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4 Aufbau und Gliederung

Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass hier der eheliche Aushandlungsprozess – im zwar nicht gleichschenkligen, aber wechselwirksamen Beziehungsdreieck – zwischen Ehewilligen, OpponentInnen und zuständiger ehegerichtlicher Instanz in Abhängigkeit von der Zeit analysiert werden soll. Ressourcen und Handlungsmacht in dieser Triade waren ungleich verteilt und der Aushandlungsprozess war gerahmt von zeitspezifischen bevölkerungspolitischen Debatten und relativ statischen ehegesetzlichen Bedingungen. Der normative Rahmen konnte die Distanz zwischen den Absichten der Obrigkeit und den Interessen lokaler Gemeinden, die sie jeweils mit der Ehe verbanden, kleiner oder größer werden lassen. Gleichzeitig konnten demographische und ökonomische Entwicklungen Einfluss auf die Bevölkerungspolitik der Richter ausüben und den matrimonialen Eigensinn und die Taktiken der Ehewilligen auf Kosten der Gemeindeinteressen den Richtern näherbringen oder nicht. Allerdings konnte ebenso das taktische Kalkül der Ehewilligen die Eherichter bei günstiger Gelegenheit dazu bewegen, gegen geltendes Gesetz und im Sinne bevölkerungspolitischer Konjunkturen zu entscheiden. Denn Recht und bevölkerungspolitische Debatten mussten nicht zwingend derselben Logik folgen und konnten durchaus in Konkurrenz zueinander stehen, wie noch zu zeigen sein wird. So lässt sich aus den angestellten Überlegungen ein dreifaches Erkenntnisinteresse ableiten, das in der Folge auch die Gliederung dieser Arbeit bestimmen wird.

Auf der ersten Ebene der Gliederung folgt die Arbeit der Zeit. Sie ist in drei chronologische Teile untergliedert. Diese Unterteilung erfolgt entlang des vorerst verfassungs- und politikgeschichtlich gedeuteten Einschnitts der Helvetischen Revolution. Diese Zäsur ließ in Bern das Ancien Régime (Teil B) mit dem Einmarsch französischer Truppen 1798 offiziell enden. Dem kurzen indirekt-demokratischen Intermezzo der Helvetischen Republik zwischen 1798 und 1803 (Teil C) folgte eine nachhelvetische Zeit, die von der Verfassungs- und Politikgeschichte wiederum in drei, mehr oder weniger zusammenhängend gedachte, Abschnitte untergliedert wird: die Mediation (1803–15), die Restauration (1815–30) und die Regeneration (1830–48). In dieser Studie wird der Zeitraum zwischen dem Ende der Helvetik und der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats aufgrund der Quellenlage und ehethematisch begründeten Anhaltspunkten als nachhelvetische Einheit (Teil D) behandelt. Bei der chronologischen Gliederung auf erster Ebene wird folglich auf etablierte Epochenbegriffe und -einteilungen in der schweizerischen Geschichtswissenschaft zurückgegriffen. Das wird allerdings nicht getan, weil die zu den Epochen bestehenden (Vor-)Urteile voreilig und unhinterfragt übernommen werden. Vielmehr möchte die Arbeit die allgemeinen historiographischen Charakterisierungen der konstatierten Epochen am konkreten Gegenstand der Eheschließung auf inhaltlicher Ebene überprüfen beziehungsweise konkretisieren und differenzieren. Gleichzeitig macht diese temporale Aufteilung der Arbeit Sinn, weil mit den Ereignissen der Helvetischen Revolution und ihrem Ende auf ehegesetzlicher und gerichtsorganisatorischer Ebene jeweils grundlegende Richtungsänderungen vollzogen wurden. Damit fiel jeweils auch eine veränderte Quellenproduktion zusammen.1

