Читать книгу: «Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)», страница 2

Шрифт:

1.2 Biografische Reminiszenzen

Nichthistorikerinnen und -historiker auf Spurensuche nach Vorläufern heutiger Lerntherapie tun dies mit eingeschränktem Handwerkszeug. Aber seit Lindqvist 1978 «Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte» (deutsch 1989) veröffentlicht hat, können historische Laien mit gutem Gewissen dort ansetzen, wo Erinnerungen aus dem Bereich eigener Erfahrungen zugänglich sind:

Zu meinen Kindheitsschätzen gehört eine von Kinderhand modellierte und bemalte kleine Schildkröte. Entstanden ist sie im Rahmen von Therapiestunden in der damaligen kantonalen Erziehungsberatungsstelle in Schaffhausen. Nach einem 1959 erfolgten Umzug aus einer Kleinstadt in ein Bauerndorf war ich sozial überfordert und zeigte grosse Mühe, mich in die neue 2. Klasse zu integrieren. Vor der Lehrerin hatte ich Angst (sie reagierte auf Verstösse gegen – mir nicht bekannte – Regeln mit Schlägen), meine Noten sanken. Die permanenten Ermahnungen meiner ängstlichen Mutter, mir mehr Mühe zu geben, halfen auch nichts. Ich wurde zu einer psychologischen Abklärung gebracht, woraus sich eine Therapie bei einem lieben älteren Mann ergab, dessen Namen ich heute noch weiss. Diese dauerte sicher 20 Stunden und folgten – wahrscheinlich nach einer testpsychologischen Abklärung, an die ich mich nur sehr vage erinnere – einem einfachen Ablauf: Jede Stunde begann mit einem für mich unvertraut langen Gespräch, anschliessend durfte ich malen, modellieren und mit dem wunderbaren kleinen Sandkasten auf Rädern und den kleinen Menschen- und Tierfiguren spielen. Ich genoss die geduldige Aufmerksamkeit des Therapeuten und war traurig, als meine schulischen Leistungen stiegen und ich nicht mehr hindurfte.

Jahre später: als frisch ausgebildeter «Psychologe mit Fachrichtung Berufsberatung» (inklusive bereits drei Jahren Teilzeiterfahrung als Berufsberater in Schaffhausen) war ich vom testdiagnostisch dominierten Arbeitsalltag bereits ernüchtert und verzichtete auf eine angebotene Festanstellung. Zufällig ergab sich an der bereits genannten Erziehungsberatungsstelle 1976 eine Möglichkeit, das parallel begonnene Studium der Psychologie und der Sonderpädagogik an der Uni Zürich weiter finanzieren zu können. Als gut ausgebildeter und bereits etwas erfahrener Test- und Psychodiagnostiker hatte ich – in Teilzeit – Schulabklärungen und Begutachtungen zu machen, aber auch Beratungen von Eltern. Ab und an liess man mich vertiefter mit einzelnen Kindern arbeiten, was man damals gleichermassen grosszügig und ungefähr als Spieltherapie bezeichnete. Da war er wieder, der kleine Sandkasten mit den vielen Figuren (meine Akte von 1959 wurde zu Beginn der 70er-Jahre allerdings leider geschreddert). Erinnern kann ich mich durchaus auch an stattgefundene supervisierende Gespräche mit dem vor der Pensionierung stehenden Stellenleiter; ich glaube auch zu wissen, dass der spätere neue Leiter die Auflage erhielt, eine psychotherapeutische Ausbildung nachzuholen.

Im Zusammenhang mit unserem Anliegen war ich überrascht, dass mir dies in all den Jahren noch nie aufgefallen war: Was ich 1959 als Kind auf einer Erziehungsberatungsstelle erlebte, war nach heutigem Verständnis eine psychologisch-therapeutische Lerntherapie. Sie ging die Schwierigkeiten an, welche hinter dem Symptom gestörten Lernens lagen – und beseitigte damit auch die Lernprobleme nachhaltig.

