Читать книгу: «Nächte mit Bosch», страница 2

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Mein Onkel nahm wortlos die Worte unter den Arm, ging hinaus, gab sie den Männern und sagte: »Hier, zwei mehr, als Sie wollten. Und nun gehen Sie und lassen Sie mich!«

»Niemals!«, sagten die Männer wie aus einem Mund. Sie gaben Onkel Oskar ein Bündel Geldscheine, das er in seiner Kitteltasche verschwinden ließ. Er schob sie zur Tür hinaus. Dann kehrte er zurück. Er sah mich noch immer nicht an, sondern polierte mit einem weichen Lappen sorgsam die Rohre seiner Maschine.

»Du verkaufst Worte?«, sagte ich.

Er polierte weiter.

»Ick muss es tun«, sagte er schließlich. »Ick brauche Geld. Du hast es ja gehört, wegen meiner Tochter. Und sie brauchen Worte. Sie bauen dauernd neue Autos oder machen Parfüms oder Waschmittel, aber sie haben immer zu wenig Worte und wollen ständig neue. Die holen sie bei mir. Sie wissen seit einiger Zeit von der Maschine, irgendwie wussten sie es, ick weiß nicht, woher. Ick hörte die Worte dann irgendwann wieder, im Fernsehen zum Beispiel. Deshalb stelle ick immer den Ton ab. Es ist mir zu viel, und ick bereue es.«

Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Lappen, den er noch in der Hand hatte. »Zeitungen nehme ick nur noch zum Worte-Einwickeln«, sagte er, »es ist fast dasselbe wie mit dem Fernsehen.« Er setzte die Brille wieder auf.

»Geh mal jetzt«, sagte er leise.

Drei Tage später lag er im Krankenhaus, in einem Bett auf einem Flur, bleich und matt. Ein Arm war gelähmt. Der Schlaganfall sei gar nicht so schlimm, aber er habe beschlossen zu sterben, sagten die Ärzte.

»Mit mir ist es aus«, sagte er selbst. Er schob mir ein kleines Paket zu, etwas Schmales, in Zeitungspapier Gewickeltes.

»Hier«, sagte er, »steck ein.«

»Mensch, danke, Onkel Oskar.«

»Steck weg!«

Er sprach mühsam, den Blick starr in die Luft gerichtet. »Ick wollte . . . sie zerschlagen, alles . . . kaputt hauen . . . ging nicht mehr. Wahrscheinlich . . . haben sie sie schon.« Er drehte den Kopf langsam zu mir und schaute mich lange an. »Verstehste?«

Ich hastete in seine Wohnung. Die Tür war offen, das Zimmer, in dem die Maschine gestanden hatte, leer. Zeitungspapier lag herum, dazwischen ein paar zerbrochene Worte. Ich ging wieder in den Hof. Das Päckchen, das er mir gegeben hatte, steckte in meiner Manteltasche. Ich wickelte das Wort, das darin war, langsam aus, ein nicht sehr langes, gußeisernes, schwer in der Hand liegendes Wort.

»Kurzschröter.«

Keine Ahnung, was das war. Ein Tier? Eine Pflanze?

Seine Tochter stand unter der Kastanie. Ich drückte ihr das Wort in die Hand. Wir gingen zusammen durch den Torbogen des Vorderhauses. Ich holte tief Luft und brüllte:

»Kurzschröter!!!!«

Dann blickte ich nach unten auf die Straße. Die Worte standen schon knöchelhoch.

STERBEN VOR PRIMA KULISSE

DER TOD KOMMT UNAUFFÄLLIG in die Crellestraße; manchmal bemerkt man ihn nur, wenn er wieder einmal vergessen hat, das Licht auszumachen. Wer weiß denn genau, wie lange Gehrets Leiche damals schon in seiner Küche gelegen hatte, als dem Hausmeister eines Tages auffiel, dass hinter dem Fenster da oben im vierten Stock schon seit Tagen die Lampe nicht mehr ausgeknipst worden war? Die alte Frau in der zweiten Etage erinnert sich nicht einmal mehr, dass Gehret hier je gewohnt hat. Aber dass es keinen Hauswart mehr gibt, weiß sie und faucht es durch den Türspalt hinaus ins Treppenhaus. Bevor sie die Tür schließt, ruft sie noch: »Wir müssen alle raus!«

