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Jeremia wurde nach ein paar Stunden von der Polizei nach Hause geschickt, unter Auflagen, erkennungsdienstlich behandelt, mit ein paar umständlich ausgefüllten Formularen und der Information, dass wohl wegen fahrlässiger Körperverletzung sowie unerlaubtem Waffenbesitz Anklage gegen ihn erhoben werde.

Dämmerung nistete in den Straßen, als er in sein Auto stieg, Türen und Fenster schloss und die Hände aufs Lenkrad legte. Der Kunstlederbezug fühlte sich klebrig an. Er betrachtete seine Arme, die kräftig waren und gebräunt, behaart, voller Sommersprossen. Am Ellenbogen fiel ihm eine helle Stelle auf. Die Haut war dort rau, ganz weiß, trocken. Jeremia berührte sie mit der Fingerspitze. Es fühlte sich an wie Schorf, etwas aufgewölbt, spröde, tot. Er kratzte daran. Ein paar Schuppen lösten sich. Dann platzte die Haut, ein wenig helles Blut quoll hervor. Mit einem schnellen Ruck riss er den Schorf ab. Die Stelle schmerzte nicht. Ein kleines Loch war dort jetzt, eine Mulde, gefüllt mit langsam trocknendem Blut. Er wischte mit der Hand darüber.

Das Hautplättchen barg er sorgfältig. Es war gelblich weiß, schrundig, gezackt. Wie Pergament. Im Waschbeutel fand sich ein kleiner Glaskolben, in dem Jeremia ein paar Pillen verwahrte. Schmerzmittel, Vitamine, so etwas. Hatte er vergessen. Jeremia warf sie aus dem Fenster und legte das Hautstück in den Behälter. Eine Probe seiner DNA. Vielleicht würde man das ja irgendwann brauchen. Oder wenigstens noch einmal in Ruhe betrachten. Wer so viel unterwegs war wie er, hatte gelernt, auf Kleinigkeiten zu achten.

Es wurde kühl im Wagen. Die Sonne war noch nicht stark genug, um Luft, Boden, die Mauern der Häuser genug aufzuheizen. Jeremia startete den Motor und fuhr aus der Stadt.

Die Straße wand sich durch grasbewachsene Hügel, auf denen vereinzelt Bauernhäuser thronten, Kirchen, oder Lastwagengaragen. Rechts stand schwarz der Wald.

Was wollte er hier?

Er war auf dem Weg nach Hause. 180 Kilometer. Zwei Stunden. Straßenmarkierungen rasten im Licht der Scheinwerfer unter dem Auto durch.

Was wollte er zu Hause?

Draußen roch es feucht und gut. Eine friedliche Gegend. Vincent lag in der Klinik. Er würde bald wieder gehen können. Eine kleine Delle im Oberschenkel, eine kurze Naht, mehr würde nicht bleiben. Das alte Projekt in Marseille war abgeschlossen. Oder jedenfalls fast abgeschlossen. Dort gab es jetzt hoffentlich keine Probleme mehr. Was noch zu tun war, konnte Vincent allein erledigen. Telefonisch. Oder brauchte man die Verbindung noch? War sie von Nutzen? Jeremia konnte noch einmal mit den Ribauds reden. Sie hätten sicher Verständnis für die Situation. Eine kleine Schießerei am Sonntagnachmittag. Zwanglos, beiläufig. Nichts Besonderes eigentlich.

Keinesfalls würde er nach Hause fahren.

Jeremia hatte plötzlich Lust auf eine Zigarette. Wann hatte er mit dem Rauchen aufgehört? Es war Jahre her. Er trank Alkohol. Das war geblieben. Weißer Rum, Eis, Zitrone. Sein Getränk.

Er konnte nicht zurück nach Hause.

Die Polizei würde bald vor der Tür stehen. Seine Papiere waren gefälscht. Sehr gut gefälscht. Niemand hatte etwas gemerkt bei der Vernehmung. Der Ausweis war ein Original. Die Identität aber falsch. Alter, Geburtsort, Name – erfunden. Jeremia konnte die Adresse von heute an nicht mehr nutzen. Eine leere Wohnung. Ein paar Kleider ohne Etiketten, eine Matratze, alte Zeitungen in der Küche. Kein Telefon, kein Computer. Keine Bücher. Kein Ort, der etwas bedeutete.

Er warf den Hausschlüssel aus dem Wagenfenster.

Im nächsten Ort suchte er eine Tankstelle und fand keine. Später hielt er vor einem Hotel und musste zur Kenntnis nehmen, dass das Haus längst verschlossen war, sein Klingeln niemanden weckte, sein Rufen ungehört blieb. Er fuhr weiter durch die Provinz, stoppte irgendwann draußen, zwischen Maisfeldern, schaute in die Nacht und lauschte den Grillen, bis ihm die Augen zufielen.

