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Читать книгу: «Die Memoiren des Sherlock Holmes», страница 4

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›Dann erzähl mir alles‹, sagte ich.

›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie aus.

›Solange du mir nicht sagst, wer in diesem Cottage gewohnt hat und wem du die Photographie gegeben hast, kann keinerlei Vertrauen mehr zwischen uns herrschen‹, sagte ich, riß mich von ihr los und ging aus dem Haus. Das war gestern, Mr. Holmes, und seither habe ich sie weder gesehen, noch weiß ich irgend mehr über diese seltsame Geschichte. Es ist das erste Mal, daß ein Schatten zwischen uns gefallen ist, und es hat mich so erschüttert, daß ich mit dem besten Willen nicht weiß, was ich tun soll. Heute morgen kam mir plötzlich der Gedanke, daß Sie der Richtige wären, mir zu raten, und so bin ich jetzt zu Ihnen geeilt und lege mich vorbehaltlos in Ihre Hände. Wenn es irgend etwas gibt, was ich nicht klargemacht habe, so fragen Sie mich doch bitte danach. Doch sagen Sie mir vor allem rasch, was ich tun muß, denn dieses Leid ist mehr, als ich ertragen kann.«

Holmes und ich hatten mit dem größten Interesse dieser außergewöhnlichen Darstellung gelauscht, die in der sprunghaften, zusammenhanglosen Weise eines Menschen vorgetragen worden war, der unter dem Einfluß extremer Gefühlswallungen steht. Mein Gefährte saß nun eine Zeitlang schweigend da, das Kinn auf die Hand gestützt, in Gedanken verloren.

»Sagen Sie«, meinte er schließlich, »könnten Sie beschwören, daß es ein Männergesicht war, was Sie am Fenster sahen?«

»Jedesmal wenn ich es sah, war ich ein Stück weit davon entfernt, so daß ich das unmöglich sagen kann.«

»Sie scheinen davon allerdings unangenehm berührt gewesen zu sein.«

»Es schien von unnatürlicher Farbe zu sein und in seinen Zügen eine seltsame Starrheit zu besitzen. Als ich näherkam, verschwand es mit einem Ruck.«

»Wie lange ist es her, daß Ihre Frau Sie um hundert Pfund gebeten hat?«

»Fast zwei Monate.«

»Haben Sie je eine Photographie ihres ersten Mannes zu Gesicht bekommen?«

»Nein; ganz kurz nach seinem Tode brach in Atlanta ein großer Brand aus, und all ihre Papiere wurden vernichtet.«

»Und doch hatte sie einen Totenschein. Sie sagen, Sie haben ihn gesehen?«

»Ja, sie bekam nach dem Brand eine Kopie.«

»Haben Sie jemals jemanden getroffen, der sie in Amerika kannte?«

»Nein.«

»Hat sie je davon gesprochen, das Land noch einmal zu besuchen?«

»Nein.«

»Oder Briefe von dort bekommen?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Danke. Ich würde die Angelegenheit jetzt gerne ein wenig überdenken. Falls das Cottage für immer verlassen worden ist, wird es vielleicht etwas schwierig für uns; wenn andererseits, was ich für wahrscheinlicher erachte, die Bewohner gestern vor Ihrem Kommen gewarnt wurden und verschwanden, bevor Sie reingekommen sind, dann könnten sie mittlerweile wieder zurück sein, und wir dürften alles ohne weiteres aufklären. Mithin möchte ich Ihnen raten, nach Norbury zurückzukehren und die Fenster des Cottage noch einmal zu überprüfen. Wenn Sie Grund zu der Annahme haben, daß es bewohnt ist, so verschaffen Sie sich nicht gewaltsam Zutritt, sondern schicken meinem Freund und mir ein Telegramm. Wir werden dann binnen einer Stunde bei Ihnen sein und dieser Geschichte sehr rasch auf den Grund gehen.«

»Und wenn es immer noch leer ist?«

»In diesem Fall komme ich morgen zu Ihnen hinaus und bespreche es mit Ihnen. Auf Wiedersehen, und vor allem quälen Sie sich nicht, solange Sie nicht wissen, ob Sie auch wirklich Grund dazu haben.«

»Ich fürchte, das ist eine üble Geschichte, Watson«, sagte mein Gefährte, nachdem er Mr. Grant Munro zur Tür begleitet hatte. »Was halten Sie davon?«

»Es hörte sich häßlich an«, antwortete ich.