Ja, die Crellestraße wird saniert. Auf der Straßenseite gegenüber haben die Häuser schon wieder Farbe. Das Trottoir ist frisch gebügelt, und gusseiserne Pfeiler, Zaunpfähle Altberliner Gemütlichkeit, begrenzen den Gehweg. Um die Ecke bietet der Hundesalon preisgünstig »Fleischschlund, Schlund mit Knorpel, Gurgel, Pansen, Fleck« an. Die Tasse Frucht- und Getreidekaffee bei Mangold-Naturkost kostet 1,20 Mark, und gleich nebenan annonciert der Wirt von »Schultheiß Zur Tankstelle« ein Eisbeinessen, pro Person 15 Mark, »plus ein Freigetränk«, aber nur, wenn man eine Woche vorher bezahlt.

Das Haus Nummer 17, in dem Gehret 1986 tot gefunden wurde, hat sich nicht verändert. Neben den Zetteln, mit denen auf die ausgelegten Rattenköder hingewiesen wird, hängen aber schon Einladungen der SPD zur Diskussion über »Sozialdemokratische Erfolge und Perspektiven für das Sanierungsgebiet Crellestraße«. Die Hausfassade ist von Putzresten bedeckt wie von Blatternnarben. Unten im Eingang hat jemand das Wort »Mistschwein« in die Farbreste geritzt. Gleich hinter dem Haus beginnt die Berliner Steppe: Sand, Teppichreste, Kaffeefilter, alte Antennen, leere Apfelsaftgetränkekartons, rostige Lampen. An der Brandmauer des Nachbarhauses steht »Angesichts der Vergänglichkeit«.

Hier fällt der Tod nicht auf, oder doch, manchmal doch. Per Aushang kündigt die bibo tv und film productions GmbH einige Zwischenfälle an. Man drehe einen Film, heißt es: Ein Mann solle verhaftet werden, flüchte aber und werde erschossen. »Die Aufnahmen werden mit einigem Lichtaufwand (Nacht) und einer gewissen Lärmbelästigung (Schüsse) verbunden sein.« Man bittet um Verständnis, die Genehmigung liege vor. Prima Kulisse fürs Sterben! Bronxberlin, Pudelberlin, Rentnerberlin, Müsliberlin, Türkenberlin, Berlin-Schöneberg – Gehretberlin.

Diesen Gehret fand man am 24. April 1986. Man fand neben der Küche ein Zimmer mit einem von Zetteln, Zeitungen, Büchern, Aufzeichnungen übersäten, blutigen und schmutzigen Bett, daneben einen Eimer mit Erbrochenem. Man fand ein weiteres Zimmer, in dem sich unter anderem befanden: 14 Aktenordner mit mehreren Tausend kurzen, jeweils vier bis acht handgeschriebenen Seiten umfassenden, bizarr-surrealistischen Texten; ebenso viele ganz ähnliche, aber auf Tonbandkassetten gesprochene Werke; etliche Hundert Seiten Kurzgeschichten; ein Tagebuch über 24 Jahre in 30 Kladden; 40 Ordner mit Sprachstudien, dem kindischgenialen Versuch der Entwicklung einer eigenen Sprache, einer eigenen Schrift sowie einem Sortiment selbst gebastelter Stempel, die ihrerseits mit jeweils eigenen Wortbedeutungen versehen waren.

Die Geschichte des Reinhard Gehret verdichtet sich in zwei Fluchtversuchen vor dem Kleinbürgerleben in einer fränkischen Kleinstadt und vor dem drakonischen, jähzornigen Regiment des Vaters, Metzger dortselbst. Es ist die Geschichte vom Scheitern dieser beiden Versuche, von ein paar glücklichen Jahren dazwischen, vom verzweifelten Willen eines Menschen zur Unabhängigkeit und vom Preis, den er dafür zahlte. Und vom Entstehen einiger ziemlich guter Texte.