Anzumerken ist weiter: In der Schweiz war die Bezeichnung «Erziehungsberatung» für Dienststellen, welche sich mit schulpsychologischen Fragestellungen befassten, damals die gebräuchlichste. Allerdings zeichnete sich in den 50er- und 60er-Jahren bereits ab, dass die schulpsychologischen Dienste eher nahe der Schule selbst und in Kooperation mit der Heilpädagogik operierten, während die Erziehungsberatungsstellen ihre Arbeit eher psychologisch-therapeutisch verstanden. Ich entnehme dies Käser (1993), welcher die Entstehungsgeschichte der Schulpsychologie in der Schweiz seit 1920 in Bern detailliert nachgezeichnet hat. Zu diesen Anfängen verweist er (2016, S. 16) auf eine UNESCO-Konferenz zur Schulpsychologie von 1954 in Hamburg, welche in ihrem Bericht Folgendes lobend unterstreicht: «Die Schweiz war dank den Bemühungen Claparèdes in Genf (1912) und Heggs in Bern (1920) eines der ersten Länder mit psychologischen Diensten überhaupt.» Er übernimmt dies nach Hegg, S. (1977, S. 105), welche weiter aus dem Bericht zitiert:

Die Erziehungsberatungsstelle der Stadt Bern, die 1920 von Dr. Hegg gegründet wurde, ist zum Beispiel eine selbstständige Einrichtung innerhalb des schulärztlichen Dienstes. Ihre wichtigsten Aufgaben sind die psychologische Beratung der Schulen, die Erfassung, Untersuchung und psychotherapeutische, heilpädagogische oder andere Behandlung von schwierigen oder zurückgebliebenen Kindern und die allgemeine psychologische Aufsicht über die Sonderklassen der Stadt. (A.a.O., S. 105)

In diesem Pflichtenheft könnte der Begriff der Lerntherapie ohne Probleme untergebracht werden. Grund genug, uns vertiefter mit dieser verblüffenden Frühgeschichte zu beschäftigen.

1.3 Zur Frühgeschichte dessen, was wir heute Lerntherapie nennen

Datiert vom 3. März 1910, erhält Paul Häberlin, der spätere Ordinarius für Philosophie, Pädagogik und Psychologie der Universität Bern, einen Brief von Sigmund Freud. Dieser hoffte, ihn in seinen Kreis aufnehmen zu können, und schreibt unter anderem die folgenden Zeilen: «Ich weiss, dass die Psychoanalyse in Beziehung zur Pädagogik treten muss, kann aber selber nichts da für thun. Ich weiss auch, dass sie zur Selbsterziehung mächtig anregt und dass man grosse innere Widerstände überwinden muss, ehe man sich ganz mit ihr befreunden kann …» (zit. nach Hegg, S., 1977, S. 77).

Bevor Häberlin 1914 in Bern Professor wurde, hatte er in Basel Theologie studiert und in Philosophie, Zoologie und Botanik promoviert. Seine Beziehung zu Freud hatte sich über seine Freundschaft mit den Psychiatern Robert und Ludwig Binswanger angebahnt und war für seine Theoriebildung von grosser Bedeutung – obwohl er sich mit der Lehre Freuds nie völlig hat befreunden können. «Trotz aller Hochschätzung der durch die Psychoanalyse gewonnenen psychologischen Einsichten musste er die Lehre in ihren Grundlagen ablehnen, da die Weltanschauung und die Anthropologie, welche dahinter standen, einseitig naturwissenschaftlich-biologisch orientiert waren» (a.a.O., S. 77). Häberlin selber schreibt:

Religiöser Glaube, ethische Norm, und was damit zusammenhing, durfte nicht zu Recht bestehen, musste ‹zeranalysiert› werden, bis nichts anderes übrig blieb als nackter Trieb. Die psychoanalytische Theorie war mehr als Psychologie, sie entsprang aus anti-autoritativer Einstellung und mündete wieder in eine Art von kulturellem Nihilismus oder Relativismus. (Dies gilt sicher nicht von der Persönlichkeit Freuds, wohl aber von seiner Theorie.) (1959, S. 55).

