwicklungen im Sozialverhalten angehen können – auch hier durch «optimale Gruppierung der Klienten nach Symptombildern» (a.a.O., S. 89).

 Eines der Kernkonzepte ist das der Anstrengungsvermeidung, zu dem Rollett und Bartram einen Test[13] entwickelt haben. Da ich diesen nicht zur Hand habe, behelfe ich mich mit der Magisterarbeit von Spöck (2011), welche das Verfahren breit darstellt. Interessant dabei: Mehr als die Hälfte der Test-Items, welche diese Tendenz messen, «wurden anhand gesammelter Schüler-Entschuldigungen, die verfasst wurden, um Anstrengung zu vermeiden, erstellt» (a.a.O., S. 20). Diese Anstrengungsvermeidung kann «als Schutzreaktion auf schulische Überforderung» verstanden werden (Rollett, 2004, S. 90) und ist damit verwandt mit der Misserfolgsorientierung des Risiko-Wahl-Modells von Atkinson (1957) – sozusagen als gelernte Vermeidungshaltung aversiver Emotionen eines Ich-kanns-ja sowieso-nicht (vgl. Spöck, 2011, S. 8).[14] Aus der Fülle belegter Zusammenhänge – bis heute Thema von Magisterarbeiten und Dissertationen – einige Beispiele: Anstrengungsvermeidung korreliert positiv mit der Zeit, welche für Arbeitsblätter der Vorschulförderung im Kindergarten aufgewendet wird; mit einem autoritären und Laisser-faire-Erziehungsstil (vs. einem sozial-integrativen) der Eltern; mit der schulischen Leistungsbeurteilung nach sozialer (vs. individueller) Bezugsnorm; mit hohem TV-Konsum – negativ mit Ergebnissen von Intelligenztests oder Skalen zur positiven Selbsteinschätzung et cetera (vgl. Rollett, 2004, S. 87–95). Die Autorin benutzt auch den Ausdruck, dass die Kinder mit Vermeidungshaltungen «durch eine lange Lerngeschichte stark überlernt» seien (a.a.O., S. 95). Ohne dass dies in den Arbeiten explizit erwähnt wird: Der Anstrengungsvermeidungstest scheint auch negative Auswirkungen des im Schulsystem implizierten Leistungswettbewerbs abzubilden, welcher sich in die Grundhaltungen der Schüler einschreibt und der ursprünglich-kindlichen Erfolgszuversicht im schlimmsten Fall den Garaus macht. Rollett zählt Anstrengungsvermeidung «zu den am schwierigsten zu therapierenden Reaktionen auf (schulische) Überlastung. […] Je unnachgiebiger die Leistungsansprüche der Außenwelt sind, desto massiver treten die Anstrengungsvermeidungstendenzen auf» (a.a.O., S. 87). Sie stellt aber auch einen detailliert begründeten Ablaufplan für eine entsprechende lerntherapeutische Intervention vor (Rollett, 2005, S. 105).

 Unter dem Titel «Ansätze zur Lerntherapie» werden psychodynamische Therapien vorgestellt und mögliche Beiträge diskutiert. Die Idee dahinter: Bestimmte Formen eignen sich für bestimmte Problemlagen besser als andere (Rollett & Bartram, 1975, S. 83ff.). Später wird ein «multiaxiales Kategoriensystem der Therapierichtungen» den «Diagnosegruppen für die Behandlungszuweisung» gegenübergestellt (Rollett, 1994, S. 127f. und 132f.). Historisch interessant: Der älteste dieser Ansätze wird bei Anna Freud (1927) lokalisiert, welche die Rolle der Kinderpsychoanalytikerin um den Aspekt pädagogisch-erzieherischen Einflussnahmen erweitert.[15] Einen eigentlich «lerntherapeutischen Ansatz» finden Rollett und Bartram (1975, S. 85ff.) in der neoanalytischen Kinderpsychotherapie von Annemarie Dührssen (1960, vgl. S. 308–330): Weil die Behandlungsbedürftigkeit bei Schulkindern erfahrungsgemäss immer mit Schulschwierigkeiten einhergeht, sind auch Letztere diagnostisch zu berücksichtigen. Dührssen unterscheidet allgemeine Lernschwierigkeiten (Ängste, Lernprotest u.a.), welche sie psychotherapeutisch angeht, von spezifischen Lernstörungen (z.B. im Lesen, Schreiben, Rechnen; beim Einprägen von Lernstoffen oder Störungen im Arbeitsverhalten), welchen sie mit spezifischen therapeutischen Lernhilfen begegnet. Dies umfasst durchaus auch sozusagen lerndiagnostisches Arbeiten an schulbezogenen Inhalten – ohne, dass die Therapeutin systematische Nachhilfestunden selbst übernimmt. Sie hat allerdings dafür zu sorgen, «dass diesen Kindern von irgendeinem affektiv neutralen Menschen Nachhilfeunterricht gegeben wird» (a.a.O., S. 317).