Als die Sonne ins Auto stach, trank Jeremia Wasser aus einer Plastikflasche. Er stieg aus, ging um den Wagen, öffnete den Kofferraum und prüfte seine Habe. Kleider, Zahnbürste. Eine unauffällige blaue Nylontasche, darin Schmutzwäsche. Etwa 27.000 Euro in bar, eingewickelt in braunes Papier, das Honorar für die Sache in Marseille. Zwei Schachteln mit jeweils 20 Schuss Munition. Und der alte, gefettete, immer zuverlässige 9mm Colt.

Keine weiteren Waffen. Keine Fotos. Kein Auftrag.

Er schaltete das Radio ein, schlüpfte aus den Schuhen und zog die Beine an den Körper. Sie spielten eine alte Nummer der Pet Shop Boys. Jeremia summte mit. Manchmal machte ihn Musik traurig. Heute war er ruhig, müde, friedlich. Er dachte an Susie. Gern hätte er sie nackt gesehen.

Wahrscheinlich war Susie gleich nach Hause gefahren, hatte morgens Kräutertee gekocht, war dann zur Uni geradelt. Sie trug ein leichtes Baumwollkleid und grüßte ihre Dozenten nett, in diesem albernen Schweizer Tonfall. Luzern. Niemals hätte er dort leben wollen. Überhaupt die Schweiz. Ein vollkommen überflüssiges Land, dachte er.

Aus einer Senke näherte sich ein Traktor. Der Fahrer sah ihn an, und Jeremia hob die Hand. Der Traktorfahrer nickte ihm zu.

Es war Zeit aufzubrechen.

Maria war die Frau, die ihn mehr beschäftigte. Sie war älter. Mehr Glanz, mehr Geheimnis. Vincent betrog sie. Das wusste jeder. Sie waren noch nicht so lange zusammen. Maria versuchte gern, ihren Status durch teure Dinge zu unterstreichen. Oder die Forderung nach solchen. Handtaschen, Restaurantbesuche, Skiwochenenden. So etwas. Das muss ich dir schon wert sein, hieß das vermutlich. Nicht jeder kann sich eine Frau wie mich leisten. Siehst du die Blicke der anderen Männer. Ich bin der Mittelpunkt der Welt. Nur so viel musst du wissen.

Vielleicht sollte er Maria ein bisschen beobachten. Eine Zielrecherche. Herausfinden, wie viel sie über das Geschäft wusste. Was Vincent ihr wirklich erzählt hatte. Konnte sein, dass sie sich alle in ihr täuschten. Konnte sein, dass mit Maria noch zu rechnen war.

Etwas Regen sprühte über die Straße. Jeremia fuhr auf der Autobahn nach München und blinzelte durch die Gischt. Kolonnen von Lastwagen. Scheinwerfer, rote Lichter, blaue Tafeln. Keine Gegend mehr. Orte schrumpften zu Kilometerangaben. Die Wiesen verschwanden, die Berge, Seen, die Fabriken und Freizeitparks. Geschwindigkeit war Fortschritt. Unabhängigkeit. Bewegung brachte Sicherheit. Der Motor schnurrte. Die Tankanzeige blinkte.

Ausfahrt Lechwiesen. 52 Liter Superbenzin. Er kaufte Kaffee und ein paar Schokoriegel, ging in den Waschraum und ließ minutenlang kaltes Wasser über seinen Körper laufen. Spürte die Müdigkeit nur klarer danach. Als er den Kopf unter den Trockner hielt, spannte die Haut, wurde heiß, roch verbrannt. Die Haare knisterten.

Jeremia riss ein paar aus, flocht sie um den Zeigefinger, zog den schmalen, dunklen Ring vorsichtig ab und steckte die Haare zu dem Hautplättchen in den Glasbehälter.

Es gab keinen Plan. Jeremia wusste, dass er im Moment nicht darüber nachdenken durfte, wie es weitergehen konnte. Er war den Wechsel gewohnt, das Reisen, die Unsicherheit. Das Auto, die Sachen im Kofferraum, etwas Geld, eine Waffe. Das war alles. Es war das Heute. Ein vorläufiges Gefühl. Eine moderne Lebensform. Morgen gab es noch nicht.

Der Verkehr war ruhiger geworden, als er München erreichte. Jeremia hatte schon seit einiger Zeit den Schlüssel zu Vincents hübscher Wohnung in der Innenstadt. Für zwei oder drei Nächte war er dort sicher. Er stellte den Wagen ganz oben ins Parkhaus am Jakobsplatz und ging in ein italienisches Restaurant an der Müllerstraße. Salat aus eiskalten Tomatenscheiben, Spaghetti mit Muscheln und einem unangenehmen Knoblauchbrei. Dünner Espresso, gesalzene Preise. Er beschwerte sich nicht. Zahlte schnell und ging. In der Wohnung trank er Leitungswasser und ließ sich aufs Sofa fallen. Es war drei Uhr nachmittags. Jeremia wollte nur schlafen.