Diese Reserviertheit hinderte ihn allerdings nicht daran, Person und Werk hoch zu schätzen, den Diskurs mit Freud auch persönlich zu führen und von ihm «starke Anregungen» für eine «wirklich psychologische Psychologie» zu gewinnen, welche ihm vorschwebte (a.a.O., S. 52). Seine Studenten hatten sich mit der Psychoanalyse vertraut zu machen – so auch Hans Hegg, der nachmalige Mitintiator und Leiter der bernischen Erziehungsberatung, deren Geschichte seine Tochter Suzanne Hegg minutiös aufgearbeitet hat (Hegg, S., 1977).

1.3.1 Zur Entstehungsgeschichte der bernischen Erziehungsberatung – ein Lehrstück

Die Geschichte – ich folge ab hier Suzanne Hegg (1977, S. 40ff.) – beginnt 1917 mit dem fortschrittlichen Schularzt Paul Lauener, welcher in Bern während der schwierigen Jahre während und nach dem Ersten Weltkrieg versuchte, seine Aufgabe nicht nur medizinisch zu fassen. Er kümmerte sich um Kinder, Jugendliche, Lehrlinge und deren Familien in Nöten.

Endlich kamen hinzu die vielen Klagen über Schule, Lehrer und Schulschwierigkeiten … Kurz, alles, was schief ging in der Schule [,] kam schliesslich vor unsere Ohren […] und da ich mich allein mit einer Schulschwester dieser Lawine gegenüber fand, bestand die Gefahr, von ihr erdrückt zu werden. Zudem war ich in keiner Weise dazu ausgebildet, mich nur einigermassen allen diesen Fragen gegenüber gewachsen zu fühlen. Da halfen auch die besten Schriften von Pestalozzi bis Häberlin nur eben so viel, uns die Schwierigkeiten nur noch deutlicher vor Augen zu führen.» (Lauerner, 1957; zitiert nach Hegg, S., 1977, S. 41f.).

Lauener fand in der Folge 1920 in der Person des mittlerweile promovierten Hans Hegg den gesuchten Fachmann – die beiden dürften damals bereits befreundet gewesen sein (vgl. Hegg, S., 1977, S. 42). Die Historikerin Hoffmann beschreibt in ihrer Lizentiatsarbeit zum Wirken Laueners diesen Einstieg so:

Hegg wünscht die Tätigkeit des Schularztes auf psychologischem Gebiet zu unterstützen und stellt sich der Schuldirektion hierfür vorerst ohne Honorar zur Verfügung – wogegen der Gemeinderat nichts einzuwenden hat. Zuvor hat sich Lauener selbst als Berater in Erziehungsfragen betätigt und seit 1918 eine ‹stark frequentierte› Elternsprechstunde angeboten. Der Schularzt ist es also, der die Erziehungsberatung in Bern begründet. 1920 überträgt der Gemeinderat diese Aufgabe mit Hegg einem Psychologen und Pädagogen und erweitert gleichzeitig das Schularztamt offiziell um eine Beratungsstelle für Erziehungsfragen (2008, S. 18).

Hegg – ich folge hier wieder dem Bericht seiner Tochter – begann also in einem Hinterzimmer des Schularztamtes (das für alle Zwecke gebraucht wurde) in Teilzeit zu arbeiten – ein Pionier ersten Ranges. Er versuchte parallel dazu zwar eine eigene Praxis aufzubauen, was aber daran scheiterte, dass er sich auf dem Schularztamt (wo die Beratung kostenlos war) selber konkurrierte. Im zweiten Jahr erhielt er für die psychologischen Untersuchungen, die er im Auftrag des Jugendamtes oder des Armeninspektorates vornahm, eine bescheidene Vergütung von 3 bis 5 Franken, ab 1922 zwar ein Salär von 4800 Franken pro Jahr, aber noch lange keine Anstellung. Er konnte sich, mittlerweile verheiratet, finanziell über Wasser halten, indem er ab 1925 jeweils circa 5–6 Pensionäre mit Schul- und Erziehungsschwierigkeiten in seinem Haus aufnahm und betreute. Eine feste Anstellung als Erziehungsberater der Stadt Bern (im Nebenamt) erhielt er erst 1943.

