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AN WELCHEN AUSSAGEN SIE DIE SCHARLATANE IN DER ALTERNATIV­MEDIZIN ERKENNEN

Typische Scharlatan-Aussage 1:

»Dieses Mittel empfehle ich allen meinen Patienten. Das ist auch gut für Sie.«

Die definierten Muskelpartien in Herrn Kurböcks Nacken spannen sich, als würden sie sein TShirt zerreißen wollen. »Sie müssen sich irren«, sagt er. Mit seiner mächtigen Pranke nimmt er die Dose mit den Pillen vom kleinen Tisch zwischen uns und hält sie hoch. »Das ist das beste Kurkuma-Präparat weit und breit. Über 340 Fünf-Sterne-Kritiken im Internet. Die sind doch nicht alle gefälscht.«

»Ich sage nicht, dass das Präparat prinzipiell schlecht ist«, sage ich ruhig. »Aber für Sie ist es nicht gut.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe verdammte Schmerzen wegen dieser beschissenen Magenentzündung. Kurkuma ist eines der besten natürlichen Mittel gegen Entzündungen, das weiß jeder, wahrscheinlich sogar das allerbeste. Also warum soll das beste Kurkuma-Präparat auf dem Markt nicht gut für mich sein?« Um seinen Punkt zu bekräftigen, rammt er die Pillendose auf die Tischplatte, als wolle er sie im Holz versenken.

Dass er sich aufführt wie ein weidwunder Büffel, ändert nichts an der Sache. »Haben Sie gelesen, was außer Kurkuma noch in diesen Pillen steckt?«

»Ich bin ja nicht von gestern. Ich informiere mich immer über die Dinge, die ich schlucke. Da ist sonst nur schwarzer Pfeffer drinnen. Natürlicher geht’s nicht.«

Ich schüttle den Kopf. »Wirklich natürlich ist das nicht mehr. Das ist schwarzer Pfeffer in hoher Konzentration. Vergleichbar mit einem halben Teelöffel Pfefferkörner. Davon schlucken Sie zwei am Tag. Seit Monaten. Und Sie fragen sich, warum Ihre Magenentzündung nicht besser wird?«

Im ersten Moment weiß Herr Kurböck offenbar nicht recht, was er sagen soll. »Ein Teelöffel Pfefferkörner pro Tag«, murmelt er schließlich und kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Der Heilpraktiker hat gesagt, er empfiehlt das allen und bekommt nur positive Rückmeldungen.«

»Das muss nicht gelogen sein.« Ich erkläre ihm, dass der Pfeffer dafür sorgt, dass der Körper die Kurkuma gut aufnimmt. Dadurch kann sie ihre antientzündliche Wirkung entfalten. Die Menge Pfeffer dazu hält ein normaler Magen eine Zeit lang aus. Aber nicht ein Magen wie seiner. Für ihn ist dieses Präparat Gift. Alles, was die Kurkuma gut macht, macht der Pfeffer bei ihm wieder kaputt. »Daher hätte der Heilpraktiker ausgerechnet Ihnen dieses Produkt ausnahmsweise nicht empfehlen dürfen. Haben Sie ihm gesagt, dass Sie mit dem Magen Probleme haben?«

Statt einer Antwort ballt Kurböck die Fäuste. »Sechs Monate verdammte Bauchschmerzen«, knurrt er. »Dieser …, er hört von meinem Anwalt.«

»Rechtlich ist da sicher nichts zu holen«, gebe ich ihm aus Erfahrung zu bedenken. »Wenn Sie sich revanchieren wollen, posten Sie Ihre Geschichte auf Internetseiten, die das Präparat empfehlen. Andere Menschen in Ihrer Situation werden es Ihnen danken.«

»Mach ich.« Herr Kurböck grinst böse. »Meinen Anwalt schick ich ihm trotzdem. Der Kerl schneidet doch sicher mit, wenn er diese super teuren Pillen empfiehlt. Für genau solche Fälle bin ich rechtsschutzversichert. Das Bauchweh zahl ich ihm heim.«

Seinem Bauch täte es gut, wenn er lernen würde, sich zu entspannen, anstatt aus Wut in einen wenig aussichtsreichen Krieg zu ziehen. Aber mit ihm darüber zu diskutieren, bringt ihn womöglich noch mehr in Wut. Stattdessen überlege ich kurz neu: Kurkuma passt jetzt gar nicht mehr. Außerdem gehört auch seine Laus, die über die Leber gelaufen ist, beruhigt. Daher verschreibe ich ihm zwei rezeptpflichtige Ayurvedakräuter. Eines soll die Magenschleimhaut regenerieren, das zweite die angestaute Wut reduzieren.