Musste er sich schuldig fühlen? Er hatte Vincent ins Bein geschossen. Das war nicht seine Absicht gewesen. Die Kugel hätte in den Himmel gehen können. Oder in Susies Herz. Sie hatten gefeiert. Getrunken. Es war schwül gewesen. Gewittrig. Vincent war so etwas wie ein Freund. Sie machten Geschäfte zusammen. Hatten Erfolg, und manchmal ein bisschen Ärger. Jeremia wusste nicht viel über Vincent. Vincent wusste wenig über Jeremia. So konnte nichts verraten werden.

Es war kühl in der Wohnung, die Luft roch zart nach Putzmittel. Jeremia streckte sich.

Hatte er Vincent getroffen, weil etwas in ihm wollte, dass er ihn traf? Lag etwas Absichtsvolles in dieser Entgleisung? Hatte der Alkohol befördert, was im Geheimen, Unbewussten längst wartete? Eine Gelegenheit. Kein Motiv. Chaos. Hitze. Der Schuss.

Wer sollte das wissen?

Es war eine schöne Waffe gewesen. Geätztes Silber, Ziselierungen, gravierte Schrift. Suren aus dem Koran, vielleicht. Irgendwelche Handwerker in den Souks von Fez oder Tunis waren vermutlich Wochen oder Monate darüber gesessen. Das Metall fühlte sich gut an, der Knauf, der Sicherungshebel, der spitz zulaufende Abzug. Wenn man damit spielte, wurde es warm, schwitzig. Es roch scharf. Der Rückstoß des Revolvers war hart und kurz. Ein Schlag.

Jeremia schoss nicht gern.

Optimierung von Steuerungssoftware für Industrieanlagen. Das war das Geschäft, von dem sie redeten, wenn jemand fragte. Man brauchte nicht viel, Computer, Telefon, Kontakte. Das meiste lief im Ausland. Meerwasserentsalzung, Windkraft, Umspannwerke, so erzählten sie immer. Umfangreiche Projekte in meist abgelegenen Gegenden. Sie hatten auch ein paar Fotos auf dem Handy.

In Wirklichkeit verkauften sie Sicherheit. In sehr speziellen, politisch sensiblen, in besonders schwierigen Fällen. Konfliktbereinigung. Das hieß nichts anderes, als dass sie Leute umbrachten. Sie waren so etwas wie eine Tötungsagentur. Gut getarnt, international tätig, ziemlich erfolgreich. Vincent war der bessere Schütze. Jeremia konnte organisieren. Die Sache auf dem Boot war nicht geplant gewesen. Jetzt gab es leider ein kleines Problem. Reiseverzögerung, organisatorische Turbulenzen. Ihre Kunden waren meist ungeduldig.

Verwahrte Vincent Waffen in seiner Wohnung? Eine kleine Pistole, nur zur Sicherheit? Nichts. Sehr aufgeräumte Schränke. Keine Geheimnisse.

Weiße Boxershorts, gebügelt. T-Shirts in zwei Stapeln, einfarbig der eine, bunt der andere. Ziemlich viele Strümpfe mit Mustern. Die Hosen auf Bügel gehängt. Alles roch frisch und sauber. Jeremia nahm einen Schal aus dem Fach, blaues Leinen, bedruckt und bestickt, mit Ranken und Blüten. Wunderschön. An einer Frau.

Sein Telefon klingelte, als er hinaus auf die Straße ging.

Wo steckst du, fragte Maria.

Ich bin schon zurückgefahren.

Vincent liegt in der Klinik. Ich glaube, er wartet sehr darauf, dass du vorbeikommst. Gestern ist er operiert worden.

Ja. Ich muss ihn besuchen. So schnell es geht.

Heute?

Schaffe ich nicht mehr. Unmöglich. Wie steht es mit dem Bein? Was hat der Arzt gesagt?

Alles in Ordnung soweit. Nach den Umständen. Jeremia. Du hast ihn angeschossen. Glaubst du nicht, dass du dich ein bisschen kümmern solltest? Dich zeigen. Mit ihm darüber reden. Das wäre doch das Mindeste.

Mache ich, ja. Sofort. Ich denke dauernd an Vincent. Ich rufe ihn an. Jetzt gleich.

Bist du unterwegs? Du klingst so angespannt. Außer Atem.

Schlecht geschlafen, sagte er. Unruhig. Zu kurz.