1.5 Bilanz

Die Lerntherapie ist an deutschen Hochschulen entstanden. Das Team Rollett und Bartram bewegte sich während der 70er-Jahre im Dreieck Kassel, Osnabrück und Bochum. Die früheste belegbare Erwähnung des Begriffs Lerntherapie von Rollett und Bartram datiert aus dem Jahr 1972. Das zweite Team von Betz und Breuninger scheint zwischen Essen und München unterwegs gewesen zu sein. Ihre erste Publikation mit der Nennung des Begriffs Lerntherapie stammt von 1987, inhaltliche Vorprojekte datieren aber bereits Mitte der 70er-Jahre. Beide Langzeitprojekte verfolgen letztlich sehr Ähnliches, kommen ansatzweise zu vergleichbaren Vorgehensweisen und beide haben aufwendige Begleitforschung betrieben. Es besteht aber Grund zur Annahme, dass die beiden Teams einander wissenschaftlich schlicht nicht zur Kenntnis genommen haben – jedenfalls finden sich in den Literaturverzeichnissen beider Teams keine Hinweise auf das jeweils andere. Falls sich dieser Eindruck bestätigen sollte, wäre dies zumindest ‹eigenthümlich›.

Dies gilt natürlich auch für Armin Metzger. Wie er – um 1990 herum – zum Begriff Lerntherapie fand, lässt sich aus der Quellenlage nicht erschliessen. Man könnte seinen psychotherapeutischen Zugang in Sukzession der frühen psychoanalytischen Pioniere der Erziehungsberatung sehen – von ihm selbst wahrscheinlich unbewusst und sicher unbeabsichtigt, auch wenn er 1990 einige Autoren zwar anführt, in späteren Publikationen aber keine Bezüge mehr herstellt. Betz und Breuninger (1987) erwähnt er 2008 und 2014 – in je einem kurzen Hinweis, ohne inhaltlich auf ihre Konzeption einzugehen.

Wie auch immer – möglicherweise wurde dieses spezielle Rad von verschiedenen Pionieren individuell und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten erfunden. Dies ändert nichts daran, dass die Lerntherapie auf circa 50 Jahre gemeinsame Geschichte zurückblicken könnte – zusammen mit den informellen Vorläufern ‹avant la lettre› auf ziemlich genau 100 –, wenn denn die Unterschiede nicht zur Abschottung, sondern zu Austausch und Anregung verwendet worden wären. Die Begründungen dieser Unterschiede dürften auf die historisch, gesellschaftlich und schulpolitisch verschiedenen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung ebenso bezogen sein wie auf die individuell verschiedenen Curricula der Forschenden selbst. Verschiedene Zugänge zu gesellschaftlich relevanten Forschungsfragen haben vieles für sich und bereichern den wissenschaftlichen Diskurs – solange dieser nicht Fragestellungen schlicht liegen lässt, die nach wie vor einer Lösung harren. Das Beispiel eines Zugangs zur Lerntherapie auch für diejenigen, die eine solche zwar am nötigsten hätten, deren Eltern sich dies ökonomisch aber schlicht nicht leisten können, soll genügen. Es verknüpft sich allerdings nicht nur mit Überlegungen zur Ausgestaltung der Bildungsinstitutionen – sondern auch mit der Frage, ob die früheren Experimente mit Formen der Lerntherapie, die streckenweise in Kleingruppen gearbeitet haben, es aus ebendiesen ökonomischen Zwängen nicht verdienen würden, gemeinsam wieder aufgegriffen und weiterentwickelt zu werden.