Ich stelle ihm das Rezept aus und denke, dass sich mit seinem Magen nun auch sein Gemüt ein Stück weit beruhigen wird. Zudem gehe ich genau auf die Ernährung ein und erkläre ihm, welche Getränke und Nahrungsmittel er meiden soll. Bei der Folgekonsultation in zwei Monaten sollte es dann möglich sein, mit ihm über Entspannung zu reden. Bis dahin kann ich mir auch überlegen, welche Art von Entspannung zu ihm passen würde. Zu einer klassischen Meditationsschulung bei Christian kann ich diesen Mann jedenfalls nicht schicken. Kurböck und ruhige, meditative Techniken, das geht bestimmt gar nicht. Aber er könnte von Christian speziell auf ihn abgestimmte aktive Techniken lernen, etwa dynamische, kraftorientierte Yoga-Übungen. Oder ein Walkingprogramm mit einer für seine Konstitution passenden, schnellen Gehtechnik. Das würde ihn auf gelenkschonende Weise fordern und gleichzeitig in innere Balance bringen.

Manche Alternativmediziner schwören auf ein bestimmtes Mittel und empfehlen es allen ihren Patienten gleichermaßen. Wer das tut, ist meist ein Scharlatan. Es fehlt ihm an Kompetenz. Sie sollten sich vor ihm hüten.

Zumeist handelt es sich bei diesen vermeintlich für alle Patienten geeigneten Produkten um natürliche Wirkstoffe, die etwas Gutes im Körper bewirken. Oft sind es Vitamine. Manchmal sind es auch exotische Kräuter und Tinkturen, die dieses und jenes im Körper stärken. Solche Wirkstoffe können wir alle brauchen. Das leuchtet doch irgendwie ein. Falsch ist es trotzdem.

Kurkuma ist ein Beispiel dafür. In jüngerer Zeit ist ein alternativmedizinischer Hype rund um die Kurkuma, zu Deutsch Gelbwurz, zu beobachten. Kurkuma wirkt entzündungshemmend und das finden natürlich alle wunderbar. Denn wer weiß schon, wo im Körper womöglich kleine Entzündungsherde sitzen, die nur darauf warten, richtig in Brand zu geraten. Und womöglich hilft Kurkuma ja auch bei der Beseitigung von Krebszellen.

Daher ist Kurkuma das Mittel der Wahl für alle, glauben viele. Einzunehmen am besten in hochdosierter Pillenform. Dabei wird nicht bedacht, dass Entzündungen im Körper nicht unbedingt schlecht sind. Entzündungen deuten primär darauf hin, dass das Immunsystem mit etwas kämpft. Es macht nicht unbedingt Sinn, dem eigenen Immunsystem mit hochdosiertem Kurkuma in die Quere zu kommen. Zudem darf Kurkuma vielen Menschen nicht länger als drei Monate gegeben werden, da es nicht nur die Wirkung verliert, sondern auch paradoxe Wirkungen auftreten können. Das will wohl überlegt sein.

Wenn, dann sollte Kurkuma individuell abgestimmt nur in Kombination mit anderen Pflanzen eingenommen werden, um die Aufnahme durch den Körper zu verbessern. Nicht selten wird Kurkuma mit schwarzem Pfeffer oder ähnlichen Scharfmachern gemischt, weil das ein aus Indien überliefertes Rezept ist. Bei bestimmten Menschentypen kann das allerdings zu Magengeschwüren führen.

Die landläufige Meinung Vitaminpräparate oder sonstige Nahrungsergänzungsmittel könnten ohne jegliche Bedenken nach dem Motto Nutzt’s-nix-schadt’s-nix eingenommen werden, ist falsch und gefährlich. Am Beispiel von Herrn Kurböck wird deutlich: Nahrungsergänzungsmittel können unserem Körper sehr wohl Schaden zufügen.

Vielleicht haben Alternativmediziner gute Erfahrungen mit dem bevorzugten Produkt ihrer Wahl gemacht und empfehlen es zumindest anfänglich reinen Herzens. Allerdings ist auch dieses reine Herz geprägt von medizinischem Unwissen.