Reinhard Gehret, geboren am 14. Juni 1949, gestorben im April 1986, unternimmt bereits mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch, der keineswegs als Hilferuf inszeniert ist, sondern seinem Willen entspricht, endgültig Schluss zu machen: Gehret schießt sich mit einem Bolzenschussgerät, das normalerweise zur Tötung von Vieh verwendet wird, in den Kopf. Er überlebt, weil das Projektil zwischen beiden Hirnhälften hindurchgeht und die Ärzte eine Meisterleistung vollbringen, ist aber fortan schwer zuckerkrank, verliert den Geruchssinn und kann auf dem rechten Auge fast nichts mehr sehen. Unübersehbar ist für immer an diesem Auge die vom Einschuss herrührende Narbe.

Später wird Gehret sagen, er habe keinen anderen Weg des Entkommens mehr gesehen. Nun findet er ihn. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt beginnt er sich als Hilfsarbeiter durchzuschlagen, zunächst im Würzburger Hafen, dann in einer Druckerei. Mit 18, das war 1968, packt er die Koffer und fährt nach Berlin, holt dort das Abitur nach, nimmt dann ein Linguistikstudium auf. Zu Hause lässt er zunächst einfach wissen, man solle ihn als gestorben betrachten.

Bald bricht er auch sein Studium ab. Geld verdient er wieder als Hilfsarbeiter, die letzten zehn Jahre vier Stunden pro Tag in einer Kreuzberger Druckerei. Gehret versucht, mit einem Minimum an Geld auszukommen. Einmal notiert er stolz, dass ihm diesmal zehn Mark pro Woche gereicht hätten. Äußerlich wird er zu einem Stadtschrat mit langem, zotteligem Bart, den er gelegentlich wie einen Pferdeschwanz zusammenbindet, mit filzigen Pullovern und Hosen, die er in Altkleidersammlungen aufstöbert. Wenn es kalt wird, rollt er einen alten Teppich um den Leib. In seiner Wohnung friert regelmäßig das Wasser ein. Wenn Gehret heizt, verbrennt er im Ofen Holzabfälle, die er auf der Straße oder im Bauschutt gefunden hat. Neben dem Ofen hängt stets eine große Säge. Mit einem alten Fahrrad, das er aus Angst vor Dieben Abend für Abend über steile Treppen in seine Wohnung schleppt, bewegt er sich fort; die Berliner Verkehrsgesellschaft boykottiert er aus finanziellen Gründen.

Dabei ist Gehret ein liebenswürdiger Mensch von philosophischer Freundlichkeit, der durch intensive Zuwendung und Zuhören die abstoßende Wirkung seines Äußeren meist nach wenigen Sätzen ins Gegenteil verkehrt. Seine Unabhängigkeit aber lässt er nicht antasten. Als seine sonst über alles geliebte Schwester, Zahnärztin in Dillingen, ihm den Kauf einer Eigentumswohnung in Berlin anbietet, droht er mit dem Abbruch der Kontakte. Jeden Pfennig (zum Schluss werden es mehrere Zehntausend Mark sein) legt er für die Realisierung seines Traums zurück: »Das Bild von einem eigenen (oder gemieteten) Haus im Süden: hell, luftig, mit weiß gekalkten Wänden und in der schönsten Ecke der Schreibtisch mit allen Utensilien. H. Hesses Montagnola kenne ich nicht; davon habe ich nicht einmal ein Foto gesehen. Aber ich stelle es mir ideal vor für meine Bedürfnisse.« So steht es im Tagebuch.

Das Leben zu diesem Ziel ist drakonischer Systematik unterworfen. Als Diabetiker hat Gehret strenge Diät zu leben, gegen die der Körper immer wieder rebelliert. Jeder Krümel Knäckebrot wird in einem speziellen Tagebuch notiert, aber fast immer endet der Tag mit dem Selbstvorwurf, »gefressen« zu haben. Einmal schreibt er: »Der Diabetes ist eine objektive Unterdrückungsmaschine im Gegensatz zum Katholizismus. Wäre das was: Den Diabetes zum Gott zu machen für ein schönes, neurotisches Ritual? Beichten, wenn ich gefressen habe. Beschwörungen, dass die Regelmäßigkeit zwischen Dosis, Diät und Blutzuckerwert (das Orakel) erhalten bleibt?« Das steht auch in jenem minutiösen Tagebuch, für ihn »mein Kompass durch den Sumpf«, »meine einzige Rettung vor dem Sumpf«, mit dem er sich die »Depressionen vom Hals geschrieben« hat.