Maria lachte.

Was sagt eigentlich die Polizei zu deiner Aktion?

Fahrlässige Körperverletzung. Unerlaubter Waffenbesitz. Sie werden mich wohl anklagen. Ich muss mich an meinem Wohnort zur Verfügung halten.

Das nimmst du so gelassen? Sie können dich ins Gefängnis stecken!

Kann sein, sagte Jeremia. Oder auch nicht. Kann sein, dass ich nicht hingehe. Dringende Projekte im Süden.

Pass auf, was du machst, sagte Maria. Du solltest überhaupt besser aufpassen jetzt. Und Vincent besuchen. Ihm kannst du ja dann auch gleich sagen, dass du in Zukunft besser aufpassen wirst.

Ja. So machen wir‘s. Besser aufpassen. Danke, Maria. Guter Rat. Auf dich kann man sich verlassen.

Du könntest etwas aus der Sache lernen.

Okay. Ja. Ist gut. Immer. Ich bin unterwegs. Bis bald.

Er lief durch die Stadt. Ein menschlicher Körper in Bewegung beansprucht Raum in einem proportionalen Verhältnis zu seiner Geschwindigkeit. In den Häusern kommt es da zu Problemen. Zu viele Mauern, niedrige Decken, Möbel, die den Weg verstellen. Man kann nicht atmen. Es fehlt das Helle, das Freie. Es lauern Zwänge in Zimmern. Nicht immer ist die Tür das Versprechen eines Ausgangs. Fenster können vergittert sein. Es gibt Schwingungen, Strahlen, Interferenzen. Den Menschen ist das anzusehen. Störungen. Sie leiden und ahnen es nicht einmal. Kaum jemand ist sich im Klaren darüber, dass seine Existenz nur die simple Funktion unveränderlicher natürlicher Wirkungen ist. Das Gehirn ein Muskel. Alles Denken eine Verdauung. Der freie Wille eine törichte Illusion.

Jeremia wusste das. Er lief durch die Stadt und fühlte sich gut. Er fühlte sich gut, weil sein Körper eine Maschine war und er nichts anderes als eine Maschine sein wollte. Eine Maschine aus Fleisch, gelenkt von spontanen Impulsen. Ursache und Wirkung, Schlag und Gegenschlag. Kein Plan, kein Schicksal, keine Moral.

Und kein Gott.

Das Geschäft veränderte sich. Die Verhältnisse wurden schwieriger. Das Leben härter. Manchmal dachte er nach: Über die Zukunft des Tötens. Würden sie noch Ziele finden unter den Menschen? Notwendigkeiten? Welche Waffen konnte es dann geben? Wer würde beauftragen? Verantwortung übernehmen? Oder war das gar nicht mehr nötig? Konnten sie einfach abgeschaltet werden? Von wem? Was wird aus den Resten, dem Kadaver? Werden die Menschen zur virtuellen Existenz? Bloße Schatten in der Matrix?

Wahrscheinlich verschwanden sie bald von dieser Erde. Für immer. Lösten sich auf. In einer digitalen Wolke. Einer atomaren Turbulenz. In einem heißen Regen aus Glut und Asche.

Vielleicht aber kam alles auch ganz anders. Die Welt wurde besser und schöner. Statistisch gab es diese Option. Ein Paradies. Nicht sehr wahrscheinlich. Es konnte ewigen Frieden geben. Aber weshalb? Wettbewerb war der normale Modus. Noch waren sie Tiere. Sie jagten. Hetzten die Beute. Stritten. Umarmten sich. Sannen auf Rache. Vergeltung. Sie liebten und hassten.

Es gab genug Gründe zu töten.

Nur beim ersten Mal war es schwer. Das Problem war nicht, dass es galt, ein Leben auszulöschen. Die Frage nach der Moral mussten andere beantworten. Die Agentur entschied ja nicht über einen Tod. Sie führte den Auftrag aus. Fragen der Schuld interessierten da nicht. Grund oder Verhältnismäßigkeit. Aber es musste technisch reibungslos ablaufen. Ein überzeugender Zusammenhang erzählt werden. Schließlich wurde viel Geld bezahlt. Es durfte keinen Kampf geben, keine Flucht, kein Spektakel. Wenig Aufmerksamkeit, kaum Nachforschungen, keine Medien.

Anfangs hatten sie wenig über die Gewohnheiten des Opfers gewusst, über Umgebung und Kontakte. Ein Foto zeigte das Ziel. Namen, Adresse. Mehr war nicht üblich in der Branche. Das war gefährlich.