Laut Ayurveda und auch laut der Traditionellen Chinesischen Medizin ist es wichtig, Medikamente immer individuell angepasst an den jeweiligen Patienten zusammenzustellen. Schon mehrmals sind Pharmafirmen an mich herangetreten mit der Frage, ob es nicht ein pflanzliches Mittel gebe, das gegen eine häufig auftretende Form von Beschwerde helfe. Mir wurden schon ordentliche Summen geboten für diesbezügliche Ideen. Meine Antwort war jedoch stets dieselbe. Die Beschwerden sind nur das Symptom. Symptome können sich bei verschiedenen Menschen ganz ähnlich anfühlen. Die Symptome sind allerdings nicht das Problem.

Zum Beispiel ständige Müdigkeit. Das kennen sehr viele Menschen. Aber ein Medikament, das allen Menschen gegen Müdigkeit hilft, kann es nicht geben. Es kann etwas geben, das bei vielen Menschen aufputschend wirkt. Von Kaffee bis Energy Drinks. Aber ursächlich gegen die Müdigkeit hilft das Aufputschen nicht. Eher im Gegenteil wird der Körper in den meisten Fällen zwischen den aufgeputschten Phasen noch mehr in die Müdigkeit fallen.

Müdigkeit ist ein Symptom, das sehr viele ganz unterschiedliche Ursachen haben kann. Von zu wenig Schlaf, Stress und Burnout über Vitaminmangel bis zu einer unentdeckten andauernden Entzündung, die den Körper viel Kraft kostet. Sogar ein Tumor kann hinter ständiger Müdigkeit stecken.

Daher ist es sinnlos gegen das Symptom, die Müdigkeit, vorzugehen. Erst muss ich als Arzt die Ursache für die Müdigkeit entdecken. Dann kann ich sie mit bestimmten pflanzlichen Wirkstoffen behandeln. Nur dann kann der Patient individuell von seiner Müdigkeit genesen. Daher kann es gegen das Symptom der Müdigkeit an sich kein Mittel geben, das alle Menschen im Sinne einer echten Heilung von der Müdigkeit befreit. Das Gleiche gilt für die meisten anderen Beschwerden.

Das alte medizinische Wissen steht also in klarem Widerspruch zum einen Mittel für alle. Alternativmedizinische Produktlinien kopieren trotzdem im Prinzip die Pharmaindustrie. Da werden möglichst massentaugliche Mittel vertrieben, die zu bestimmten Beschwerden, also zu den Symptomen passen. Je häufiger diese Symptome in der Bevölkerung vorkommen, desto einträglicher ist das entsprechende Mittel. Dass alle Menschen unterschiedlich sind und jede Krankheit gleichsam auf einem individuell spezifischen Boden gedeiht, blendet die Branche dabei aus. In einem ganzheitlichen alternativmedizinischen Denken kann es daher keine Produktlinien geben.

Nicht einmal bestimmte Vitamine, die wir doch vermeintlich alle brauchen können, brauchen wir im Einzelfall wirklich. Meist reicht eine abwechslungsreiche, gesunde Ernährung vollkommen aus, um unserem Körper alle benötigten Vitamine und Spurenelemente zuzuführen.

In unserer Überflussgesellschaft haben wir eher das Problem, dass wir unserem Körper zu viel von allem zuführen. Ein wenig fasten wäre oft wesentlich heilsamer als ein zusätzlicher Vitaminshake. Aber auch eine generelle Empfehlung zu fasten wäre unseriös. Wenn Menschen fasten, die nicht fasten sollten, können sie sehr viel Kraft verlieren.

Zuweilen entsteht rund um bestimmte Produkte ein regelrechter Hype. Begonnen hat es mit dem Vitamin-C-Hype in den 1990er-Jahren. Damals wurde der Bevölkerung eingeredet, wir würden an einem flächendeckenden Vitamin-C-Mangel leiden. Auf Basis dieses Glaubens werden seither Pillen verkauft, die laut der Werbung dafür so gut für den Körper wie ein ganzer Obstkorb sind. Dass das synthetisch produzierte Vitamin C nur Ascorbinsäure ist und nicht dieselbe Wirkung auf den Körper hat wie jenes aus frischem Obst, sagt niemand dazu. Denn damit würden die Menschen ja wieder mehr Obst essen und die durchwegs teureren Nahrungsergänzungsmittel nicht mehr kaufen.