Gehret schreibt besessen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, immer nach der Uhr. Am Anfang und Ende jeder Seite wird die Zeit vermerkt, manchmal mitten im Wort: »viel – 15:10–leicht«. Vier bis neun Minuten benötigt er für ein Blatt in seinen Kladden. Gehret sammelt Material dafür, wo es geht, schneidet belanglose Gespräche auf einem Tonband mit, das er mal in einem Backofen, mal in der Tasche versteckt, sammelt noch weggeworfene Tonbänder auf, die er im Müll findet, spricht seine Halluzinationen während eines LSD-Rausches ins Mikrofon, spielt mit Zuständen von Über- und Unterzucker, um die Bewusstseinszustände dabei zu protokollieren, liest Berge von Zeitungen und Büchern.

Er saugt Leben auf und sondert es in neuer Form wieder ab – wie in Trance. Gehret schreibt surrealistische Texte, die er selbst »Fölmene« nennt. Er geht mit dem Rekorder in der Hand durch die Straßen und diktiert mit fränkischem Akzent und leicht anstoßender Zunge, beinahe atemlos keuchend, weitere Texte, die er als »Dikdale« bezeichnet. Absurde Geschichten sind das, von Tanzlehrerministerien und Belobigungsbüros, Texte, die wimmeln von Schwarzwurzeltänzerinnen und Maikäferlikör, von Greisbrei und Darmgeschmeide. Ein Schlaflied ist auch dabei:

Ich habe die Decke über mich gezogen & die

Augenlider.

Und ich warte ein wenig

bis die Wörter kommen

Buchstabenbilder mit angeheiratetem Lautwerk

und Wortfühler

und Wortgliedmaßen

Assoziationen und anderes Spielzeug

Bewusstseinsreste und vergessenes Wissen,

(jedenfalls passt Netzhaut zu gefallenem Schnee,

und Kohlkopf zu Holzkuchen)

Natürlich passt das zusammen, ganz klar.

Nur nachdenken darf man nicht. – Sonst biste gleich

wieda wach.

Schreiben war für ihn Weiterträumen auf dem Papier, die große, ganz große Freiheit. Und die Fölmene waren Vorarbeiten, Stücke, an denen er für Größeres lernen, Werkzeuge, mit denen er sich hinuntergraben wollte ins eigene Innenleben. »Mit Fölmenen«, schrieb er, »finde ich den Weg nach unten.«