»Ja. Da ist Erpressung im Spiel, wenn ich mich nicht sehr irre.«

»Und wer ist der Erpresser?«

»Nun ja, es muß diese Kreatur sein, die das einzige komfortable Zimmer des Hauses bewohnt und ihre Photographie auf dem Kaminsims stehen hat. Auf mein Wort, Watson, dieses leichenfahle Gesicht am Fenster hat etwas überaus Anziehendes, und ich hätte den Fall um alles in der Welt nicht missen mögen.«

»Haben Sie eine Theorie?«

»Ja, eine vorläufige. Aber ich werde überrascht sein, wenn sie sich nicht als richtig erweist. Der erste Gatte dieser Frau befindet sich in jenem Cottage.«

»Warum glauben Sie das?«

»Wie sonst können wir ihre wahnsinnige Angst davor erklären, daß ihr zweiter es betreten könnte? Der Sachverhalt, wie ich ihn sehe, dürfte etwa der folgende sein: Diese Frau war in Amerika verheiratet. Ihr Gatte entwickelte irgendwelche abscheulichen Eigenschaften oder, sagen wir, er zog sich irgendeine grauenvolle Krankheit zu und wurde aussätzig oder schwachsinnig. Sie entfloh schließlich vor ihm, kehrte nach England zurück, änderte ihren Namen und begann, wie sie meinte, ein neues Leben. Sie war drei Jahre verheiratet gewesen und glaubte, ihre Lage sei recht sicher – hatte sie doch ihrem Gatten den Totenschein irgendeines Mannes gezeigt, dessen Namen sie angenommen hatte –, als ihr Aufenthaltsort plötzlich von ihrem ersten Gatten oder, so dürfen wir annehmen, von einer skrupellosen Frau entdeckt wurde, die sich dem Leidenden angeschlossen hatte. Sie schreiben der Frau und drohen, zu kommen und sie bloßzustellen. Sie bittet um hundert Pfund und versucht, sie abzufinden. Sie kommen trotzdem, und als der Gatte der Frau gegenüber beiläufig erwähnt, daß im Cottage Neuankömmlinge wohnen, weiß sie irgendwie, daß es ihre Verfolger sind. Sie wartet, bis ihr Gatte schläft, und eilt dann hinüber, um die beiden zu überreden zu versuchen, sie in Frieden zu lassen. Da sie keinen Erfolg hat, geht sie am nächsten Morgen wieder hin, und ihr Mann begegnet ihr, wie er uns erzählt hat, als sie herauskommt. Sie verspricht ihm, nicht mehr hinzugehen, doch zwei Tage später ist die Hoffnung, jener schrecklichen Nachbarn ledig zu werden, zu stark für sie, und sie macht einen weiteren Versuch, wobei sie die Photographie mitnimmt, die wahrscheinlich von ihr verlangt worden war. Mitten in dieses Gespräch platzt das Mädchen, um zu berichten, daß der Herr nach Hause gekommen ist, worauf die Frau, wohl wissend, daß er geradewegs zum Cottage kommen wird, die Bewohner zur Hintertür hinausscheucht, in jenes Kieferngehölz vermutlich, von dem es hieß, es liege nahebei. Somit findet er das Haus verlassen. Ich wäre allerdings sehr überrascht, wenn dem immer noch so wäre, wenn er es heute abend auskundschaftet. Was halten Sie von meiner Theorie?«

»Es ist alles Vermutung.«

»Aber sie trägt allen Tatsachen Rechnung. Wenn neue Tatsachen auftreten, denen sie nicht Rechnung tragen kann, ist immer noch Zeit, sie zu überdenken. Im Augenblick können wir nichts tun, bis wir neue Nachricht von unserem Freund aus Norbury haben.«

Doch wir mußten nicht sehr lange warten. Sie traf ein, gerade als wir unseren Tee getrunken hatten. »Das Cottage ist noch bewohnt«, lautete sie. »Habe wieder das Gesicht am Fenster gesehen. Ich werde Sie vom Sieben-Uhr-Zug abholen und bis zu Ihrer Ankunft keine Schritte unternehmen.«

Er wartete schon auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und im Licht der Bahnhofslampen konnten wir erkennen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte.

»Sie sind immer noch da, Mr. Holmes«, sagte er, indem er meinem Freund die Hand auf den Ärmel legte. »Ich habe Lichter im Cottage gesehen, als ich hinkam. Wir werden es jetzt ein für allemal klären.«

»Was also ist Ihr Plan?« fragte Holmes, während wir die dunkle, baumbestandene Straße hinuntergingen.