Die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Epochengrenzen wird entlang einer dreifachen thematischen Untergliederung geführt. Auf der ersten Ebene (1 Normen) werden die herrschenden Gesetze und bevölkerungspolitischen Debatten analysiert, die normierend auf die Aushandlungspraxis der Eheschließung wirkten. Dabei wird in metaphorischer Anlehnung an de Certeau der „Ort des Anderen“ abgesteckt,2 der „die Spielräume“ definierte, die „die [bevölkerungspolitischen] Konjunkturen den Verbrauchern [der Ehegesetze] lassen und in denen diese ihre ‚Kunst‘ ausüben können“.3 Hier wird der mehr oder weniger „technokratisch ausgebaute, vollgeschriebene und funktionalisierte Raum“ ausgeleuchtet, in dem sich Ehewillige und OpponentInnen bewegen mussten und in dem sie ihre Taktiken entwickelten und anwendeten.4 Gleichzeitig mussten sich auch die strategisch agierenden Richter zu ihnen in ein spezifisches Verhältnis setzen. Der Begriff der Konjunktur zeigt an, dass die angesprochenen normativen Strukturen Veränderungen unterworfen waren. Das Netz aus Normen konnte mal „engmaschig“ und mal loser sein und dadurch den Ehewilligen im Gericht unterschiedlich viel Raum für ihre taktischen Manöver gewähren.5

Auf der zweiten Ebene der thematischen Untergliederung des Inhalts (2 Taktiken) werden die AkteurInnen prekärer Eheschließungen und ihre OpponentInnen vor Gericht in den Fokus gerückt. Einerseits wird an dieser Stelle untersucht, wer die „Prekarier“ und „Prekarierinnen“ in ehelicher Hinsicht waren,6 und wer gegen ihre Ehebegehren zu welchem Zeitpunkt Einspruch erhob. Dazu werden aufgrund der in den Quellen zugänglichen Informationen soziale Profile von ehewilligen Paaren und einsprechenden Parteien entwickelt. Es werden Beziehungskonstellationen eruiert, die den sozialen Widerstand in besonderem Maße provozierten. Andererseits werden die Motive, Ressourcen und Taktiken der OpponentInnen und der von ihnen prekarisierten Ehewilligen analysiert, die sie in Abhängigkeit der zeitlichen Normen ins Gericht führen konnten. Wie „[gebrauchen] sie einen Bezugsrahmen […], der […] von einer äußeren Macht kommt […]“?7 Wie „verwenden [sie] ein System, das ganz und gar nicht ihr eigenes ist und von anderen konstruiert und verbreitet wurde“?8 Dadurch gelangen sowohl die taktischen ehelichen Assoziationen zwischen heterogenen Elementen – dem Eigensinn und der fremden Ordnung – in den Blick als auch die Taktiken der OpponentInnen, diese Verbindungen zu kappen und die Richter auf ihre Seite zu bewegen.

Auf der thematisch dritten Ebene (3 Strategie) wird das strategische Verhalten der Gerichte zwischen taktierendem Eigensinn und Eheeinsprachen, Gesetz und Bevölkerungspolitik betrachtet. An der Urteilspraxis des Gerichts wird zum einen sichtbar, welcher Erfolg den Taktiken der ehewilligen AkteurInnen beschert war – also wie günstig die temporalen „Gelegenheiten und Umstände“9 für die prekären Ehebegehren jeweils waren. Zum anderen zeigt sich daran, wie gut es dem obrigkeitlichen Gericht gelang, „das ‚Umfeld‘ von dem ‚eigenen Bereich‘, das heißt vom Ort der eigenen Macht und des eigenen Willens, abzugrenzen“.10 Dabei befanden sich die aristokratischen Richter in Bern sowohl in einer Frontstellung gegenüber den eigensinnigen AkteurInnen als auch gegenüber den Gemeinden, Familien und Korporationen. Tendierten sie dazu, den ehelichen Eigensinn zu begünstigen, wurden die patriarchalen Interessen der Hausväter protegiert oder unterstützten sie die ressourcenökonomischen Überlegungen lokaler Gemeinschaften? In der Beantwortung dieser Frage anhand der Urteile wird sichtbar, zu welchem Zeitpunkt die Gerichte welche Allianzen mit welchen AkteurInnen schlossen, um ihre eigene Macht auszubauen oder möglichst umfangreich zu bewahren. Damit offenbart sich die vom Gericht verfolgte Strategie als praktische Normierung, die sich im Spektrum zwischen rigider und gnädiger Anwendung patriarchaler Ehegesetze, populationistischer Überzeugung und Angst vor Überbevölkerung bewegen konnte.