Beispiel eines Fölmens von Reinhard Gehret, geschrieben am 25. Dezember 1981 unter dem Titel »Schmerzhaft der Schweiß von Spezereien«. »23:47. Und im gummigepolsterten Zoo, neben dem Becken mit den Zitteraalen, erstrecken sich wie eine weite Reihe gelber Zähne die Schaufenster des Kaufhauses zur letzten Gelegenheit. Dort kann man Hüte kaufen und gebrauchte Nähmaschinen, Tabaksgemälde und Gesäße aus Porzellan. Alles ist ausgestellt und mit schlankem Rauch umhüllt, die Elektrizitätszigarren stehen auf Grün, automatische Münder öffnen sich und klappen zu, vergoldete Erbsen klappern über das Parkett der Schaufensterböden, und das Publikum strömt draußen vorbei, hastig, unbeteiligt, mit wehem Herzen wegen der schwachsüchtigen Kaufkraft in ihren Hosen und dem geringen Mut in ihren Herzen und dem herben Schicksal auf der Straße, die an den schmalen, säurehaltigen Kanälen vorbeiführt. Große und kleine Wasserwege kreuzen sich, verdünnen sich, setzen sich fort in Abflussrinnen und Gullys, und unterirdisch brodelt es weiter, tauscht das urbane Gedärm seinen Atem mit dem Brodem der Großstadt, chemische Gedanken blubbern, Affenschweiß und Rentnerfett schwimmen auf der dunklen Brühe, die, mit der Kraft und dem Schmutz der Bewohner gesättigt, ihren Weg nimmt durch das bedrohliche Labyrinth unter der Stadt, vorbei an Ratten und Leichenresten, Müll und toter Gesinnung. Aus dem Verstorbenen wächst Neues, aber es ist ein langer Prozess, eine kaugummilange, übelriechende Pein, ein Schmerz von der Größe und der Lautstärke eines verängstigten Hundes, der aus Furchtsamkeit beißt und in die Wolken pisst, wenn keiner zuschaut oder es zu verhindern vermag. Die Kräfte der dünn aufgetragenen Nachdenklichkeit wohnen in Autowracks am Rande der Wüste. Auch Schaufensterpuppenwracks wohnen dort und Radio- und Fernsehwracks mit abgewrackten Nachrichten, alten, vergammelten Zeitungen, die zu abgewrackten Kriegen aufhetzen, die dann von einbeinigen Wracks geschlagen und gewonnen oder verloren werden. Kein Arsch will seinen Kopf hinhalten für das Geschäft der Kapitalistenklasse. Jeder Arbeiter ist blöd, der nicht alles tut, um dem Wehrdienst zu entgehen. Und wenn er wenigstens einen Pfarrer erschießt und eine Kirche sprengt. Die goldenen Erbsen kollern immer noch, Stahlbomben platzen am Himmel. Ein Feuerwerk der buntesten Farben und Sexsymbole öffnet die Herzen. Auch die Hungrigen haben ein Stück Kuchen geschenkt bekommen. Auch sie fühlen eine Zufriedenheit ihre Brust beklemmen. Ihre Stimmen werden gebraucht. Auch das bescheidenste Scherflein schlägt einen Nagel in die Brust des Bösen, und seine Diamantenkrone verliert an Glanz. Zwischen den Stiefeln der Macht haben wir unser geheimes Informationsbüro eingerichtet, das seine Sensoren auf den Augenlidern installiert hat und das den Himmel gleichermaßen durchforscht wie die innerpsychischen Regionen der arbeitenden Klasse. Da muss doch ein Hebel oder ein Schlangenbiss zu finden sein, der bewirkt, dass die Leute arbeiten. So was tut doch keiner freiwillig. Aus irgendeinem Loch des Kosmos muss doch die Macht kommen, die so viele Individuen unterdrücken und ausbeuten kann. Mit Wimpeln allein und Blut in den Zeitungen lässt sich das nicht erreichen. Die Propaganda muss tief in die Zähne gehen, muss das Kopffleisch unterwandern und durchdringen und den Blick der selbstgerechten Justiz in ihrem senfgelben Kleid zu Ehren des 100 000. polnischen Würstchens im zarten Darm feiern. Überhaupt die Feiern. Das tausendste Schiff wurde versenkt, die hundertste Zigarette geraucht, und im Windkanal der alten Goten verschluckten sich die Weltreligionen mit Zähnen und Klauen. Steinchen und Bausteinchen funken sich Sympathien zu. Die Anziehung geht in die Beine. Zentimeter um Zentimeter schiebt Gregor Samsa sich vor, rudert mit den steifen Armen seiner langen Verzweiflung über das Meer der Rückschläge in Rückenlage. Kein saftiges Gras vermag an dieser Politik etwas zu ändern. Kein Geheimnis um die Schuld von Unfällen bei glitschigem Blaulicht. Seine Zunge hängt im Windkanal und ringelt sich, denn die Post vom September aus der Hauptstadt der Tiger ist noch nicht angekommen. Kein weißes Gewand vermag die Schuld zu verbergen, die Bruder Geronimo auf die Flasche zog. Also gehören die Schlösser, die Villen und Paläste uns. Aber wer sind die ›uns‹? Wer regiert den Mond mit solcher Entschiedenheit, dass er seine Entschlüsse auch durchzusetzen vermag? Daran mag es bei ihm hapern mit seinen 92 Jahren. Die Gesundheit im Kreuz wie das Spielzeug die Batterie. Werbeengel auf wattegeschüttelten Schlitten. Alles war herrliche Literatur, bis der Überfall geschah. Als die Masthähnchen ins Kaufhaus stürmten und an die Decke ballerten, da hielt ich alles für witzig. Aber dann kam alles anders: Die Decke des Tanzstundensaales brach ein, die Hühner waren los und die Weihnachtsgans wurde vergessen. So verging ein einziger Tag, dem noch tausend andere über die Schulter blickten. 24.18«