Die Idee einer Stelle für Erziehungsberatung war 1920 für Bern und für die ganze Schweiz etwas völlig Neues. «Ihre Entwicklung verlief mühsam und harzig und blieb während Jahrzehnten an ihren Begründer, Hans Hegg, gebunden, der sich das Unternehmen zur Lebensaufgabe gemacht hatte» (Hegg, S., 1977, S. 37f.). Er wurde auch angefeindet:

Die Lehrerschaft machte während Jahren Front gegen die neue Institution, da sie sich selbst als zuständig für alle Erziehungsfragen erachtete. Dazu sei sie kraft ihrer Ausbildung kompetent, war noch in den 40er Jahren in der ‹Schweizerischen Lehrerzeitung› zu lesen, obwohl damals die Lehrerschaft schon lange zu einer ‹Hauptkundin› der Erziehungsberatung geworden war. […] Ein Vertreter der medizinischen Fakultät, seines Zeichens Pädiater, bezeichnete die Erziehungsberatung kurz nach ihrer Gründung als eine ‹Bierkateridee›, die von allem Anfang an zum Scheitern verurteilt sei. Zuständig für Erziehungsfragen erklärte er den Kinderarzt, der die familiären Verhältnisse am besten kenne und zu beurteilen vermöge (a.a.O., 1977, S. 45f.).

Suzanne Hegg (1977, S. 74ff.) setzt an den Beginn des theoretisch-methodischen Teils ihres Berichts über ihren Vater ein Zitat von Pestalozzi, welcher 1801 in einem Brief an Christoph Wieland schreibt: «Mein erster Grundsatz ist: Wir können das Kind nur insoweit gut führen, als wir wissen, was es fühlt, wozu es Kraft hat, was es weiss und was es will.» Hegg hat seine Arbeit als «pädagogische Erziehungsberatung» verstanden und darin womöglich mit der Schule, den Ärzten und Psychiaterinnen kooperiert. Die «Schulpsychologie» sah er als nichts anderes als Beratung im Bereich der Schule, als ein – allerdings sehr wichtiges – «Spezialgebiet der Erziehungsberatung», in der Einfluss auf die elterliche Erziehung genommen wird (a.a.O., S. 95). Tests nutzte er lediglich als sekundäre Hilfsmittel im Rahmen des Ganzen einer Untersuchung, da Leistungsversager diese als Prüfung empfänden und mit prüfungstypischen Reaktionen die Ergebnisse verfälschten. Methodisch standen das Gespräch und die Beobachtung im Zentrum. Er nahm das Kind als Person so ernst wie die Erwachsenen. So schuf er nicht nur eine gute Beziehung, sondern auch die Grundlage, dieses «bewusster und wissender» um seine Schwierigkeiten zu machen – und damit unter Umständen schon ein Motiv zur Verhaltensänderung zu schaffen. In einer Verquickung von Abklärung und Behandlung sah er das Kind (im Allgemeinen mit der Mutter) in regelmässigen Abständen in der Sprechstunde (zuerst einmal pro Woche, später alle 14 Tage, dann 4 Wochen), um über das aktuelle Geschehen zu berichten. Wieweit die Mütter bei diesen Gesprächen immer dabei waren, geht aus dem Text nicht hervor (a.a.O., S. 95).

Suzanne Hegg bemerkt, dass sich diese pädagogische Erziehungsberatung im Vorgehen ihres Vaters «von einer lege artis durchgeführten Therapie unterscheidet, obwohl sie sich auch psychologisch-therapeutischer Methoden bedient» (a.a.O., S. 91). Bezogen auf die dahinter liegenden psychologischen Grundlagen fasst sie sich kurz:

Er war keiner Doktrin ergeben, sondern war ein ausgesprochener Eklektiker. Studiert hat er in der Ära der Psychoanalyse und der Auseinandersetzung mit ihr. Verhaltensmodifikation nach der Lehre der Verhaltenstherapie könnte bei ihm nachgewiesen werden, bevor die Lehrbücher über Verhaltenstherapie entstanden. […] Ebenso kann man bei Hegg gesprächstherapeutische Ansätze finden, seit den Anfängen seines Wirkens. […] Jahrelange Erfahrung und seine Grundüberzeugung hatten Hegg gelehrt, dass die Methode in der Erziehungsberatung nicht Selbstzweck sein darf, sondern dass sich die Art des Vorgehens nach der jeweiligen Situation zu richten hat. (A.a.O., S. 98)