Neuerdings ist es Vitamin D, das wir angeblich alle zusätzlich einnehmen sollten, weil wir zu wenig an die Sonne kommen. Dieser Mythos spricht viele Menschen an, die täglich viele Stunden im Büro verbringen und sich am Ende schlapp fühlen. Also besorgen wir uns Vitamin D rezeptfrei in der Apotheke. Dass ein Absinken des Vitamin-D-Spiegels in der dunklen Jahreszeit ganz normal ist und durch Laborbefund ausgewiesene Fälle von Vitamin-D-Mangel unter dem gesunden Grenzwert nicht die Regel sind, wird bei diesem Hype ausgeblendet. Die meisten Menschen schlucken Vitamin D auf Verdacht ohne Laborbefund. Womöglich gehen sie dann noch weniger an die Sonne und an die frische Luft.

Viele Scharlatane negieren die Individualität und Komplexität des menschlichen Körpers und der medizinischen Zusammenhänge. Meist weil sie diese Komplexität selbst nicht verstehen und nicht in Erklärungsnotstand kommen wollen. Oder weil leichtgläubige Patienten die Botschaft, dass ein Mittel sie von ihrem Leiden befreien wird, so gerne hören.

Als kritischer Konsument alternativmedizinischer Leistungen sollten Sie stets bedenken: Alles hat auch einen ökonomischen Aspekt. Das Geschäft mit dem einen Mittel für alle hat diesen ökonomischen Aspekt in ganz besonderem Ausmaß. Wenn anfänglich wohlmeinende Alternativmediziner mit dem Weiterverkauf eines Produktes Erfolg haben, können sie allzu leicht auf die schiefe Bahn der ökonomischen Motive geraten. Nämlich dann, wenn sie viel von dem Produkt billig einkaufen, damit die Gewinnspanne beim Weiterverkauf etwas höher ist. Vielleicht sind sie sogar so nett, den Preisvorteil an ihre Kunden weiterzugeben. Dennoch: Ihren Lagerbestand wollen sie natürlich so schnell wie möglich absetzen, denn schließlich haben sie ja beim Einkauf vorinvestiert. Daher empfehlen sie allen ihren Patienten nach Möglichkeit dieses Mittel. Dabei achten sie dann tendenziell nicht so genau auf die individuellen Umstände.

In ökonomischer Hinsicht risikoloser ist das Geschäftsmodell, in dem ein Alternativmediziner nicht vorher investieren und ein Lager halten muss, sondern einfach per Kommission am Vertrieb von Produkten in seiner Praxis beteiligt ist. Davon haben mir schon mehrere Patienten berichtet und so war es auch im Fall von Herrn Kurböck.

Zuweilen liegen in den Wartezimmern der Alternativmediziner Broschüren auf, die ein bestimmtes Produkt anpreisen. Sie als Patient können das Mittel, das der Alternativmediziner natürlich wärmstens empfiehlt, auch wenn er es nicht verschreiben darf, direkt per Bestellschein beziehen.

Alles ganz legal, denn Sie bestellen es ja selbst. Wenn etwas schiefgeht, weil Sie das Produkt nicht vertragen, sind nur Sie selbst in rechtlicher Hinsicht verantwortlich. Abgesehen davon könnten Sie nur in den seltensten Fällen wirklich den Nachweis erbringen, dass es das bestellte Mittel war, das Ihre Beschwerden verursacht hat. Daher Finger weg von Bestellscheinen.

Wenn ein bestimmtes Produkt Sie interessiert, lassen Sie sich am besten in Ihrer Apotheke beraten. Meistens bekommen Sie dort gleichwertige Produkte wesentlich günstiger.

Manche Alternativmediziner haben sogar ihre eigene Produktlinie, womöglich mit ihrem Bild oder ihrer Unterschrift auf den Etiketten, weil sie ja für die Qualität der Produkte quasi persönlich bürgen. Hier besteht dann umso mehr die Gefahr, dass Vertriebsüberlegungen die Empfehlungen für Patienten beeinflussen. Es steht nicht mehr im Vordergrund, was dem einzelnen Patienten guttut. Es steht im Vordergrund, was aus dem Lager muss.

Manchen werden diese Produkte vielleicht wirklich helfen, etwa durch Autosuggestion und den Placebo-Effekt, bei anderen werden sie gar nichts bewirken und einer letzten Gruppe werden sie schaden. Da Sie nicht wissen können, zu welcher dieser Gruppen Sie gehören, lautet, noch einmal, unser Rat: Lassen Sie die Finger von Standardprodukten von Alternativmedizinern und hüten Sie sich auch vor den Alternativmedizinern, die ein Mittel für alle anpreisen.