Gehrets Geschichte führt hinein in das unstete Leben der Berliner Untergrundliteratur, der unablässig erblühenden und wieder schließenden, sich gründenden und spaltenden Selbstverlage und Zwergeditionen, der Literaturoffensiven und Schreibzirkel. Dass er schrieb, wussten einige. Er hatte in Zimmern und Hinterzimmern Kurzgeschichten und Gedichte vorgelesen, alles andere aber verschwiegen. Vom Textgebirge in seiner Wohnung ahnte niemand etwas.

Kreuzberg, Winterfeldtstraße 36. »Wieder einmal war es das überhebliche, selbstgefällige Getue, das Besserwissen, kurz, die Ablehnung (was wir indirekte Zensur nennen) unserer Texte von verschiedenen Verlagen, was uns dazu veranlasste, zur Selbsthilfe zu greifen.« So schrieb der Soziologiestudent Horst Walter Krowinn im Vorwort zu einem selbst verlegten Buch, in dem Texte jener veröffentlicht wurden, die sich jahrelang im »Literaturcafé« hier in der Winterfeldtstraße trafen, einer Zentrale der Unverstandenen und Verkannten.

Die Hausnummer 36, deren Fassade sich heute in adrettem Alt- und Schweinchenrosa in den aufpolierten Kiez fügt, war ein besetztes Haus, als man 1981 hier das Café gründete, in dem schon bald Krowinn, Gehret und andere ihre Texte vorlasen und besprachen. Gehret fiel nicht weiter auf, es sei denn durch sein von der allgemeinen Neigung zum anerkennenden Schulterklopfen abstechendes Bedürfnis, hart zu kritisieren und kritisiert zu werden. Tausende, sagt Krowinn heute, seien in den Jahren an ihm vorbeigezogen, 140 Veranstaltungen habe man im Jahr gehabt. »In Berlin«, sagt Annegret Gollin, »sprießen die Dichter aus dem Boden, da kannste zugucken.«

Gleich um die Ecke, in der Vorbergstraße, hatte die junge Frau einen kleinen Laden mit dem Namen »Rauchzeichen«, Buchhandlung und Vertrieb für Selbst- und Kleinverleger. Auch da saß man abends zusammen, auch da war Gehret dabei. »Wir hatten alle die gleiche Spinne«, sagt Annegret Gollin. »Wir glaubten, die großen Literaten zu sein, Verrückte, die dachten, sie machen hier die neue Literatur.« Einmal veranstalteten sie in der Oranienstraße 58, wo früher der Kommunistische Bund Westdeutschland seine Zentrale hatte, eine Serie von Abenden unter dem Titel »Berliner, das ist Euer Schwindel«. Man wollte dadaistisch sein, hatte ein »Bruitistisches Ballet« im Programm und besprach die Frage »Ist Sozialismus Literatur?« Gehret las, die Augen rot-weiß-blau umringt, »aus dem Gesamtwerk«. Mancher hat in dieser Atmosphäre aus Hilflosigkeit und Enthusiasmus Schlüsselerlebnisse gehabt. Die Lehrerin Sigrun Casper zum Beispiel, die im Literaturcafé »meine Geburt als Schriftstellerin« erlebte, als einer ihrer Texte dort heftigen Beifall fand.

Sonst dominiert das Scheitern. Wer das »Rauchzeichen« sucht, findet einen EDV-Laden, denn nach einigen Jahren gab Annegret Gollin unter einem Berg von Werken über Kochtöpfe, Kanarienvögel und Kriegserlebnisse resigniert auf. Aus dem Literaturcafé ist das schnieke kleine »Café Belmundo« geworden. In der Oranienstraße 58 lassen Arbeiter einer Renovierungsfirma Schutt durch einen großen grünen Kunststoffrüssel in ihre Container rasseln. Nebenan ist der U-Bahnhof Moritzplatz. Auch dort unten haben Krowinn und Kollegen laut ihre Texte vorgelesen. Straßenmaler und -musikanten? Warum nicht Straßenliteratur? Passiert sei aber, sagt er, leider nichts.