Schicker etwa war Jeremia überlegen. Eine Gestalt mit Erfahrung und Feinden, kaltblütig und schnell. Das war beinahe schiefgegangen. Kein idealer Kandidat für einen ersten Auftrag. Jeremia hatte keineswegs über die notwendige Routine verfügt, sondern Glück gehabt. Unerwartete Hilfe. Oder war damals in Wirklichkeit er das Ziel gewesen?

Vor dem Dom war alles voller Leute. Sie kamen vom Einkaufen, gingen essen, machten Pause vom Büro. Ein Pulk, eine Masse. Jeremia warf sich hinein, jubelnd. Ein Bad, ein Untertauchen. Er spürte das Pulsieren der Menge, ihr Strömen, er überließ sich dem Fluss, der Willkür. Trieb über den Platz, wurde an den Rand gespült, schob sich zurück ins Zentrum. Hörte das Rauschen der Stimmen. Atmete den Dunst der Körper. Er fühlte sich lebendig wie selten.

Ein Jäger auf der Jagd.

Dann begann er, Menschen zu berühren. Strich über einen Rücken, die Wolle eines Mantels, streifte einen Arm, drückte sich gegen Schenkel und fasste ins Haar der Frau vor ihm. Seine Hand glitt über dünnen Stoff, über Haut. Ein Hals, eine Brust. Er griff zu. Da waren Blut und Wärme. Jeremia öffnete den Mund und sog Luft in seine Lungen, schnaufte, netzte die Lippen. Sein Herz blieb ruhig, entkoppelt von den Gedanken, die ihre eigene Geschwindigkeit hatten, und Bilder, Farben. Er schloss die Augen und riss sie wieder auf. Schnelle Blicke. Ein Ruf. Er floh. Drängte in die Flanken des unruhigen Geschiebes, ließ seine Finger noch kurz in die eine oder andere Jacke fahren, ergatterte einen Schlüssel, eine Brieftasche, einen Lippenstift. Und war draußen.

65 Euro in kleinen Scheinen, Kreditkarten, Führerschein, Parkquittung, Personalausweis. Franz Schnabel aus München. Der Inhalt der Brieftasche auf Vincents Küchentisch gestreut. Wertmarken für eine Betriebskantine. Das zerknitterte Foto zweier blonder Mädchen, vielleicht zehn und zwölf Jahre alt, den Vater anstrahlend. Ein Abholschein für die Reinigung. Zwei Hosen, acht Euro, im Voraus bezahlt, heute fertig. Und eine rostige Büroklammer, die sich tief ins Leder der Brieftasche gedrückt hatte.

Das war ziemlich genau der Informationsstand, den sie früher immer von ihren Kandidaten hatten. Name, Adresse, ein Foto, Familienstand. Aber so konnte man nicht arbeiten. Sie fingen an zu recherchieren. Das machte sie schließlich besser als alle anderen.

Franz Schnabel. Er wohnte in der Nähe des Tierparks. Jeremia kannte das Viertel. Behäbige Wohnblocks aus den Dreißigerjahren, mit Ziegeldächern und schmutzig gelbem Rauputz. Kastanienbäume, Bierstuben. Manchmal wehte eine Fahne Kameldung über den Fluss. In der Früh hörte man die Affen kreischen.

Am nächsten Morgen schlief er lang, frühstückte Tee und eine Handvoll Nüsse, nahm den Bus und fand eine Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hauses, in dem Schnabel wohnte. Hier gab es Schatten. Hunde stromerten vorbei, Spatzen lärmten in den Bäumen. Jeremia blätterte eine Zeitung durch und sah sich auf dem Telefon die Fotos von Vincents Geburtstagsfeier an. Es war wirklich ein gemütliches Schiff gewesen, und das Wetter geradezu ideal, erstmal. Vincent schien fröhlich, ausgelassen, Maria strahlte, sie war oft mit ihm zusammen auf den Bildern zu sehen. Ein schönes Paar, konnte man denken. Eines der Fotos zeigte Susie, wie sie gerade ein riesiges Stück Schokoladentorte verschlang. Sie hatte nicht bemerkt, wie weit ihr Rock hochgerutscht war. Jeremia betrachte ihre Schenkel und bedauerte, nicht mit ihr im Wasser gewesen zu sein.

Eine Gruppe Kinder rannte über den Gehsteig. Die Schule war aus. Jeremia legte das Telefon weg. Eine ältere Frau schlurfte an seiner Bank vorbei und beäugte ihn misstrauisch. Zwei blonde Mädchen verschwanden in Schnabels Haus. Jeremia richtete sich auf und beobachtete die Fassade. Hinter einem der Fenster gab es eine plötzliche Bewegung, kurz war eins der Kinder zu sehen. Sie wohnten im zweiten Stock. Händewaschen, Mittagessen. Hausaufgaben.

Waren sie allein?