Typische Scharlatan-Aussage 2:

»Das Mittel ist ganz natürlich und hat keine Nebenwirkungen.«

Karl Andam ist ratlos. Seine Leberwerte sind außer Kontrolle. Schon seit Monaten. Zum Glück ist es kein Krebs. Auch keine Infektion der Leber. Das hat er mehrfach austesten lassen. An sich fühlt er sich wunderbar, hat keine Schmerzen und strotzt mit seinen 55 Jahren vor Vitalität. Nur diese Leberwerte bereiten ihm Kopfzerbrechen.

Aufgefallen sind sie ihm nur zufällig im Rahmen einer allgemeinen Vorsorgeuntersuchung vor einem halben Jahr. Alle Schul- und Alternativmediziner sagen ihm seither dasselbe. Er muss diese Leberwerte unbedingt in den normalen Bereich bringen, sonst steuert er langfristig womöglich auf eine Leberzirrhose zu. Noch mindestens ein Jahr lang wird er bestimmt gar nichts spüren. Aber danach kann es sehr schnell sehr schlimm werden. Leberzirrhose ist eine wirklich schwere Krankheit und häufig tödlich. So viel ist klar. Aber woher die hohen Leberwerte kommen, ist ihm nicht klar. Denn Andam lebt seit vielen Jahren wie ein Gesundheitsapostel. Er isst viel Gemüse, wenig Fleisch, raucht nicht, trinkt höchstens einmal im Monat ein Glas Wein und achtet auf ausreichende Bewegung. Sein beruflicher Stress hält sich in Grenzen. Schon vor dreißig Jahren hat er die Liebe seines Lebens gefunden. Mit den Kindern passt auch alles. Sogar seine Eltern erfreuen sich im hohen Alter noch bester Gesundheit. Bei seiner ganzen Familie sind die Leberwerte im grünen Bereich.

Mittlerweile geht Andam einmal pro Monat ins Labor und lässt sich testen. Er legt einen ganzen Stapel an Befunden vor mich hin.

Ich sehe mir alles durch. Zunächst die Befunde der Kollegen, die Andam schon konsultiert hat. Die Sache ist tatsächlich mysteriös. Die Kollegen haben mehrere mögliche und fast unmögliche Ursachen abgecheckt. Manche Dinge wären mir gar nicht eingefallen. Alles negativ. Aber irgendeine Ursache muss es geben.

Zum Schluss schaue ich mir die Laborbefunde an. Die drei Leberwerte sind auf den entsprechenden Seiten in den letzten sechs Monaten mit gelbem Leuchtstift markiert. Alle übrigen Werte passen tatsächlich zu einem Gesundheitsapostel. Alle Vitaminwerte sind an der oberen Grenze des gesunden Bereichs.

Dass Andam Nahrungsergänzungsmittel nimmt, steht schon in den anderen Befunden. Aber seine Werte sind so perfekt, dass es mich stutzig macht. Daher frage ich genauer nach.

Diese Sache habe er mit den Kollegen schon durchgekaut, meint er. Vitamin C, D, K2 und B12 nimmt er mittlerweile seit mehr als einem Jahr täglich. Aber nie mehr als die empfohlene Menge. Und seine Vitaminwerte können sich ja auch sehen lassen. Die waren früher nicht so toll, eher im unteren Bereich. Besonders Vitamin B12 war niedrig.

Ich schaue mir den ältesten Laborbefund von vor einem Jahr an. Da ist Vitamin B12 tatsächlich weit unten, aber noch im Rahmen des gesunden Bereichs. Ob er damals an Müdigkeit gelitten hat, frage ich ihn.

Er schüttelt den Kopf.

Auch sonstige Symptome einer Vitaminmangelerscheinung frage ich ab.

Aber Herr Andam hat sich damals wie heute wohl in seiner Haut gefühlt. Abgesehen von der drohenden Leberzirrhose natürlich.

Warum er dann eigentlich auf die Idee gekommen sei, Vitaminpräparate zu schlucken, frage ich nach.

Er schaut mich erstaunt an. Vitamine seien doch wichtig. Man werde ja schließlich nicht jünger. Zu den Vitaminen habe ihm ein Ernährungsexperte geraten, den er im beruflichen Umfeld kennengelernt habe. Der Mann habe eine eigene Produktlinie kreiert.

Ob seine Frau und seine Kinder auch diese Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen, frage ich weiter.

Seine Kinder nicht. Aber seine Frau hat vor drei Monaten ihm zuliebe damit angefangen. Vor allem um zu testen, ob in den Präparaten irgendwelche Stoffe sind, die auch bei ihr die Leberwerte ausschlagen lassen. Aber ihre Werte sind nach wie vor in Ordnung. Also sind auch die Präparate dieser Produktlinie in Ordnung.