Lerntherapeutinnen und -therapeuten leben ja nicht auf verschiedenen Inseln[16], sondern im deutschsprachigen Raum Europas, welcher eigentlich sehr gut vernetzt ist. Bei den Recherchen zu einigen historischen Fragmenten zur Geschichte der Lerntherapie habe ich die verschiedenen Denktraditionen, welche sich in die DNA des Fachs eingeschrieben haben, als äusserst anregend erlebt. Die Unterschiede im Fokus des theoretischen und methodischen Zugangs, in der Anbindung an die Schule und in der Ausbildung der lerntherapeutisch Tätigen sind erheblich – ebenso aber auch die Gemeinsamkeiten, welche überall mächtig durchscheinen. Dazu gehören primär eine mehr oder weniger grosse Distanz zu den Gegebenheiten der real-existierenden Pädagogik im Klassenzimmer und ein kompromissloses Eintreten für die Kinder: Schülerinnen und Schüler, welche am absurden Leistungswettbewerb verzweifeln, welche darunter leiden, dass ihnen Lehrende (und Eltern) das versagen, was sie dringendst nötig hätten: emotionale Sicherheit und Zuwendung, kompetente Hilfe und Unterstützung statt Leistungsdruck und Vorwürfe. Kinder brauchen Beziehung und so wunderbar Altmodisches wie in einem Spruch des Mundart-Schriftstellers Albert Bächtold aus dem Schaffhauser Klettgau, in dem ich aufgewachsen bin, beschrieben: «Di Guete gern haa, isch liicht – aber di andere hend’s nötiger.»[17]

1.6 Epilog: Eine letzte biografische Reminiszenz

Zu meiner Zeit an der Erziehungsberatungsstelle des Kantons Schaffhausen (1976–80) stammten Kinder mit Migrationshintergrund noch meist aus Italien. Die Kleinen sassen von einer Woche auf die nächste in einer Regelklasse der Unterstufe – meist ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Sie wurden von eher ängstlichen Lehrerinnen beinahe zuverlässig für eine «Hilfsschul-Abklärung» angemeldet – oft mit der implizit schlichten Annahme, schlechte Leistungen in Deutsch würden auf eine möglicherweise eingeschränkte Intelligenz verweisen. Ja, natürlich wollte ich mir ihre Geschichten erzählen lassen – und wenn es mit der Mama und dem Kind sprachlich zu schwierig war, holte ich den liebenswürdigen Pater der Missione Cattolica dazu, welcher zwischen den beiden Kulturen behutsam und respektvoll vermitteln konnte. Die Kinder liess ich beim beobachteten Spielen erzählen, liess ihnen überhaupt Zeit, aufzutauen. Klar machte ich mit ihnen (es waren wahrscheinlich insgesamt etwa sieben oder acht, die bei mir landeten) etwas Diagnostik: einen sprachfreien IQ-Test, ich liess sie einiges zeichnen, um Entwicklungsverzögerungen ausschliessen zu können, und weniges mehr. Zusätzlich führte ich aber unaufgefordert eine Legasthenie-Abklärung durch. Wunderbarerweise gab der damals eingesetzte Test bei Deutsch-Anfängern zuverlässig an. Ich diagnostizierte meist eine schwerere oder mittelschwere Legasthenie, schrieb zuhanden der Kostenstelle ein kleines Gutachten und schlug zu Beginn zwei Stunden Therapie pro Woche vor. Dies wurde ohne Weiteres bewilligt und konnte bis zu zwei Jahre verlängert werden, ebenfalls ohne Probleme. Und die Lehrerinnen hatten eine Diagnose, nahmen Druck weg und freuten sich über Fortschritte.

Die Kleinen erhielten in der Folge also eine Legasthenietherapie – die Therapeutinnen waren meist Lehrerinnen, welche ihre Stellen zugunsten einer Familienphase aufgegeben hatten und nach einer Zusatzausbildung Klienten bei sich zu Hause empfingen. Diesen hat die Therapie gewiss nicht geschadet: akustische Wahrnehmungsdifferenzierung ist bei Kindern anderer Muttersprachen eine gute Sache. Aber sie erhielten auch viel informellen Deutschunterricht und Hilfe bei der Integration in das noch fremde Land, in dem so vieles so anders war. Jemand kümmerte sich um die Hausaufgaben, sprach ab und an mit den Eltern. Und die Kinder? Die erfuhren vor allem geduldige Aufmerksamkeit und Zuwendung: jemand, die zu ihnen schaute und die sie gerne bekamen –, sie erhielten das, was Kinder überhaupt und in solchen Situationen besonders brauchen. Und wenn sie Durst hatten, gab’s einen Sirup in der Küche …

Keines der Kinder kam in die Hilfsschule. Ich sah sie jeweils wieder, wenn eine der Nachkontrollen anstand. Im Gutachten strich ich die – realen – Fortschritte heraus, reduzierte den Schweregrad der Legasthenie ein wenig und verlängerte die Therapie um ein weiteres halbes Jahr. – Habe ich informelle Lerntherapien initiiert? … Wahrscheinlich. – Waren diese erfolgreich? … Soweit ich weiss, ja. – War das korrekt? … Nein. – Ist die Sache verjährt? … Ja. – Hatte ich je ein schlechtes Gewissen? … Nein, überhaupt nicht.

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