Bis zum Fenster waren es sicher nicht mehr als 15 Meter Luftlinie. Er hob langsam die rechte Hand, ballte sie zur Faust, hielt mit der linken das Gelenk, streckte den Zeigefinger aus, kniff die Augen zusammen, zielte.

Peng.

Um zwei kam das größere der beiden Mädchen wieder aus der Tür. Es schob sein Fahrrad über die Straße.

Hallo, sagte Jeremia freundlich.

Das Mädchen sah ihn an. Sehr aufmerksam, vorsichtig. Elf Jahre, oder zwölf, schätzte er. Sie wurden ein bisschen pummelig in dem Alter. Langes blondes Haar, Stupsnase, enge Jeans. Unter dem Ringeltop zeichneten sich bereits die ersten zarten Ansätze ihrer Brüste ab.

Schon fertig mit den Hausaufgaben?

Das Mädchen runzelte die Stirn.

Du kennst mich nicht. Ich bin ein Freund deines Vaters. Wir waren zusammen auf der Schule.

Aha, sagte sie. Ich muss zum Geigenunterricht.

Magst du Musik?

Das Mädchen legte den Kopf schief.

Wie heißt du, fragte Jeremia.

Juli.

Juli. Schöner Name. Machst du viel Sport?

Ich muss los.

Warte. Ich will dir etwas zeigen.

Er holte Schnabels Brieftasche heraus und klappte sie auf.

Die hast du schon mal gesehen, oder? Schau das Foto.

Ja, sagte Juli. Das sind wir.

Deine Schwester und du.

Juli nickte.

Ihr seid wirklich besonders hübsche Mädchen.

Juli schaute die Straße hinunter und hielt ihr Fahrrad fest.

Wir waren was trinken. Bisschen spät geworden. Aber lustig. Und dein Vater hat seine Brieftasche liegenlassen.

So etwas tut er nicht.

Na ja. Kommt eben mal vor. Ist doch nicht so schlimm. Ich hab sie aufgehoben.

Haben sie ihn angerufen?

Nein, sagte Jeremia. Noch nicht. Ich war heute in der Gegend. Wollte euch ein bisschen überraschen.

Mein Vater ist jetzt nicht zu Hause.

Klar. Macht nichts. Ich kann dir die Brieftasche geben.

Okay. Dankeschön.

Er klappte die Brieftasche zu, schlug mit der Hand darauf, hielt sie hoch.

Wie lange dauert der Geigenunterricht?

Bis drei. Manchmal ein bisschen länger.

Und dann gehst du wieder nach Hause? Willst du später ein Eis mit mir essen? Ich kann die Brieftasche solange für dich behalten.

Wie ist Ihr Name, fragte Juli.

Jeremia. Ich heiße Jeremia.

Und wie noch?

Sag einfach nur Jeremia. Dein Vater weiß dann schon, wer ich bin.

Ich muss jetzt wirklich los.

Ja, natürlich. Fahr vorsichtig. Bis nachher. Viel Spaß.

Juli schwang sich aufs Rad. Sie hatte ihre Zehennägel rot lackiert. Ihr Haar bauschte sich im Fahrtwind auf. Ganz kurz schaute sie noch einmal um. Ihre Augen waren grün und groß.

Jeremia sah ihr nach. Dann warf er Schnabels Brieftasche in einen Abfalleimer.

Im Bus dann wühlte er in seiner Jackentasche und stieß auf das Schaf. Ein Spielzeug. Hübsche kleine Holzfigur aus hohlen Einzelteilen, von Gummischnüren zusammengehalten. Das Schäfchen stand auf einem runden Holzsockel, ein bisschen wackelig, fiel in sich zusammen, wenn man unten einen Knopf hochdrückte, und schnellte wieder in seine natürliche Gestalt, sobald man den Knopf losließ. Bemaltes Holz, großer Kopf, dürftige anatomische Details. Etwas klapprig. Diese Figuren waren meist zügig kaputtgespielt. Die Gummis rissen oder leierten bald. Als Kind hatte Jeremia immer gestaunt, wie zuverlässig der Körper so einer Giraffe oder eines Elefanten seinem Willen gehorchte, stürzte, wenn er es wollte, und wieder auf die Beine sprang, wenn er es zuließ.

Das Schaf hatte Jeremia auf dem Weg zum Auto gefunden, gleich, nachdem er vom Schiff gestolpert war. Es war auf einem grün bemoosten Verteilerkasten gestanden, über dem Blechschild der städtischen Energieversorgungsbetriebe, und hatte, feucht, etwas ramponiert, auf jemanden gewartet, der es auflas.