Ich nicke. Die Präparate an sich mögen in Ordnung sein. Aber es stellt sich doch die Frage, ob sein Körper diese hohe tägliche Dosis an Vitaminen wirklich braucht.

»Schaden kann es jedenfalls nicht«, meint er achselzuckend.

Da irrt er. Ich erkläre ihm, warum. Selbst die gesündesten Stoffe können für den Körper schädlich sein. Die alte Weisheit des Paracelsus ist immer zu beachten: Die Dosis macht das Gift. Immer. Auch bei Vitaminen.

Aber seine Vitaminwerte seien doch innerhalb des Grenzwerts, wendet er ein, und er nehme nicht mehr als die vorgeschriebene Menge am Tag.

Das sei die schulmedizinische Sicht, erkläre ich ihm. Aber aus Sicht etwa des Ayurveda geht es nicht um allgemeine Grenzwerte, sondern um das individuelle Gleichgewicht.

Weil er mir nicht glauben will, muss ich etwas weiter ausholen. In seinem Fall tippe ich auf Vitamin B12 als Problem. Denn sein Vitamin-B12-Wert war ursprünglich niedrig und dennoch hat ihm nichts gefehlt. Also war sein Körper wahrscheinlich mit einem niedrigen Vitamin-B12-Wert im Gleichgewicht. Die Bandbreite dessen, was als gesund erachtet werden kann, ist bei Vitamin B12 sehr groß. Vitamin B12 im unteren Bereich stellt also keinen Mangel dar. Nur Menschen, die sich ausschließlich vegan ernähren, sollten wegen eines Mangels an Vitamin B12 und auch Folsäure auf der Hut sein. Menschen, die sich für mitteleuropäische Verhältnisse normal ernähren wie Herr Andam, also ab und zu Fleisch oder Eier essen und Milch trinken, sollten generell nicht annehmen, sie hätten irgendeinen Mangel. Der Körper sucht sich aus normaler Mischkost alle notwendigen Vitamine und Spurenelemente von selbst zusammen.

Echte Mangelerscheinungen sind deshalb eher selten. Die Zufuhr von bestimmten Stoffen in höheren Dosierungen, die der Körper nicht verwertet, können hingegen auf Dauer zur Belastung werden. Denn es ist nicht so, dass der Körper immer einfach alles ausscheidet, was er nicht braucht. Bei manchen Stoffen legt er auch ein Depot an, und das Depot von Vitamin B12 liegt in der Leber.

Andam sieht mich skeptisch an. Er habe sich ja nun schon wirklich intensiv mit dem Thema befasst. Das höre er zum ersten Mal, dass Vitamine solche Nebenwirkungen haben können.

Ich gebe zu, das ist ein sehr ungewöhnlicher Fall. Da es aber laut seinen verschiedenen Befunden keine andere Erklärung für seine Leberwerte gibt, lässt er sich von mir überreden, zwei Monate auf die Vitaminpräparate zu verzichten und dann wieder ins Labor zu gehen.

Bereits einen Monat später erhalte ich einen Anruf. Andam hat es nicht erwarten können. Die Leberwerte sind tatsächlich besser geworden. Sie sind noch nicht ganz in Ordnung, aber ich habe ihm ja prophezeit, dass es eine Weile dauern kann, bis die Leber sich von der Überlastung erholt.

Einen weiteren Monat später kommt er in meiner Praxis vorbei. Einen großen Korb Obst und Gemüse aus seinem eigenen Garten überreicht er mir als Dankeschön. »Das Erschreckendste an der Geschichte«, meint er, »ist für mich, dass ich ohne die zufällige Vorsorgeuntersuchung gar nichts gemerkt hätte. Ich wäre einfach eines Tages mit Leberzirrhose aufgewacht. Kein schöner Tod. Und das nur wegen zu vieler Vitamine.«

Die Alternativmedizin neigt dazu, die Nebenwirkungen ihrer Mittel herunterzuspielen. Falls überhaupt über die Nebenwirkungen eines angepriesenen Produkts informiert wird, heißt es oft: Dieses Mittel hat keine bekannten Nebenwirkungen. Weil das Mittel ganz natürlich ist, glauben wir das auch gerne.