In einem kleinen Zimmer in Berlin sitzt ein Mann und bearbeitet, was man in Gehrets Wohnung fand. Schreibt Text auf Text in einen Computer und lässt rasselnd den Drucker laufen. Schaufelt Worte hin und her und sagt, er sei manchmal »abgründig traurig, weil das eine Geschichte ist, wie man sich verpasst hat«. Dann wieder habe er »so eine Wut gegen den: Warum hast du mir das nicht gesagt?« Paul Schuster, der in Siebenbürgen ein bekannter Schriftsteller war und seit 1974 in Berlin im Exil lebt, veranstaltet Kurse im literarischen Schreiben, und bei denen hat auch Gehret mitgemacht, als, wie Schuster sagt, »ganz normaler Teilnehmer, der ein bissel bizarr aussah und der regelmäßig den Vogel abgeschossen hat, wenn er vorlas«. Was er sonst schrieb, erwähnte er nicht. »Er hat sich nicht getraut, mir diese verrückten Texte zu zeigen. Er hat gezweifelt.« Heute sitzt Schuster darüber wie »ein Bergmann an einem Wahnsinnsflöz«, und alle paar Wochen macht er neue »sensationelle Entdeckungen«. Natürlich will er davon was veröffentlichen, wenigstens jetzt, ja, natürlich, was denn sonst?

»Egal, ich will mein Haupt erheben aus dem Meer der zahllosen Literaten . . . Wer weiß, vielleicht bringe ich es doch noch als Schriftsteller« – das war eine der letzten Tagebucheintragungen Gehrets. Am 29. März 1986 sollte er in einer von seinem Freund Krowinn organisierten »Literaturnacht« zum ersten Mal vor größerem Publikum lesen. Diese Aussicht beherrschte ihn. »Seltsam, wie mir der Gedanke an die Lesenacht die Glut ins Gesicht treibt! Ich werde lesen! Und ich will alle in den Schatten stellen. Jawoll!« Dann wieder: »Mit dem, was ich bisher in der Mappe habe, traue ich mir nicht zu, die anderen Autoren der Literaturnacht in den Schatten zu stellen.« Schließlich: »Klar, ich kann nicht ewig mit dem schmalen Repertoire von Sex, Blut, Scheiße und farbigen Schmetterlingen protzen. Das nutzt sich ab. Aber in meinen 14 Ordnern stecken genug inventiones, um nicht nur während der Literaturnacht am 29. März den Vogel abzuschießen.«

Das schrieb er im Krankenhaus. Schon Anfang März war er zur Notaufnahme eines Berliner Hospitals gebracht worden, nachdem er seiner Schwester telefonisch mitgeteilt hatte, er habe eine schwere Grippe, könne weder gehen noch stehen, sprechen, heizen. Das Krankenhaus nahm ihn nicht auf. Gehret lag zwei Tage und Nächte apathisch in der Wohnung, landete schließlich doch mit doppelseitiger Lungenentzündung und völlig entgleistem Stoffwechsel in einem anderen Krankenhaus. Seinem Drängen folgend, entließ man ihn am Tag der Lesung, die er mit Beifall hinter sich brachte.

Drei Wochen später, wieder krank, verließ er seinen Arbeitsplatz und wurde von niemandem mehr lebend gesehen. Seinem eigenen Diabetes-Tagebuch war zu entnehmen, dass er seine Blutzuckerwerte nicht mehr in den Griff bekommen hatte. Wahrscheinlich sank er langsam in ein Koma, desorientiert durch abnehmenden Blutzucker, geschwächt durch fehlende Nahrungsaufnahme. Gehret starb mit 36 Jahren in der Anonymität der Stadt, in die er geflüchtet war, an dem Diabetes, den er sich selbst beigebracht hatte. Man fand ihn vor dem Schrank mit den Insulinspritzen, auf dem Rücken liegend, die Arme ausgebreitet, der Gesichtsausdruck ruhig und entspannt.

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