Als Jeremia das Schaf in der Hand hielt, überwältigte ihn eine Flut von Bildern, Erinnerungen, Wörtern, Gerüchen, von Gedankenfetzen, nebligen Wünschen und verwehten Träumen. Sein eigenes Zimmer im Haus der Eltern, ein ausgestopfter Koalabär, Blechautos, eine Clownsmaske, die Kittelschürze der Großmutter, Nockerlsuppen, Fleischspeisen, das angeberische Auto des toten Opas, Postkarten aus dem Salzkammergut, grau vertrocknete Schokoladenstücke, der üble Dampf, der mittags aus der Küche des Kindergartens strömte, Butterbrote, Orangenspalten, Milchtüten und Waldtraut, das Mädchen mit den Zöpfen.

Waldtraut. Damals gab es diesen Namen noch. Waldtraut war mit drei in den Kindergarten gekommen, Jeremia war damals vier. Hatte Lederhosen an und Strickjacke, Waldtraut Kleidchen und Lackschuhe mit geknöpfter Spange. Jeremia war in diesem Alter etwas dicklich und versuchte an jedem halbwegs sonnigen Tag sich im Garten hoch bis zum Kopf der Kletterschlange zu hangeln. Vergeblich. Das Gespött der anderen Kinder.

Waldtraut versuchte es erst gar nicht, hüpfte stattdessen über den Rasen und trällerte ein Lied.

Jeremia war in Waldtraut verliebt. Hoffte auf Beachtung. Sorgte dafür, dass sie im Sandkasten das Spielzeug hatte, das sie wollte. Bewunderte ihre krakeligen, mit Wachskreiden gefertigten Bilder. Wartete morgens unruhig, dass sie gebracht wurde. Waldtraut. So süß mit ihren Zöpfen.

Nie hatte sie ihm auch nur einen Blick geschenkt.

Jeremia drückte den Knopf hoch in den Schaft des Sockels. Das Schaf erschlaffte in seiner Hand. Kraftlos, müde. Gefällt. Hing wie tot über dem Sockel. Er schüttelte es ein bisschen, die Einzelteile rasselten matt übers Holz. Dazwischen blitzten die Gummibänder auf, ganz weiß. Er zerrte, zog an ihnen. Die Bänder rissen. Wie Perlen kullerten die Teile zu Boden, sprangen davon, verschwanden. Übrig blieb der leere Sockel, etwas Gummigewirr, dünne Tentakeln. Darunter baumelte der hölzerne Knopf, über den man sonst den fragilen Zauber auszulösen vermochte. Jeremia rupfte ihn weg. Und zertrat die Reste mit dem Fuß.

Auch der Glasbehälter steckte in seiner Jackentasche. Nie hätte er ihn in der Wohnung zurückgelassen. Der Deckel schloss gut. Jeremia hielt das Röhrchen gegen die Sonne. Weiße Haut, schwarzes Haar. Vorsichtig drehte er den Verschluss auf, senkte seinen Mund über die Öffnung und ließ einen Tropfen Spucke hineinfallen. Schaumige, klebrige Spucke. Saft von seinem Saft. Ein Tropfen nur. Ein Faden. Eine Reliquie, eine Spur.

Susie anrufen. Im schönen Luzern. Das war vielleicht doch eine gute Idee. Ein bisschen ausforschen, was sie dachte. Was sie über ihn dachte. Wie sie die Sache sah. Schuldig, nicht schuldig. Ob sie in der Klinik war. Das Opfer seines Ausbruchs besuchen. Wie es ihm ging. Was Vincent so sagte.

Und dabei die ganze Zeit lustvoll das sanfte Vibrieren genießen, das Susies Stimme in seinem Körper verursachte.

Jeremia nahm das Telefon und tippte die Schweizer Vorwahl.

Freizeichen.

Gruezi.

Ein Mann. In Susies Wohnung ging ein Mann ans Telefon. Oder war das gar nicht ihre Nummer? Sie hatte sie am Sonntag schnell auf einen Zettel geschrieben. Es musste ein zufälliger Besucher sein. Oder ein Handwerker. Aber würde ein Maler ans Telefon gehen, ein Elektriker? Eher nicht. Wahrscheinlich war es ihr Professor. Einer dieser Mikrobiologen. Ein Protozoologe womöglich. Oder Schlimmeres.

Jeremia legte auf.

Natürlich hatte Susie einen Freund. Sie war jung, sie war attraktiv, und sie lachte gern laut, wenn sie nicht gerade in ihrer komischen Sprache sprach. Die Sprache würde einen anderen Schweizer natürlich nicht stören. Sie wäre eine erste Gemeinsamkeit. Also wohl ein Schweizer. Wer sonst lebte auch in Luzern. Und ein Professor. Sicher kein Student. Susie war anspruchsvoll. Sie hatte auf Jeremias Blicke womöglich nur deshalb gar nicht reagiert, weil sie ihn für undurchschaubar hielt, zu flatterhaft, für wenig gefestigt, unvermögend überdies. Weder fuhr er eine elegante Limousine noch trug er dunkelblaue Kaschmirjacken.