Im Schlusskapitel (Teil E) werden die Ergebnisse aus den verschiedenen Zeiträumen miteinander in Beziehung gesetzt. Durch den Vergleich werden bevölkerungspolitische Konjunkturen im Gebiet des damaligen Berns sichtbar. Sie zeigen, wie der Staatsbildungsprozess im dafür durchaus zentralen Aushandlungsprozess zwischen ehewilligen AkteurInnen, OpponentInnen und Gericht in Abhängigkeit der Zeit verlief und welche Gelegenheiten dieser Prozess den Verlobten bei der Durchsetzung ihrer prekären Eheschließungen eröffnete.

Mit diesem Vorgehen wird beabsichtigt, von einem tendenziell dichotomischen Verständnis der Beziehung zwischen lokalen Ehegerichten – in der Vergangenheit thematisierte die Forschung vor allem deren disziplinarische Funktionsweise – und Subjekten Abstand zu nehmen. Durch die Einführung einer dritten, politisch-administrativen Instanz – dem jeweils übergeordneten Ehegericht – kommen sowohl quasi-staatliche Bevölkerungspolitik, Staatsbildungsprozesse als auch die Handlungsmacht der AkteurInnen in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander in den Blick. Diese Sichtweise soll zu Erkenntnissen über das Verhältnis von Individuen, fortschreitender Staatsbildung, lokalen Gemeinschaften, Korporationen und Familien am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert führen.11

B Das ausgehende Ancien Régime (1742–1798)

Bevor die Arbeit zum konkreten eherechtlichen und bevölkerungspolitischen Rahmen der Eheschließung in Bern im ausgehenden Ancien Régime vordringt, ist es für das allgemeine Verständnis unerlässlich zunächst die für die Kantone und die Schweiz insgesamt gut aufgearbeiteten Entwicklungen des Eheschließungsrechts seit der Reformation und seine sozialgeschichtlichen Folgen aufzugreifen.1

Reformatorische Vorgeschichte

Nachdem es Huldrych Zwingli 1523 gelungen war, die Reformation in Zürich zu installieren, griff diese bald auf weitere Deutschschweizer Kantone über. Schon vorher erreichten durch einen Buchhändler 1518 erste Schriften des Zürcher Reformators Bern.1 Die Reformation benötigte hier allerdings noch rund zehn Jahre, bis sie durch die Berner Disputation von 1528 und die Verabschiedung des Reformationsmandats endgültig etabliert war.2

Diese Entwicklung hatte nicht nur weitreichende theologische und ekklesiologische Folgen. Durch den Anschluss der Berner Obrigkeit an die Reformation übernahmen die Magistrate auch die Hoheit und Kontrolle über sämtliche kirchliche Angelegenheiten, dabei auch die Matrimonialgerichtsbarkeit, was de facto ein reformiertes Staatskirchentum in den Grenzen Berns zur Folge hatte. Die Autorität der Bischöfe von Sion, Lausanne, Basel und Konstanz, deren Diözesen Teile von Berns Herrschaftsgebiet abgedeckt hatten, wurde im Territorium, in dem Bern Alleinherrschaft genoss,3 von Berns Obrigkeit annulliert und übernommen.4 Fortan fielen die Bestimmungen über die Ehegerichtsbarkeit und Sittenzucht den weltlichen Machthabern zu – nota bene selbst alle verheiratete Hausväter aus regimentsfähigen Berner Geschlechtern. Damit wurde ein zentrales Handlungsfeld der Kirche, das starke Auswirkungen auf das Leben von Frauen und Männern hatte, weltlicher Aufsicht unterstellt.5 Das in den Worten Luthers „päpstlich verdammte Gesetz“6 der Römer Kurie – gemeint war damit das kanonische Eherecht – wurde in den reformierten Kantonen der Eidgenossenschaft durch ständisch verfasste Ehegesetze der jeweiligen Magistrate ersetzt. Zürich erließ auf Zwinglis Vorschlag hin bereits am 10. Mai 1525 eine als Provisorium gedachte Ehegerichtsordnung, die in ihren Grundzügen von den anderen reformierten Deutschschweizer Kantonen bald nach der jeweiligen Einführung der Reformation adaptiert wurde. Bern erließ am 17. Mai 1529 die „Artickel und satzung, die ee beträffend“,7 die von da an bis ins 19. Jahrhundert mit einigen Modifikationen dem Anspruch nach ihre Gültigkeit behielten und inhaltlich große Konstanz besaßen.8 Ihre letzte umfassende Revision erfuhr die Berner Ehegesetzordnung am Vorabend der Französischen Revolution im Jahr 1787. Die daraus resultierende Version behielt faktisch bis zum Erlass der Berner Zivilgesetzordnung von 1824 ihre Gültigkeit, die ihrerseits zahlreiche Aspekte aus der reformierten Berner Ehegesetzgebung übernahm und damit nach wie vor markante normative Kontinuitäten aufwies.