Hegg hat selbst kaum publiziert. Was er gelesen hat, wissen wir nicht. Sosehr er sich als Pionier seine Erziehungsberatung selber erfinden musste: Es ist kaum vorstellbar, dass er die einschlägigen Publikationen der Ära der Psychoanalyse, etwa von August Aichhorn, Fritz Redl oder von Hans Zulliger (siehe weiter unten) und insbesondere die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (ZfpP) in den 20er- und 30er-Jahren nicht gekannt haben soll. Letztere hat immer wieder Aufsätze auch zur Behandlung von Lernstörungen und zur Erziehungsberatung aufgenommen. Sie soll in den folgenden Abschnitten im Zentrum stehen.

Vorher allerdings wollen wir danach fragen, was der Pionier Hans Hegg aus Bern für unsere Frage nach Vorläufern lerntherapeutischen Arbeitens bedeutet: Hegg war kein Lerntherapeut, der Begriff war eine spätere Wortschöpfung. In seiner praktischen Arbeit könnte man ihn aber durchaus als einen der frühen Vorläufer dieser Disziplin anerkennen: Ausgehend vom Kind oder vom Jugendlichen, stellt er aus einer bewusst therapeutischen Haltung eine Beziehung her, welche die Basis gemeinsamer Arbeit – Stichworte: Gespräch und Beobachtung – bildet. Aufhänger der Zuweisungen waren häufig genug schulische Schwierigkeiten, welche aber nicht als isoliertes Symptom angegangen wurden. Das Hauptaugenmerk lag einerseits auf den Schwierigkeiten, welche seine Klienten hatten, da hat er durchaus auch therapeutisch gearbeitet. Anderseits sah er sich als pädagogischen Fachmann, welcher auf die Erziehung Einfluss nehmen wollte und damit auch auf das Verhalten der Eltern und – wo möglich – von Lehrpersonen.

1.3.2 Die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (ZfpP)

Die Zeitschrift wurde 1926 in Wien von Heinrich Meng (Stuttgart) und Ernst Schneider (Riga) begründet, das Herausgeberteam erweiterte sich nach einigen Wechseln (Adolf Storfer war kurz dabei) nach 1932 um August Aichhorn, Paul Federn, Anna Freud (alle Wien) und Hans Zulliger (Ittigen bei Bern). 1937 – nach 395 Originalarbeiten und 4824 Seiten Text – wird das Erscheinen mitten im 11. Jahrgang kommentarlos eingestellt, das bereits angekündigte folgende Doppelheft erscheint nicht mehr. Zu erinnern sei an die Bücherverbrennungen 1933 in Deutschland. Daran, dass der Anschluss Österreichs 1936 bereits zu erwarten war und am 13. März 1938 Tatsache wurde. Daran, dass zwei Tage nach dem Einmarsch Deutscher Truppen die Räumlichkeiten des Internationalen Psychoanalytischen Verlags in Wien durchsucht wurden und dieser in der Folge liquidiert werden musste. Daran, dass jüdische Psychoanalytikerinnen und -analytiker (darunter auch Schreibende der ZfpP) Wien bereits verlassen hatten, abgetaucht waren, fliehen konnten oder (wie einige) in Konzentrationslagern verschwanden.

Halten wir hier kurz inne. Wir haben oben gesehen, dass unter der Flagge der Erziehungsberatung durchaus frühe Beispiele lerntherapeutischen Arbeitens zu finden sind. Unser Interesse gilt entsprechend den frühen Wurzeln der Lerntherapie beziehungsweise der Frage, welchen fachlich-theoretischen Hintergrund die Pioniere in der Schweiz verfügbar hatten. Hier soll deshalb weder auf die Geschichte der Erziehungsberatung vertiefter eingegangen werden noch auf jene der psychoanalytischen Pädagogik.