Sein Telefon klingelte, die Schweizer Nummer.

Rufst du hier an, fragte Susie.

Du hast Besuch, antwortete Jeremia.

Meine Eltern sind ein paar Tage bei mir. Aus den Bergen gekommen. Ich baue mit meinem Vater ein Regal in die Küche.

Es war sofort wieder da. Er hörte sie nur diese wenigen Wörter sprechen und wurde schon nervös. Susies Stimme erregte ihn.

Dann trägst du jetzt Latzhose und kariertes Hemd, sagte Jeremia. Schreinersachen. Mit Zollstock.

Weder ich noch mein Vater. Es ist ein fertiges Regal. Wir müssen es nur aufstellen. Warum wolltest du mich sprechen?

Wir hatten kaum Zeit zum Reden auf dem Schiff. Es ging alles so schnell.

Du warst betrunken. Alle hatten Angst vor dir.

Tut mir leid. Es war ein schöner Nachmittag. Ich hatte mich wirklich gefreut, dich zu sehen. Wir haben gefeiert.

Ein bisschen zu viel vielleicht, sagte Susie. Einer liegt jetzt in der Klinik. Mit Oberschenkeldurchschuss.

Warst du bei Vincent? Hast du ihn gesehen?

Natürlich habe ich ihn besucht. Ich war mit Maria dort. Es geht ihm ganz gut. Keine Schmerzen, keine bleibenden Schäden. Du hast seine Knochen verschont, die Ader nicht getroffen.

Es war keine Absicht. Ich wollte das nicht.

Warum gehst du nicht zu ihm, fragte Susie. Er wartet. Hast du Angst? Du musst dich stellen.

Er hörte Susies Stimme. Aber das Gespräch gefiel ihm nicht. Kein Plaudern, kein Spiel. Jeremia fühlte sich wie ein Angeklagter.

Die Polizei ist hinter mir her. Sie haben mich verhört. Erkennungsdienstliche Behandlung.

Das ist normal. Es wird eine Anklage geben.

Kann sein, dass ich ein bisschen verreise. Kleiner Ausflug in den Süden.

Jetzt? Du willst also gar nicht zu Vincent. Das ist feige.

Ich brauche eine Pause. Schlafen, Durchschnaufen, zur Ruhe kommen. Mich selbst wieder spüren. War ein bisschen viel in der letzten Zeit.

So wird alles nur noch schlimmer. Wenn du die Sache mit Vincent klären willst, solltest du kommen, solange er in der Klinik ist.

Ich muss vorsichtig sein. Die Polizei dort hat Fotos von mir, Daten, die Autonummer.

Die suchen dich sowieso. Wahrscheinlich längst mit Haftbefehl. Das geht schnell. Da wird Europa plötzlich sehr klein.

Susie hatte recht. Aber das war ihm egal. Jeremia wollte sie sehen. Eigentlich war es das Einzige, was er gerade wollte.

Vielleicht komme ich über Luzern, sagte er. Ich besuche Vincent und fahre dann gleich weiter. Ist ja nicht so weit. Die schöne Schweiz.

Da musst du dich aber beeilen. Nächste Woche fangen die Semesterferien an. Ich will nach Frankreich. Schon lange ausgemacht.

Er fragte nicht, mit wem sie reiste. Wohin, wann, wie lange. Interessierte ihn nicht. Nicht mehr. Der kurze Moment der Aufregung war vorbei. Verflogen. Susies Stimme. Dieses Schweizerdeutsch. Blümchenkleid. Käse und Schokolade.

Dann eben nicht.

Mal schauen, sagte Jeremia. Und legte auf.

War es nur die Stimme? Der Klang, die Melodie, die kurzen Pausen, einzelne, bestimmte Wörter. Was löste diese Unruhe aus? Auf dem Schiff hatte er gar nicht so genau hingehört, was Susie sagte. Eher hingeschaut. Geschwärmt. Sich ein Bild gemacht. Ihr Haar, ihre Schenkel. Seine Vorstellung davon. Jeremia wollte eine Susie nur aus Körper und Stimme, aus Fleisch und Blut und Musik. Eine Erscheinung. Eine Projektion. Die Wirklichkeit störte eher. Das Fragen, das Redenmüssen. Die Umstände. Zweckfreie Sinnlichkeit wäre das Ideal. Ein perfekter Schwebezustand. Der dann auch gar nicht unbedingt lang anhalten musste. Kommen und gehen. Dauer war nicht das Kriterium. Jahre, Jahrzehnte. Das bedeutete eher Langeweile.

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