Parallel zu den Ehegerichtsordnungen wurden in den reformierten Kantonen auf kommunaler wie kantonaler Ebene Ehegerichte installiert, die je nach Ort und Zeit auch Chorgerichte oder Konsistorien genannt wurden. Von der kulturgeschichtlichen Forschung werden sie primär als Instanz der sittlich-moralischen Disziplinierung der Bevölkerung durch die Obrigkeit interpretiert,9 deren disziplinarischer Erfolg aber vom 16. zum 18. Jahrhundert kontinuierlich abzunehmen schien.10 Sie wurden sowohl mit zum Teil juristisch gebildeten und mit Ämtererfahrung beschiedenen Assessoren als auch theologisch geschultem Personal besetzt. In den Gemeinden auf dem Land waren die wohlhabenden Bauern unter den Chorrichtern übervertreten. Allerdings hat Schmidt aufgezeigt, dass die kommunalen Ehegerichte eine breite Trägerschicht aufwiesen. Die Ambiguität zwischen zivilem und religiösem Charakter der Ehe in der reformierten Theologie bildete sich folglich auch in der dualen Besetzung des Gerichts mit Pfarrern, die in Bern auf lokaler Ebene als Schreiber amteten, und Amtsleuten, die als Richter fungierten, ab.11 Es würde allerdings entschieden zu kurz greifen und den reformatorischen Ausspruch über die Ehe als „ein weltlich Ding“ falsch akzentuieren, wenn man die Entwicklungen deswegen in ein modernisierungstheoretisches, teleologisches Säkularisierungsnarrativ eingliedern würde.12 Obwohl die Chorgerichte keiner geistlichen Oberinstanz mehr unterstanden und in die säkulare Gerichtsorganisation eingegliedert wurden, stellte die Bibel dem Anspruch des reformierten Schriftprinzips (sola scriptura) nach den ausschließlichen Bezugsrahmen der erneuerten Ehegesetzgebung dar. Die reformierte Ehegesetzgebung war von der Vorstellung geprägt, dass sich das verbindliche Recht für die gesellschaftliche Ordnung direkt aus dem göttlich inspirierten biblischen Wort ergießen sollte.13 Das reformatorische Wegfallen des sakramentalen Charakters bedeutete auf theologischer Ebene keinesfalls eine Profanierung der Ehe. „[V]ielmehr wird auch die weltliche Ordnung insgesamt und mit ihr die Ehe geheiligt und zum Gottesdienst berufen“, so Schmidt.14 Dadurch wurde ein Referenzpunkt geschaffen, in dem der theologische mit dem städtischen Reformdiskurs verschränkt wurde. Sowohl die Reformatoren als auch die städtischen Obrigkeiten strebten eine Verbesserung der Moral an – die einen aus Gründen theologischer Abgrenzung gegen das Papsttum, die anderen aus Motiven sittlicher Distinktion von den Unterschichten. Mit der Überlagerung von Reinheits- und Sittlichkeitsdiskurs entstand für die Eheschließung ein grundlegend neuer Rahmen.15 Darin führten die reformatorischen Entwicklungen zu einer hybriden Konstitution der Ehe, die, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, bis ins 19. Jahrhundert stets zwischen ziviler Institution und göttlicher Ordnung oszillierte.