Der allgemeine Bio-Trend wirkt sich auch auf unsere Einstellung zu Medikamenten aus. Je natürlicher, desto besser. Bei Medikamenten, die von der Pharmaindustrie hergestellt werden, glaubt kaum jemand, sie hätten keine Nebenwirkungen. Sobald allerdings ein Mittel als natürlich angepriesen wird, mit rein pflanzlichen Wirkstoffen, glauben viele Menschen, dass sie dieses Produkt bedenkenlos kaufen und zu sich nehmen können. Denn »natürlich« kann doch nur bedeuten, dass es der menschliche Körper gut verträgt. Natürliche Produkte hätten also automatisch keinerlei Nebenwirkungen.

Diesen Glauben machen sich Scharlatane in der Alternativmedizin zunutze. Die Menschen wollen natürliche Wirkstoffe ohne Nebenwirkungen, also preisen die Scharlatane natürliche Wirkstoffe ohne Nebenwirkungen an und verkaufen oder empfehlen sie, um ihr eigenes Bio-Image zu stärken.

Doch auch etwas, das natürlich wächst, kann logischerweise für Menschen schädlich sein, sogar sehr. Die meisten erwachsenen Menschen wissen zum Beispiel, dass sie beim Pilzesammeln aufpassen müssen. Manche giftigen Pilze sehen den essbaren zum Verwechseln ähnlich.

Bei Pflanzen ist das Wissen um deren Gefährlichkeit zwar ebenfalls vorhanden, aber dieses Wissen ist nicht so präsent. Denn wir pflücken Herbstzeitlosen selten, um sie zu essen. Nur die Bärlauchsammler müssen aufpassen, dass sie keine Maiglöckchenblätter erwischen. Die berüchtigte Tollkirsche hingegen haben die wenigsten Menschen je in freier Natur gesehen.

Umso deutlicher sei hier gesagt: Auch die Einnahme von pflanzlichen oder sonstigen natürlichen Wirkstoffen wie zum Beispiel Vitaminen kann Ihnen schaden. »Natürlich« ist nicht gleichbedeutend mit »gut verträglich«.

Nun werden Sie vielleicht denken: Okay, so weit logisch, aber die Alternativmedizin empfiehlt doch bestimmt nur pflanzliche Wirkstoffe, die gut verträglich sind. Lassen Sie mich an dieser Stelle tief seufzen und Ihnen folgende Begebenheit schildern:

Ein Freund und Kollege von mir ist praktischer Arzt. In der Nähe seiner Praxis liegt ein Altersheim, das er mit betreut. Eines Tages hat das Altersheim eine neue leitende Krankenschwester bekommen. Die engagierte Frau hat ihren Job ernst genommen. Sie hatte bereits einige Kurse in Naturheilkunde besucht und sah sich die Abläufe im Heim genau an, denn sie wollte Ansätze für natürliche Gesundheitsvorsorge finden.

Als Erstes fiel ihr auf, dass Frühstück, Mittag- und Abendessen zu viel Fleisch beinhalten. Das führte sie zu der Ansicht, sämtliche Bewohner des Heims seien wegen der allzu fleischhaltigen Kost tendenziell übersäuert. Eine Umstellung der Ernährung auf mehr Gemüse war jedoch gegenüber den alten Heimbewohnern nicht leicht durchzusetzen. Also fand die Schwester eine andere Lösung für das Problem. Menschen mit zu viel Säure müssen ausleiten. Das wusste sie von ihren Naturheilkunde-Seminaren.

Eine der natürlichsten Arten der Ausleitung ist das Trinken von Brennnesseltee. Das war der Kompromiss. Die Heimbewohner sollten nebst etwas mehr Gemüse weiterhin ihr Fleisch essen, aber dafür auch ordentlich Brennnesseltee trinken.

Der für das Heim zuständige Arzt erfuhr nichts über die allgemeine Brennnesseltee-Trinkerei. Sechs Wochen später sah er sich mit einem rätselhaften Faktum konfrontiert. In dem Altersheim gab es neuerdings ungewöhnlich viele Herzinfarkte. Zum Glück kam er schnell dahinter, was die Ursache dafür war und konnte eine größere Katastrophe verhindern. Denn die neue leitende Krankenschwester hatte in ihren Naturheilkursen etwas nicht gelernt. Länger als zwei Wochen sollte Brennnesseltee zur Ausleitung nicht getrunken werden. Denn er schwemmt ab der vierten Woche auch Elektrolyte aus dem Körper. Kalium und Magnesium gehen in signifikanten Mengen verloren. Für viele ältere Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen kann das schnell tödlich enden.

Auch dieser Fall bestätigt die alte Weisheit des Paracelsus, dass die Dosis das Gift macht. Auch eine harmlos scheinende und seit Jahrhunderten bewährte Pflanze kann Schaden anrichten und gehört in Fachhände. Das gilt nicht nur für die exotischen ayurvedischen Pflanzen und die pflanzlichen Wirkstoffe der Traditionellen Chinesischen Medizin. Es gilt auch für die hierzulande altbewährten Hausmittel, die aus der Traditionellen Europäischen Medizin stammen.

Altbewährte Hausmittel wirken und sind gerade deshalb allesamt mit Vorsicht zu genießen. Sie passen mit Sicherheit nicht immer, nicht auf Dauer und nicht für jeden. Alles, was wirkt, kann auch Nebenwirkungen haben, die je nach Patienten zuweilen auch drastisch ausfallen können, wie der Brennnesseltee-Fall zeigt.

Behauptet ein Alternativmediziner, ein Medikament auf pflanzlicher Basis habe keinerlei Nebenwirkungen, lügt er entweder, oder er dosiert so niedrig, dass das Medikament auch keine Wirkung hat, oder er ist einfach ahnungslos.

Hier einige Beispiele für Nebenwirkungen, die in der Alternativmedizin gerne unterschlagen werden.

Ingwer. Ingwertee hat als scheinbar unbedenkliches Hausmittel zur Stärkung der Abwehrkräfte weite Verbreitung gefunden. Ingwer wirkt unter anderem entzündungshemmend und anregend auf die Magensaft- und Gallebildung. Frischer Ingwer ist, wenn er gelutscht wird, ein gutes Mittel gegen Brechreiz. Bei Menschen, die zu Hitze neigen, kann Ingwer allerdings die Magenschleimhaut entzünden und auf längere Sicht verätzen.

Eine Hitzeneigung hat, wer leicht ins Schwitzen kommt, leicht Sodbrennen bekommt und bei dem der Stuhlgang nach scharfem Essen brennt, weil er Chili und Pfeffer nicht ordentlich verdaut hat. Auch Ingwer ist scharf.

Auch bei einer Neigung zu Gastritis ist von Ingwertee dringend abzuraten.

Pfefferminze. Im Gegensatz dazu wirkt Pfefferminztee kühlend. Er kann helfen, eine Magenentzündung zu heilen. Wenn jemand allerdings zu Kraftlosigkeit neigt, ist Pfefferminztee nicht zu empfehlen, da er dem Körper Wärme entzieht.

Grüner Tee. Noch stärker kühlend wirkt der angeblich so gesunde grüne Tee. Grüner Tee in größeren Mengen kann hilfreich sein bei einer starken Entzündung oder Krebs. Manche Alternativmediziner empfehlen ihn literweise jedermann. Doch größere Mengen davon verträgt nur jemand, der viel Hitze im Körper hat. Alle anderen werden davon nervös und fahrig. Mit der Zeit bekommen sie Schlafstörungen, die sich in weiterer Folge auf den allgemeinen Gesundheitszustand negativ auswirken.

Bei der Wirkung von grünem Tee sind allerdings Unterschiede je nach Weltregion zu beobachten. In Japan und China trinken viel mehr Menschen grünen Tee in größeren Mengen, ohne dass die oben beschriebenen Beschwerden massenhaft auftreten. Über die Jahrhunderte haben sich die Menschen im Fernen Osten an den grünen Tee gewöhnt. In Europa ist das noch nicht der Fall.

Kamille. Nicht einmal Kamillentee ist harmlos. Er hilft gegen Magen-Darm-Infektionen, allerdings vertragen viele Menschen Kamille schlecht. Bei rund 10 Prozent aller Europäer führt Kamillentee sogar zu allergischen Reaktionen. Daher Vorsicht bei seinem Einsatz.

Melisse. Melissentee wird oft als Einschlafhilfe empfohlen. Wenn Sie bei Schlafproblemen ab und zu Melissentee trinken, schadet Ihnen das nicht. Aber hüten Sie sich davor, Melisse dauerhaft zum Beispiel zur Besänftigung eines nervösen Darms zu trinken. Denn auch die Melisse ist eine Pflanze, die bei starker Wirkung auch starke Nebenwirkungen entfalten kann. Manche Menschen reagieren allergisch und Schilddrüse-Patienten können zu stark reagieren. Pfarrer Kneipp hätte Ihnen nie nur Melisse gegeben. Er hätte die Melisse je nach Patient immer mit anderen Kräutern kombiniert, um negative Wirkungen zu verringern.

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