»Ich werde mir gewaltsam Zutritt verschaffen und selbst nachsehen, wer sich in dem Haus befindet. Ich möchte, daß Sie beide als Zeugen anwesend sind.«

»Sie sind unbedingt dazu entschlossen, trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, wenn Sie das Rätsel nicht lösten?«

»Ja, ich bin entschlossen.«

»Nun denn, ich finde, Sie sind im Recht. Jede Wahrheit ist besser als endloser Zweifel. Wir gehen besser sofort hin. Juristisch betrachtet setzen wir uns natürlich hoffnungslos ins Unrecht, aber ich denke, das ist es wert.«

Es war eine sehr dunkle Nacht, und ein feiner Regen begann zu fallen, als wir von der Hauptstraße auf einen schmalen, tiefgefurchten Feldweg mit Aufwürfen zu beiden Seiten abbogen. Mr. Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten, so gut wir konnten, hinter ihm her.

»Dort sind die Lichter meines Hauses«, murmelte er und deutete auf einen Schimmer zwischen den Bäumen, »und da ist das Cottage, in das ich rein will.«

Wir bogen um eine Ecke des Weges, während er sprach, und da stand das Gebäude gleich vor uns. Ein gelber Streifen, der über den dunklen Vordergrund fiel, zeigte, daß die Tür nicht ganz geschlossen war, und ein Fenster im Obergeschoß war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir einen dunklen Fleck über die Jalousie huschen.

»Da ist diese Kreatur«, rief Grant Munro; »Sie sehen selbst, daß jemand da ist. Folgen Sie mir, gleich werden wir alles wissen.«

Wir traten auf die Tür zu, doch plötzlich tauchte aus dem Schatten eine Frau auf und stand in der goldenen Bahn des Lampenlichts. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber ihre Arme waren in einer flehentlichen Gebärde ausgestreckt.

»Um Gottes willen, tu's nicht, Jack!« rief sie. »Ich hatte eine Vorahnung, daß du heute abend kommen würdest. Besinn dich eines Besseren, Lieber! Vertrau mir noch einmal, und du wirst nie Grund haben, es zu bedauern.«

»Ich habe dir zu lange vertraut, Effie!« rief er streng. »Laß mich durch! Ich muß an dir vorbei. Meine Freunde und ich werden diese Angelegenheit ein für allemal klären!« Er schob sie zur Seite, und wir folgten ihm dichtauf. Als er die Tür aufriß, lief eine ältere Frau vor ihm auf den Flur und versuchte, ihm den Durchgang zu versperren. Er stieß sie zurück, und gleich darauf standen wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das beleuchtete Zimmer im ersten Stock, und wir betraten es gleich nach ihm.

Es war ein gemütlicher, schön eingerichteter Wohnraum mit zwei Kerzen, die auf dem Tisch, und zweien, die auf dem Kaminsims brannten. In der Ecke saß, über ein Pult gebeugt, anscheinend ein kleines Mädchen. Ihr Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß sie ein rotes Kleid trug und lange, weiße Handschuhe anhatte. Als sie zu uns herumwirbelte, stieß ich einen überraschten und entsetzten Schrei aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, war von der seltsamsten, leichenfahlen Tönung, und die Züge waren absolut bar jeden Ausdrucks. Einen Augenblick später wurde das Geheimnis gelüftet. Auflachend griff Holmes dem Kind hinters Ohr, eine Maske schälte sich von ihrem Gesicht, und da stand eine kleine, kohlschwarze Negerin, und alle ihre weißen Zähne blitzten vor Belustigung ob unserer verdutzten Gesichter. Ich mußte hell auflachen, angesteckt von ihrer Fröhlichkeit, aber Grant Munro stand und starrte, die Hand um den Hals geklammert.

»Mein Gott!« rief er, »was hat das nur zu bedeuten?«

»Ich werde dir sagen, was es bedeutet«, rief die Dame, die mit stolzem, entschlossenem Gesicht ins Zimmer schritt. »Du hast mich wider besseres Wissen gezwungen, es dir zu sagen, und jetzt müssen wir beide das Beste daraus machen. Mein Mann starb in Atlanta. Mein Kind überlebte.«

»Dein Kind!«

Sie zog ein großes, silbernes Medaillon aus dem Busen. »Du hast das nie geöffnet gesehen.«

»Ich dachte, es ließe sich nicht öffnen.«

Sie berührte eine Feder, und die Vorderseite klappte auf. Darinnen befand sich das Porträt eines auffallend schönen und klugen Mannes, dessen Züge jedoch unverkennbar seine afrikanische Herkunft erkennen ließen.

»Das ist John Hebron aus Atlanta«, sagte die Dame, »und ein edlerer Mann wandelte nie auf Gottes Erdboden. Ich habe mich von meiner Rasse losgesagt, um ihn zu ehelichen; doch solange er lebte, habe ich es niemals auch nur einen Moment lang bedauert. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind eher seiner als meiner Familie nachschlug. Das kommt häufig vor bei solchen Verbindungen, und die kleine Lucy ist sogar weitaus dunkler, als es ihr Vater je war. Doch ob dunkel oder hell, sie ist mein liebes kleines Mädchen und der Schatz ihrer Mutter.« Das kleine Geschöpf lief bei diesen Worten herbei und schmiegte sich ans Kleid der Dame.

»Als ich sie in Amerika zurückließ«, fuhr sie fort, »tat ich das nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie wurde der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die einst unsere Bedienstete gewesen war. Keinen Augenblick lang dachte ich auch nur im Traum daran, sie als mein Kind zu verleugnen. Aber als der Zufall mir dich über den Weg führte und ich dich lieben lernte, hatte ich Angst, dir von meinem Kind zu erzählen. Gott vergebe mir, ich hatte Angst, dich zu verlieren; und ich brachte nicht den Mut auf, es dir zu erzählen. Ich mußte mich für dich entscheiden und wandte mich in meiner Schwäche von meinem kleinen Mädchen ab. Drei Jahre lang habe ich es vor dir geheimgehalten, doch ich hörte von dem Kindermädchen und wußte, daß bei ihr alles zum besten stand. Schließlich jedoch überkam mich ein überwältigendes Verlangen, das Kind noch einmal zu sehen. Ich kämpfte dagegen an, doch vergeblich. Obgleich ich mir der Gefahr bewußt war, beschloß ich, das Kind herüberzuholen, und sei es nur für ein paar Wochen. Ich schickte dem Kindermädchen hundert Pfund und gab ihr Anweisungen für dieses Cottage, so daß sie als Nachbarin kommen konnte, ohne daß es den Anschein hatte, als stünde ich in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung. In meiner Vorsicht hieß ich sie sogar das Kind tagsüber im Hause behalten und ihr Gesichtchen und ihre Hände bedecken, so daß selbst die, die sie möglicherweise am Fenster zu sehen bekämen, nicht darüber tratschten, in der Nachbarschaft wohne ein schwarzes Kind. Es wäre vielleicht klüger gewesen, nicht gar so vorsichtig zu sein, aber ich war halb verrückt vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.

Du warst es, der mir als erster davon erzählte, daß das Cottage belegt sei. Ich hätte bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlüpfte ich schließlich hinaus, wußte ich doch, wie schwer es ist, dich zu wecken. Aber du sahst mich gehen, und damit nahmen meine Schwierigkeiten ihren Anfang. Am nächsten Tag war mein Geheimnis dir ausgeliefert, doch du hast großmütig deinen Vorteil nicht ausgenutzt. Drei Tage später allerdings entkamen das Kindermädchen und das Kind nur knapp durch die Hintertür, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute abend nun weißt du endlich alles, und ich frage dich, was aus uns werden soll, aus meinem Kind und mir?« Sie rang die Hände und wartete auf eine Antwort.

Es vergingen zwei lange Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach, und als seine Antwort kam, war es eine, an die ich mit Freude zurückdenke. Er hob das kleine Kind auf, küßte es und streckte dann, es immer noch auf dem Arm haltend, seiner Frau die andere Hand hin und wandte sich zur Tür.

»Wir können bequemer zu Hause darüber reden«, sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke, ich bin ein besserer, als du mir zugutegehalten hast.«

Holmes und ich folgten ihnen hinunter vors Haus, und mein Freund zupfte mich am Ärmel, als wir herauskamen. »Ich glaube«, sagte er, »in London werden wir eher gebraucht als in Norbury.«

Kein weiteres Wort verlor er über den Fall bis spät in der Nacht, als er sich mit brennender Kerze nach seinem Schlafzimmer wandte.

»Watson«, sagte er, »sollten Sie je den Eindruck haben, ich überschätzte meine Fähigkeiten oder ich wende weniger Mühe an einen Fall, als er verdient, dann flüstern Sie mir freundlicherweise ›Norbury‹ ins Ohr, und ich werde Ihnen unendlich verbunden sein.«

Der Angestellte des Börsenmaklers

Kurz nach meiner Heirat17 hatte ich im Bezirk Paddington eine Praxis samt Patienten übernommen. Der alte Mr. Farquar, von dem ich sie erworben hatte, hatte früher einmal eine ausgezeichnete Allgemeinpraxis gehabt, doch mit seinem Alter und seinen Gebrechen – er litt an Veitstanz – wurden die Patienten immer spärlicher. Das Publikum verhält sich nicht unnatürlicherweise nach dem Prinzip, daß, wer andere gesundmachen will, selbst gesund sein muß, und mißtraut den Fähigkeiten eines Heilers, dessen eigener Fall seinen Heilmitteln trotzt. Je hinfälliger daher mein Vorgänger wurde, desto mehr ging es mit seiner Praxis bergab, bis das Einkommen schließlich von zwölfhundert auf wenig mehr als dreihundert pro Jahr abgesunken war. Ich hatte jedoch Vertrauen in meine Jugend und Energie und war davon überzeugt, daß das Unternehmen in sehr wenigen Jahren wie nur je florieren würde.

Nach Einrichtung der Praxis wurde ich drei Monate lang sehr stark von Arbeit beansprucht und sah wenig von meinem Freund Sherlock Holmes, denn ich war zu beschäftigt, um der Baker Street einen Besuch abzustatten, und er selbst ging selten, und nur aus beruflichen Gründen, aus. Ich war deshalb überrascht, als ich eines Morgens im Juni, da ich nach dem Frühstück gerade das British Medical Journal las, das Klingeln der Glocke hörte und gleich darauf die hohen, etwas schneidenden Töne der Stimme meines alten Gefährten.

»Ah, mein lieber Watson«, sagte er, ins Zimmer schreitend. »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen. Ich hoffe doch, Mrs. Watson hat sich von all den kleinen Aufregungen in Zusammenhang mit unserem Abenteuer vom ›Zeichen der Vier‹ mittlerweile völlig erholt?«

»Danke, es geht uns beiden sehr gut«, sagte ich und schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Und ich hoffe außerdem«, sagte er, indem er sich im Schaukelstuhl niederließ, »daß die Belange der ärztlichen Tätigkeit das Interesse, das Sie an unseren kleinen Deduktionsproblemen zu nehmen pflegten, nicht gänzlich ausgelöscht haben.«

»Im Gegenteil«, antwortete ich; »erst gestern abend habe ich meine alten Aufzeichnungen durchgesehen und einige unserer früheren Ergebnisse geordnet.«

»Sie halten Ihre Kollektion doch hoffentlich nicht für abgeschlossen?«

»Keineswegs. Ich wünsche mir nichts mehrmals noch weitere solche Erfahrungen zu machen.«

»Heute, zum Beispiel?«

»Ja; heute, wenn Sie wollen.«

»Und so weit weg wie Birmingham?«

»Gewiß, wenn Sie es wünschen.«

»Und die Praxis?«

»Ich versehe die meines Nachbarn, wenn er weggeht. Er ist stets bereit, die Schuld abzuarbeiten.«

»Ha! Es könnte nicht besser sein!« sagte Holmes, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte mich scharf unter halb geschlossenen Lidern hervor. »Wie ich sehe, sind Sie kürzlich unpäßlich gewesen. Erkältungen im Sommer sind immer ein wenig beschwerlich.«

»Letzte Woche hat mich ein starker Schnupfen drei Tage lang ans Haus gefesselt. Ich dachte allerdings, ich hätte jede Spur davon abgeworfen.«

»Das haben Sie auch. Sie sehen bemerkenswert robust aus.«

»Woher haben Sie es dann gewußt?«

»Mein lieber Freund, Sie kennen doch meine Methoden.«

»Sie haben es also deduziert?«

»Gewiß.«

»Und woraus?«

»Aus Ihren Pantoffeln.«

Ich starrte auf die neuen Glanzledernen hinunter, die ich trug. »Wie um alles in der Welt –?« hob ich an, aber Holmes beantwortete meine Frage, bevor sie noch gestellt war.

»Ihre Pantoffeln sind neu«, sagte er. »Sie können sie noch nicht länger als ein paar Wochen haben. Die Sohlen, die Sie mir gerade zuwenden, sind leicht angesengt. Einen Moment lang dachte ich, sie seien vielleicht feucht geworden und beim Trocknen angebrannt. Doch nahe beim Innenrist befindet sich eine kleine runde Siegelmarke aus Papier mit den Hieroglyphen des Geschäftsinhabers darauf. Feuchtigkeit hätte sie natürlich abgelöst. Sie haben dagesessen, die Füße zum Kamin hin ausgestreckt, was ein Mann auch in einem so feuchtkalten Juni bei voller Gesundheit kaum tun würde.«

Wie jede Holmessche Beweisführung schien die Sache die Einfachheit selbst zu sein, wenn sie erst einmal erklärt war. Er las mir den Gedanken vorn Gesicht ab, und sein Lächeln bekam einen Anflug von Bitterkeit.

»Ich fürchte, ich gebe mich ziemlich preis, wenn ich erkläre«, sagte er. »Ergebnisse ohne Gründe sind weitaus eindrucksvoller. Sie sind also bereit, mit nach Birmingham zu kommen?«

»Gewiß. Um was für einen Fall handelt es sich?«

»Sie werden alles im Zug erfahren. Mein Klient sitzt draußen in einer Droschke. Können Sie gleich mitkommen?«

»Sofort.« Ich kritzelte einen Zettel für meinen Nachbarn, eilte nach oben, um die Sache meiner Frau zu erklären, und traf Holmes auf der Schwelle.

»Ihr Nachbar ist Arzt?« fragte er mit einem Nicken zum Messingschild.

»Ja. Er hat eine Praxis gekauft, wie ich.«

»Eine alteingeführte?«

»Genauso wie meine. Beide bestehen, seit die beiden Häuser erbaut wurden.«

»Aha, dann haben Sie sich die bessere von beiden gesichert.«

»Ich glaube schon. Aber woher wissen Sie das?«

»Aufgrund der Stufen, mein Bester. Ihre sind drei Inch tiefer ausgetreten als seine. Aber dieser Gentleman in der Kutsche ist mein Klient, Mr. Hall Pycroft. Erlauben Sie mir, ihn Ihnen vorzustellen. Treiben Sie Ihr Pferd an, Kutscher, denn wir haben eben noch Zeit, unseren Zug zu erreichen.«

Der Mann, dem ich mich gegenüber sah, war ein gutgebauter, junger Mensch mit blühendem Teint, offenem, ehrlichem Gesicht und einem dünnen, krausen blonden Schnurrbart. Er trug einen stark glänzenden Zylinder und einen kleidsamen Anzug von nüchternem Schwarz, der ihn nach dem aussehen ließ, was er war – ein smarter, junger Mann der City, aus der Klasse, die man als Cockneys bezeichnet, aus der sich jedoch unsere famosen Freiwilligen-Regimenter rekrutieren und bessere Athleten und Sportsmänner als aus jedem anderen Menschenschlag auf diesen Inseln. Sein rundes, rosiges Gesicht war von Natur aus voller Heiterkeit, aber seine Mundwinkel schienen mir in halb komischem Kummer herabgezogen. Ich sollte allerdings erst, als wir alle in einem Erster-Klasse-Abteil saßen und unsere Reise nach Birmingham richtig angetreten hatten, erfahren, was für ein Problem ihn zu Sherlock Holmes getrieben hatte.

»Von hier aus fahren wir volle siebzig Minuten«, bemerkte Holmes. »Ich möchte, daß Sie, Mr. Hall Pycroft, meinem Freund Ihr höchst interessantes Erlebnis genau so erzählen, wie Sie es mir erzählt haben, das heißt, wenn möglich, noch etwas detaillierter. Es wird mir von Nutzen sein, noch einmal den Ablauf der Ereignisse zu hören. Es handelt sich um einen Fall, Watson, an dem etwas dran sein mag oder auch nicht, der jedoch zumindest jene ungewöhnlichen und outrierten Züge aufweist, die Ihnen so teuer sind wie mir. Nun denn, Mr. Pycroft, ich werde Sie nicht wieder unterbrechen.«

Unser junger Begleiter sah mich mit einem Augenzwinkern an.

»Das Schlimmste an der Geschichte ist«, sagte er, »daß ich wie ein vollkommener Trottel dastehe. Natürlich kann es gut ausgehen, und ich sehe nicht, wie ich mich hätte anders verhalten können; aber wenn ich meinen Futterplatz verloren habe und nichts dafür bekomme, werde ich merken, was für eine weiche Birne ich gehabt habe. Ich bin nicht sehr gut im Geschichtenerzählen, Dr. Watson, aber es verhält sich so.

Bis vor einiger Zeit hatte ich eine Stellung bei Coxon & Woodhouse in Draper's Gardens, aber die sind, wie Sie sich zweifellos erinnern, im Frühjahr mit der Venezuela-Anleihe reingelegt worden und ganz schön auf den Bauch gefallen. Ich war fünf Jahre bei ihnen gewesen, und der alte Coxon gab mir ein kolossal gutes Zeugnis, als es krachte, aber natürlich wurden wir Angestellten an die Luft gesetzt, alle siebenundzwanzig. Ich versuchte es hier und versuchte es da, aber in meiner Branche gab's noch viele andere Burschen, und lange Zeit herrschte völlige Eiszeit. Bei Coxon hatte ich drei Pfund die Woche verdient und ungefähr siebzig gespart, aber die hatte ich bald schon weggeputzt mit Stumpf und Stiel. Schließlich war ich mit meinem Latein ziemlich am Ende und konnte kaum noch die Briefmarken aufbringen, um die Anzeigen zu beantworten, oder die Umschläge, um sie daraufzukleben. Ich hatte mir mit Treppensteigen in Kontoren die Hacken abgelaufen und schien von einer Stellung so weit entfernt wie nur je.

Schließlich erfuhr ich von einer Vakanz bei Mawson & Williams, der großen Börsenmaklerfirma in der Lombard Street. Ich darf wohl annehmen, daß die Hochfinanz nicht gerade in Ihr Fach schlägt, aber ich kann Ihnen sagen, daß das so ungefähr das reichste Haus in London ist. Die Anzeige sollte ausschließlich brieflich beantwortet werden. Ich schickte mein Zeugnis und die Bewerbung, jedoch ohne die geringste Hoffnung, die Stelle zu bekommen. Postwendend kam eine Antwort, in der es hieß, wenn ich nächsten Montag vorspräche, könnte ich möglicherweise sofort meine neuen Pflichten antreten, vorausgesetzt, mein Auftreten stelle zufrieden. Niemand weiß, wie diese Dinge gehandhabt werden. Manche behaupten, der Manager stecke einfach seine Hand in den Stapel und ziehe die erstbeste Bewerbung heraus. Wie auch immer, diesmal war ich am Schlage18, und ich konnte mir gar nichts Schöneres vorstellen. Die Kohle betrug ein Pfund mehr pro Woche, und die Pflichten waren ungefähr die gleichen wie bei Coxon.

Und jetzt komme ich zum komischen Teil der Geschichte. Ich hatte eine Bude draußen in Hampstead – Potter Terrace 17 war die Adresse. Nun ja, am gleichen Abend saß ich gerade da und rauchte, als meine Hauswirtin mit einer Karte heraufkam, auf der stand ›Arthur Pinner, Finanzmakler‹. Ich hatte den Namen noch nie gehört und konnte mir nicht vorstellen, was er bei mir wollte, aber natürlich bat ich sie, ihn heraufzuführen. Herein kam er – ein mittelgroßer, dunkelhaariger, dunkeläugiger, schwarzbärtiger Mann mit einem Anflug von Itzig um die Nase. Er hatte eine forsche Art an sich und sprach lebhaft, wie ein Mann, der den Wert der Zeit kennt.

›Mr. Hall Pycroft, glaube ich?‹ sagte er.

›Ja, Sir‹, antwortete ich und schob ihm einen Stuhl hin.

›Bis vor kurzem bei Coxon & Woodhouse beschäftigt?‹

›Ja, Sir.‹

›Und jetzt Mitarbeiter von Mawson?‹

›Ganz recht.‹

›Nun‹, sagte er. ›Tatsache ist, daß ich ein paar wirklich außergewöhnliche Geschichten über Ihren finanziellen Sachverstand gehört habe. Sie erinnern sich an Parker, der früher Manager bei Coxon war? Er kann gar nicht genug davon erzählen.‹

Natürlich freute es mich, das zu hören. Ich war im Büro immer ziemlich auf Draht gewesen, aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß man in der City in dieser Weise von mir sprach.

›Sie haben ein gutes Gedächtnis?‹ sagte er.

›Recht anständig‹, antwortete ich bescheiden.

›Haben Sie sich über den Markt auf dem laufenden gehalten, während Sie arbeitslos waren?‹

›Ja; ich lese jeden Morgen den Börsenbericht.‹

›Also das zeigt wirkliche Hingabe!‹ rief er. ›So kommt man vorwärts! Sie haben doch nichts dagegen, daß ich Sie prüfe, nicht wahr? Wir wollen sehen! Wie stehen Ayrshires!‹

›Einhundertundfünf zu einhundertundfünf und ein Viertel.‹

›Und New Zealand Consolidated?‹

›Einhundertundvier.‹

›Und British Broken Hills?‹

›Sieben zu sieben Komma sechs.‹

›Wunderbar!‹ rief er mit hochgeworfenen Armen. ›Das paßt genau zu allem, was ich gehört habe. Mein Lieber, mein Lieber, Sie sind ja viel zu gut, um Angestellter bei Mawson zu sein!‹

Dieser Ausbruch verblüffte mich ziemlich, wie Sie sich vorstellen können. ›Nun‹, sagte ich, ›andere Leute halten nicht ganz so viel von mir, wie Sie es zu tun scheinen, Mr. Pinner. Ich habe hart genug kämpfen müssen, um diesen Posten zu bekommen, und ich bin sehr froh, daß ich ihn habe.‹

›Pah, Mann, Sie sollten hoch hinaus. Sie sind nicht in der Ihnen gebührenden Sphäre. Jetzt werde ich Ihnen sagen, wie es mit mir steht. Was ich anzubieten habe, ist wenig genug, gemessen an Ihrem Können, aber verglichen mit Mawson verhält es sich wie Licht zu Dunkel. Wir wollen sehen! Wann gehen Sie zu Mawson?‹

›Am Montag.‹

›Ha! Ha! Ich glaube, ich würde aufs Geratewohl eine kleine Spekulation riskieren, daß Sie überhaupt nicht dorthin gehen.‹

›Nicht zu Mawson gehen?‹

›Nein, Sir. An diesem Tag werden Sie schon Geschäftsführer der Franco-Midland Eisenwaren Gesellschaft mit beschränkter Haftung sein, mit einhundertundvierunddreißig Niederlassungen in den Städten und Dörfern Frankreichs, nicht gerechnet eine in Brüssel und eine in San Remo.‹

Das verschlug mir den Atem. ›Ich habe nie davon gehört‹, sagte ich.

›Höchstwahrscheinlich nicht. Es ist sehr geheim gehalten worden, denn das ganze Kapital wurde privat gezeichnet, und die Sache ist zu gut, um sie öffentlich zur Zeichnung anzubieten. Mein Bruder, Harry Pinner, ist der Gründer und tritt dem Aufsichtsrat nach Ernennung zum Geschäftsführer bei. Er wußte, daß ich mich hier unten auskenne, und bat mich, billig einen guten Mann aufzutreiben – einen jungen Draufgänger mit viel Biß. Parker hat von Ihnen gesprochen, und das hat mich heute abend hergeführt. Wir können Ihnen für den Anfang nur lumpige fünfhundert anbieten –‹

›Fünfhundert pro Jahr!‹ rief ich.

›Das nur zu Beginn, aber Sie werden eine Gesamtprovision von einem Prozent auf alle von Ihren Agenten getätigten Geschäfte bekommen, und Sie haben mein Wort darauf, daß sich das auf mehr belaufen wird als Ihr Gehalt.‹

›Aber ich kenne mich mit Eisenwaren nicht aus.‹

›Na, na, mein Bester, Sie kennen sich mit Zahlen aus.‹

Mir schwirrte der Kopf, und ich konnte kaum still auf dem Stuhl sitzen bleiben. Doch plötzlich überkam mich leiser Zweifel.

›Ich will offen zu Ihnen sein‹, sagte ich. ›Mawson gibt mir nur zweihundert, aber Mawson ist sicher. Nun weiß ich aber wirklich so wenig über Ihre Gesellschaft, daß –‹

›Ah, schlau, schlau!‹ rief er in einer Art Freudentaumel. ›Sie sind genau der richtige Mann für uns! Sie lassen sich nicht beschwatzen und haben auch ganz recht damit. Hier ist also eine Banknote über hundert Pfund; und wenn Sie meinen, daß wir handelseinig werden, so dürfen Sie sie als Vorschuß auf Ihr Gehalt kurzerhand in die Tasche stecken.‹

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