Exemplarisch kommt dieser duale reformierte Charakter des frühneuzeitlichen Eheverständnisses in einer frühen Schrift Heinrich Bullingers zum Ausdruck. In der 1527 gedruckten pastoraltheologischen Publikation formulierte Bullinger, der nach Zwinglis Tod die eidgenössische Reformation konsolidierte,16 dass es keinen göttlicheren und lustbareren Stand als die Ehe gäbe: „Wer hat aber sölichs ingesetzt, wer hats geheyssen? Gott hat die Ee also ingesetzt, […].“ Bullingers Bezugspunkt dafür war mit Genesis 2, Vers 18 selbstverständlich die als Offenbarungsschrift begriffene Bibel. Insofern war die Ehe von Gott installiert, aber nun den irdischen Trieben und dem freien Willen der Menschen ausgesetzt. Die Sexualität im priesterlichen Zölibat, Mönchtum oder der Jungfräulichkeit zu überwinden, lag der reformatorischen Anthropologie zufolge nicht mehr im Bereich des Menschenmöglichen. Die Ehe nicht in Anspruch zu nehmen, also Ehelosigkeit zu leben, war laut Bullinger Sünde „wider die Schöppfung und den Schöppffer selbs“ gewesen.17 Die menschliche Natur war durch Gottes Schöpfung gegeben und von den Menschen anzunehmen. Sie beinhaltete auch eine Sexualität, die sich im Verständnis reformierter Anthropologie nicht sublimieren ließ. Das Zölibat widersprach in den Augen der Reformatoren der Schöpfung selbst und wurde als Kreation des Teufels bekämpft. Sowohl die menschliche Sexualität als auch die Ehe waren somit Teil göttlicher Vorsehung und sollten von den Menschen aufeinander bezogen werden.

Disziplinarische Konsequenzen des reformatorischen Eheverständnisses

In der Konsequenz avancierte die Ehe durch die Reformation zum exklusiven Ort sexueller Reinheit. Sie war von Zwingli und seinen Epigonen in der Eidgenossenschaft als göttliche Arznei gegen menschliche Sündhaftigkeit postuliert worden. Nur sie konnte die Menschen von der Sünde heilen.1 Fortan stellte sie also nicht mehr die inferiore Alternative zum Zölibat dar, sondern war in den reformierten Territorien zum allgemeingültigen Lebensmodell auserkoren worden. Durch das veränderte reformatorische Menschenbild konnten Zölibat und Enthaltsamkeit die Reinheit der sozialen Ordnung keinesfalls mehr garantieren. Das demonstrierten für die Reformatoren die Zustände im katholischen Klerus. Gesellschaftliche und sexuelle Reinheit und damit Ordnung konnten in reformierter Auffassung ausschließlich über die christliche Ehe hergestellt und garantiert werden.2

Mit dieser hybriden reformatorischen Ehekonzeption erfuhr das heterosexuelle eheliche Zusammenleben eine systematische Aufwertung und in der Folge intensive Aufmerksamkeit durch die protestantischen Obrigkeiten. Das Eheleben ihrer Untertanen wurde zum zentralen Ansatzpunkt ihrer Ordnungsanstrengungen. Die gottgefällige Eheführung mutierte unter den reformierten Ehetheologien zur grundlegenden Voraussetzung gesellschaftlicher Ordnung überhaupt.3 Nun oblag den reformierten Herrschaften im Hinblick auf die Ehe die Bewahrung der Reinheit des Gesellschaftskörpers als göttlicher Auftrag. Die Erfüllung ihres christlichen Herrschaftsauftrags erforderte folglich Mittel zur Herstellung und Überwachung sexueller und gesellschaftlicher Ordnung. Die erste Ordnung Gottes musste durchgesetzt und mit Argusaugen überwacht werden. Die Eheschließung und die Bewahrung ihrer Reinheit avancierten zum zentralen Maßstab für die Güte und Gottgefälligkeit christlicher Herrschaft4 und „obrigkeitlicher Moralpolitik“5. Darin war sogar die Kirche fortan der weltlichen Macht subordiniert, respektive Teil des obrigkeitlichen Verwaltungsapparats.6 Wiederholt ist von Historiker*innen ein Reglementierungsschub beobachtet worden, der von der Reformation ausging und neue Normen bezüglich der Trauungsinstitutionen evozierte. Die Gültigkeit der Ehe wurde im Nachgang der Reformation in gesteigertem Maß von obrigkeitlich vorgeschriebenen Formalitäten abhängig. Bedeutung und Verbindlichkeiten von lokalen Bräuchen und Gepflogenheiten traten diesen gegenüber zurück, so die These.7 Es ist von einer Zunahme der Formalisierung und Kodifizierung der Eheordnung die Rede. Die gesteigerte Festschreibung habe in Bezug auf die Kontrolle über die Eheschließung in reformierten Gebieten tendenziell zu einer Machtverschiebung hin zu den Eltern, beziehungsweise vor allem zum Vater, und zu kirchlichen sowie staatlichen Autoritäten geführt. Dagegen habe die Selbstbestimmung der Brautleute wie auch die Macht der erweiterten Verwandtschaft, ständisch-korporativer Verbände und der peer groups der Brautleute abgenommen. Kinder, die ohne elterlichen Konsens heirateten, konnten jetzt leicht enterbt werden, voreheliche Sexualität wurde kriminalisiert und bestraft.8 Für die vorreformatorische Hochzeitsgemeinschaft war nicht die vom Pfarrer gespendete Kasualhandlung ehekonstitutives Moment gewesen. Mit Blick auf populäre Sichtweisen und lokale Traditionen war es oftmals nicht eindeutig, wann eine Eheschließung rechtsgültig vollzogen war, da sie durch eine ganze Reihe verschiedener mehr oder weniger öffentlicher eheeinleitender und -formierender Rituale und Konventionen zwischen Kirche und Straße zustande kam.9 Dieser Umstand hatte immer wieder zu konfliktreichen Verhandlungen über die Gültigkeit von Ehen zwischen den verschiedenen involvierten Interessengruppen und Personen geführt.

Die reformierten Gesetzgeber waren bestrebt, diesem Umstand Abhilfe zu schaffen.10 Mit der dreimaligen Verkündigung der bevorstehenden Heirat am Wohn- und Heimatort von Braut und Bräutigam durch die Pfarrer der entsprechenden Gemeinden von der Kanzel und dem öffentlichen Kirchgang zur Eheeinsegnung wurde seitens der Regierung ein sozialdisziplinierendes Moment verbunden. Die Praxis wurde gleichzeitig formalisiert und reglementiert. Damit strebten die Obrigkeiten eine Uniformierung und Kanalisierung populärer Hochzeitsrituale an. Die Unterstellung einer sexuellen Beziehung und der Ausgangspunkt einer rechtlich anerkannten Ehe wurden dadurch – anders als in der populären Wahrnehmung – eindeutig geschieden.11 Entjungferungen und Brautschwangerschaften konnten fortan zumindest nicht mehr einfach per gesetzlicher Definition als ehekonstituierende Verlobungen interpretiert und ohne Weiteres zu einer vor Gott geschlossenen Ehe erklärt werden. Heimlich geschlossenen Verbindungen, sogenannten ‚klandestinen Winkelehen‘, wurde durch die ehekonstituierende Öffentlichkeit und die damit implizierte Kontrolle der Dorfgemeinschaft so besser vorgebeugt. Verborgen geschlossene Ehebündnisse zwischen zwei Individuen waren rechtlich erheblich leichter aufzulösen oder wurden erst gar nicht mehr anerkannt, da sie formellen Kriterien der Eheschließung nicht genügten. Das Eheversprechen genoss auf reformiertem Terrain keinen sakramentalen Charakter mehr. In vorreformatorischem Verständnis war allein der freiwillige Konsens zwischen zukünftiger Braut und zukünftigem Bräutigam als von Gott gestiftet und daher als unauflösliches Sakrament erachtet worden.12 Seit der Einführung des ersten Ehemandats genügte den Berner Magistraten das im gegenseitigen Einvernehmen gemachte mündliche Eheversprechen zwischen zwei Brautleuten allerdings nicht mehr zur Anerkennung einer gültigen Ehe.13 Als Ereignis war die spezifische Ehe von der weltlichen Herrschaft respektive deren geistlichen quasi-Beamten zu stiften, kontrollieren und sanktionieren. Die Ehe war im spezifischen Einzelfall nicht mehr durch Gott eingesetzt, sondern eine Entsprechung göttlicher Ordnung. Die durch die kirchliche Institution kontrollierte und exekutierte öffentliche Einsegnung der Ehe erhielt dadurch im Verhältnis zur intimeren, informelleren Verlobung eine starke Bedeutungssteigerung.14 Das konsensuale Eheversprechen initiierte die Ehe nach wie vor, doch vollzog es sie nicht abschließend. Gewisse materielle und güterrechtliche Forderungen konnten auch in der reformatorischen Ehekonstitution bereits nach der Verlobung geltend gemacht werden, falls eine Partei beschlossene Abmachungen bezüglich der Eheschließung nicht einhalten sollte. Dazu musste sich die Verlobung aber an öffentlich überprüfbare Kriterien der Gültigkeit halten, die jetzt weltlicher und nicht mehr sakramentaler Natur waren, um den Ausgangspunkt für eine anerkannte Ehe darstellen zu können: Sie musste nun durch Zeugen beglaubigt, schriftlichen Vertrag verbrieft oder Ehepfänder bewiesen sein. Das Ehemündigkeitsalter musste eingehalten werden, der Konsens des gesetzlichen Vormunds musste bei Minderjährigkeit bestehen. Gleichzeitig durfte de jure niemand in eine eheliche Verbindung mit einem unliebsamen Partner gezwungen werden. Weiter durften keine ehemindernden Verwandtschaftsgrade zwischen den Brautleuten vorliegen, wobei dieser Umstand, wenn auch in z. T. abweichenden Verwandtschaftsgraden, auch in der katholischen Ehetheologie vorlag.15 Ehen mussten vor ihrer Einsegnung dreimal von der Kanzel im Wohnort der Braut und des Bräutigams sowie in den jeweiligen Heimatgemeinden verkündet werden. Menschen aus dem sozialen Nahraum konnten auf gesetzlicher Grundlage dagegen opponieren und Ehehindernisse geltend machen.

Mit der Einführung des elterlichen Konsenses wurde die Kontrolle der Eltern über die Eheverbindungen ihrer Kinder institutionalisiert und massiv intensiviert. Die Gültigkeit eines Eheverlöbnisses war rein normativ durch die reformatorischen Entwicklungen zu einer mehr oder weniger öffentlichen gesellschaftlichen Frage der religiösen Legitimität und der Legalität erklärt worden, auch wenn die Obrigkeit in ihrem Anspruch an den Praktiken der Untertanen weiterhin oft scheiterte.16 Die patriarchale Kontrolle über die Eheschließung nahm dadurch nicht dagewesene Ausmaße an.17 Das Bestreben der reformierten Obrigkeit, die, wie gesagt, ausschließlich aus verheirateten, regimentsfähigen Hausvätern bestand, war klar: Definitionsmacht, Kontrolle und Alleinherrschaft über das zu erlangen, was analytisch gesehen die Schnittmenge aus Gewohnheitsrechten, Familienstrategien und individuellen Interessen darstellte.18 Das reformierte Ehegesetz integrierte dabei zwar populäre Vorstellungen und Praktiken der öffentlichen Eheschließung.19 Dahinter steckten aber die patriarchalen Interessen reformierter Obrigkeiten, die sich teilweise mit gemeinschaftlichen Interessen überschnitten; nämlich die Eheschließung aus der schlecht überprüfbaren Intimität und Privatheit des ‚Winkels‘ und damit der Geheimhaltung in den öffentlichen und sozial überwachten Raum der Kirche „unter Anwesenden“ zu ziehen und den wachsamen Augen und kollektiven Interessen der Gemeinschaft auszusetzen.20 Aufgrund der rudimentär ausgebildeten Verwaltungsstruktur war die Berner Obrigkeit in diesem Bereich geradezu auf Denunziationen und Anzeigen sittlichen Fehlverhaltens aus den Reihen der Bevölkerung vor den lokalen Chorgerichten angewiesen. Erst dörfliche Gerüchte und kooperierende Gemeindemitglieder brachten Regelverstöße vor die örtlichen Sittengerichte.21 Je nach Schwere des Delikts sollten diese dann Anzeige beim Oberchorgericht in Bern erstatten.22 Die Anzeigen kamen folglich „aus der Gesellschaft selber“.23 Diese Begebenheit konnte in den Gemeinden durchaus zu einem „System gegenseitiger Aufpasserei, Verdächtigung und Angeberei“ führen, das nicht nur in ehelichen, sondern auch in anderen sittlichen Angelegenheiten „auf den Gemütern lastete, die Gewissen beschwerte und die persönliche Freiheit knechtete und knebelte“.24

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9783739805719
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