Im Vorwort des ersten Hefts (1926) formulieren die Herausgeber Meng und Schneider ihre Absicht, Ergebnisse der Anwendung des psychoanalytischen Verfahrens an Kindern und Jugendlichen zu veröffentlichen. Explizit eingeschlossen werden auch Erfahrungen «psychoanalytisch eingestellter Erzieher», welche «in Schule und Haus, in der Anstalts-, Heil- und Fürsorgeerziehung, in der Lehrerbildung, in der Erziehungs- und Berufsberatung» und in der «Psychodiagnostik» wirken. Dies steht für eine Öffnung auch für ein Laienpublikum, entsprechend betonen die Autoren ihr Bemühen, «in erster Linie solche Aufsätze zu veröffentlichen, die auch von den wenig Eingeweihten verstanden werden können» (1926, S. 1).

Die Durchsicht der Arbeiten gleicht einer Zeitreise in die Aufbruchstimmung der Anfänge angewandter Psychologie: Grundlagentexte, thematische Sondernummern, Erfahrungsberichte von psychotherapeutisch und pädagogisch Tätigen, Fallgeschichten, Buchbesprechungen. Und trotz dem Duktus der Zeit: Vieles ist aus dem erleichterten Bewusstsein formuliert, endlich praktische Werkzeuge zur Hand zu haben, die Probleme so vieler Kinder und Jugendlicher angehen zu können – aber auch mit der Illusion, die finster autoritären Zeiten von Zucht und Ordnung hinter sich zu lassen. So faszinierend die Durchsicht der Hefte ist – die Frage nach der Frühgeschichte der Lerntherapie setzt einen darauf fokussierten Suchfilter und es werden hier lediglich einige wenige Arbeiten stellvertretend skizziert, welche in einem expliziten Zusammenhang mit Lernschwierigkeiten stehen:

Arbeiten zu Lese- und Schreibstörungen

Alfhild Tamm – die erste Psychiaterin in Schweden – schreibt in einem längeren Beitrag über angeborene Wortblindheit und verwandte Störungen. Dieser befasst sich offensichtlich mit dem, was wir heute Legasthenie nennen und gibt reiche Hinweise zur Behandlung (1926). Die Autorin beschreibt aber auch Kürzestanalysen von Schülerinnen und Schülern mit Lese- und Schreibstörungen: Die Fallgeschichten belegen, dass solche nach analytischen Deutungen biografisch-symbolischer Hintergründe auch sofort und nachhaltig verschwinden können (1929).

Hans Zulliger, der Volksschullehrer und Kindertherapeut, berichtet in einer kurzen Fallgeschichte, wie er mit einem analytischen Pausengespräch mit einer Schülerin eine (Vor-)Lesestörung zum Verschwinden brachte. Das Mädchen scheitert – zum Unmut der Klasse – aus Angst vor einer bevorstehenden Geburt ihrer Mutter überall dort, wo in der Geschichte aus dem Lesebuch die Begriffe «Tod» und «Krankheit» vorkommen. Nach der Pause ist der Zusammenhang aufgedeckt, das Mädchen beruhigt und es liest die Passage ohne Probleme (1930, S. 432–433).

Die Kinderanalytikerin Steff Bornstein stellt einen Erstklässler vor, den sie «in möglichst kurzer Zeit schulfähig» machen sollte. Die Arbeitsstunden konzentrieren sich aufs Lesen und Schreiben, nach und nach werden sie ergänzt durch analytische Gespräche. Aufgefordert, zu einem D irgendetwas hinzuzufügen, malt er ein zweites, seitenverkehrtes D, die senkrechten Striche beieinander. Die Analytikerin deutet ihm diese als Popo-Backen, was der noch in der analen Phase verharrende Kleine begeistert aufnimmt: «ja, b-p, d-t, k-g das sind alles Popo-Buchstaben» – um sie von dieser Stunde an nicht mehr zu verwechseln. Die Autorin betont, dass diese Schwierigkeiten allein weder mit den Arbeitsstunden noch mit der analytischen Arbeit hätten behoben werden können (1934, S. 143ff.).

Возрастное ограничение:
0+
Объем:
732 стр. 55 иллюстраций
ISBN:
9783035519747
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают