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Das Hausaufgabenproblem ist uralt – ein historischer Rückblick

Dabei ist die Debatte über die Hausaufgaben sogar noch viel älter und die Hausaufgabe als pädagogisches Instrument mitnichten eine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts: Schon in Schulordnungen aus dem 15. Jahrhundert werden die häuslichen Arbeitspflichten der Schülerinnen und Schüler erwähnt und geregelt. Sie dienten schon damals dazu, die Kinder, so der Anspruch, das selbstständige Arbeiten einüben und den in der Schule behandelten Stoff eigenständig nacharbeiten und vertiefen zu lassen. Allein das zusätzliche Quantum an Lernzeit, so die dahinterstehende Idee, werde die Lernergebnisse schon verbessern und die Kinder disziplinieren – Dogmen, die jahrhundertelang nicht mehr hinterfragt wurde. Als dann 1592 im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken weltweit erstmals flächendeckend die Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingeführt wurde, gehörten auch die Hausaufgaben zum Standard − und wurden fortan als nicht mehr angezweifeltes pädagogisches Instrumentarium in nahezu allen späteren Schulgesetzen übernommen.

Ein Beispiel von vielen: Der „Entwurf einer neuen Schulordnung für die gelehrten Anstalten Württembergs, verfaßt und mit höherer Genehmigung dem Druck übergeben von der hierzu beauftragten Commission von Schulmännern“6. Zehn solcher „Schulmänner“, vom „Präzeptor zu Brackenheim“ über den „Rector des Lyceums in Tübingen“ bis zum „Professor am Gymnasium zu Rottweil“, hatten das 210-Seiten-Werk 1847 in Stuttgart geschrieben und ein Jahr später veröffentlicht; die „höhere Genehmigung“ kam vom „Königl. Ministerium des Innern und des Kirchen- und Schulwesens“. Stolz vermeldeten die Autoren im Vorwort des Buches ihr Arbeitstempo: „Die Commission trat im April 1847 zusammen und vollbrachte das ihr aufgetragene Geschäft in 24 Tagen und 22 Sitzungen“. Ein ganz ähnliches Pensum wollte sie wohl auch den Schülerinnen und Schülern in Württemberg zumuten. So sollten die Erstklässler 20 wöchentliche Unterrichtsstunden erhalten, danach steigerte sich die Stundenzahl bis zur 7. und 8. Klasse auf 34 Schulstunden pro Woche. Damit aber war es längst nicht getan: „Die dem Singen, Zeichnen und Turnen gewidmete Zeit ist unter diesen Unterrichtsstunden nicht begriffen.“

Ganz selbstverständlich gingen die Verfasser dabei vom Konzept einer Ganztagsschule aus, nur die Nachmittage am Mittwoch und Samstag waren unterrichtsfrei. Dazu kamen obendrein noch die Hausaufgaben – im Schulordnungsentwurf als „Privatarbeit“ bezeichnet und genau nach Schuljahren und Alter der Kinder aufgeschlüsselt:


„Die Privatarbeit beträgt …“


1. Schuljahr (6–7 Jahre)„am vollen Schultag“0 Stunden
„am Mittwoch“0 Stunden
„über den Sonnabend und Sonntag“0 Stunden
2.–4. Schuljahr (7–10 Jahre)„am vollen Schultag“1 Stunde
2. Schuljahr„am Mittwoch“1 Stunde
2. Schuljahr„über den Sonnabend und Sonntag“1 Stunde
3.–4. Schuljahr (8–10 Jahre)„am Mittwoch“1,5 Stunden
3.–4. Schuljahr„über den Sonnabend und Sonntag“2-3 Stunden
5.–6. Schuljahr (10–12 Jahre)„am vollen Schultag“1,5 Stunden
„am Mittwoch“2 Stunden
„über den Sonnabend und Sonntag“3-4 Stunden
7.–8. Schuljahr (12–14 Jahre)„am vollen Schultag“2 Stunden
„am Mittwoch“2,5 Stunden
„über den Sonnabend und Sonntag“4-5 Stunden

Zwar machten die Verfasser des Entwurfs eine einschränkende Bemerkung: „Die Privatarbeiten sind auf das den Kräften jeder Altersstufe entsprechende Maß zu beschränken, über welches sich die Lehrer oder Lehrercollegien mit den Vorständen, beziehungsweise mit den Lokalschulbehörden, zu einigen haben.“ Doch rein rechnerisch konnten 14-jährige Schülerinnen und Schüler demnach auf ein erhebliches Arbeitspensum kommen: 34 Schulstunden und drei angenommene Stunden in „Singen, Zeichnen und Turnen“ ergeben 37 Schulstunden oder 27 (Zeit-)Stunden und 45 Minuten; mit weiteren 15 Stunden Hausaufgaben kamen sie damit auf knapp 43 Stunden Schulzeit pro Woche. Vielen Eltern heutiger Ganztagsschüler dürften solche Rechnungen zur wöchentlichen Arbeitsbelastung ziemlich bekannt vorkommen.

Ein weiteres Beispiel findet sich in der Schulordnung der Lateinschule zu Bayreuth, erlassen im Jahr 1446: „Alle nacht sollen die Kinder scripturas schreiben, iren latein den elttern anheim sagen. vnd an dem morgen die schriefft in der schule weisen und ire latein wider aufsagen“7. Die Schülerinnen und Schüler sollten also während ihrer Zeit außerhalb der regulierten Schulstunden keinesfalls Freizeit haben oder gar auf dumme Gedanken kommen, sondern fleißig weiter die lateinische Sprache lernen, und zwar so gut, dass die Ergebnisse am nächsten Tag in der Schule überprüfbar waren. Mit solchen Regelungen wurde jedenfalls die Basis gelegt für ein schulpolitisches und pädagogisches Dogma, das bis heute scheinbar kaum hinterfragt wird: dass Hausaufgaben gut und sinnvoll sind. Und dass sie letztlich pädagogischen Zielen dienen.

Nur: Stimmt das tatsächlich? Die Schulforscherin Ilse Nilshon hat sich bereits mehrfach mit dem Thema Hausaufgaben beschäftigt, unter anderem als Verfasserin des 1999 veröffentlichten Gutachtens „Hausaufgaben und selbständiges Lernen“8. Und in dieser Studie zeichnet sie eine faszinierende historische Entwicklung nach. Im Laufe der Zeit wurden die Hausaufgaben sehr wohl immer mal wieder als pädagogisches Instrument in Frage gestellt – und immer wieder wurden diese zum Teil sehr fundierten Einwände abgebügelt, übergangen oder totgeschwiegen. Beispiele dafür, vor allem aus den 1960er und 1970er Jahren, finden sich unter anderem in den oben schon zitierten Spiegel-Artikeln. Den im Rückblick schärfsten Angriff auf die Institution Hausaufgaben jedoch gab es nach Nilsohns Recherchen bereits vor mehr als 100 Jahren. 1889 nämlich erschien die deutsche Ausgabe des Buches „Schulhygienische Untersuchungen“, verfasst von Axel Key.

Der schwedische Professor, ein Zeitgenosse Alfred Nobels, war Rektor der Pathologischen Anatomie am Karolinska-Institut in Stockholm und ab 1882 fünf Jahre lang auch Mitglied des Schwedischen Parlaments, wo er sich unter anderem im Ausschuss für Hochschulfragen engagierte. Einen thematischen Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen bildete ab Mitte der 1880er Jahre die Gesundheit von Schulkindern. So argumentierte er beispielsweise in dem Artikel „School Life in Relation to Growth and Health“9, dass die Belastung „durch moderne Unterrichtsmethoden zu Hause und in der Schule“ hochgradig gefährlich für die kindliche Gesundheit sei: „In jedem entwickelten Land Europas wird immer schärfer die Frage des Einflusses des bestehenden Schulsystems auf die heranwachsende Jugend diskutiert“, schreibt Key. Es sei klar, „dass die Belastungen durch Arbeit, die die Kinder unter den bestehenden Schulregularien zu tragen haben, weit über das erträgliche Maß hinausgehen, und dass diese Belastungen zu einem großen Teil verantwortlich sind für die Krankheitsneigung von Schulkindern.“ Zu Hause zu erledigende Arbeiten schloss er in seine auch heute noch lesenswerten Betrachtungen ausdrücklich mit ein.


In seinem Buch hatte Key auch die Forderung aufgestellt, dass Kindern ausreichend Schlaf zugestanden werden müsse: 14-jährige brauchten nach seinen Erkenntnissen neun Stunden pro Nacht, 15-jährige achteinhalb und 16-jährige acht Stunden Schlaf. Das Buch lieferte „der Gruppe der Hausaufgabengegner weitere Argumente, da die Realität diesen Schlafenszeiten nicht gerecht wurde und die Hausaufgaben diesen unhaltbaren Zustand mit verursachten“, rekapituliert Ilse Nilshon. Und so meldeten sich um 1890 die Kritiker der Hausaufgabenpraxis flächendeckend zu Wort: In Leipzig und Kassel, Hamburg und auch in Österreich gingen sie mit wissenschaftlichen Publikationen und (schul-)politischen Forderungen an die Öffentlichkeit. Schon damals musste man sich gegen eine reformverweigernde Das-war-schon-immer-so-Haltung etablierter Pädagogen, Eltern und Politiker behaupten – und die Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn der Aufgaben dauerte damals gleich mehrere Jahrzehnte. So forderte etwa Friedrich Dittes, früherer Leiter des Wiener Pädagogiums, dass die tägliche Hausaufgabenzeit von zwei bis drei Stunden reduziert werden müsse. Dittes‘ Worte hatten durchaus Gewicht. Der 1829 in Sachsen geborene Pädagoge studierte und arbeitete in Plauen, Leipzig und Chemnitz, bevor er zunächst als Schulrat nach Gotha und 1868 in die Schulverwaltung nach Wien kam. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Friedrich Dittes bereits einen Namen als Schulreformer gemacht, und so legte er sich auch in Österreich schnell mit den bestehenden Strukturen, vor allem aber mit dem Klerus an, dessen Einfluss auf die Schule und die Pädagogik er beschränken wollte. Obwohl er mit seinem Ansinnen Erfolge hatte, zog sich der Pädagoge 1881 aus der Schul- und Bildungsverwaltung zurück und konzentrierte sich bis zu seinem Tod 15 Jahre später auf die Herausgabe pädagogisch-wissenschaftlicher Artikel und Zeitschriften. Dittes verstand sich dabei bis zum Schluss als kritischer Begleiter der bestehenden Schulpraxis, wie unter anderem seine Positionierung in der Hausaufgabendebatte zeigt.

Auch in Deutschland waren die Thesen von den gesundheitsschädigenden Auswirkungen der Hausaufgabenpraxis um 1900 auf fruchtbaren Boden gefallen. „Die in den Erlassen für das preußische Schulwesen geforderten Zeitspannen, die für unterschiedliche Klassenstufen differieren, stellten selbst schon eine Kritik der gängigen Hausaufgabenpraxis dar“, schreibt Ilse Nilshon. Doch der gesetzliche Anspruch auf weniger Hausaufgaben ließ sich in der täglichen Schulpraxis nicht durchsetzen: Die Lehrer ignorierten die Vorschriften zur Begrenzung der Aufgaben einfach und hebelten sie damit erfolgreich aus. 1904 schreibt Hugo Gaudig in seinem Buch „Didaktische Ketzereien“ bereits süffisant vom „Kampflärm, der sich um die Überbürdung erhoben hat“10. Im selben Jahr kommen Mediziner beim Kongress für Schulhygiene in Nürnberg unter anderem zu der Erkenntnis, dass 15-jährige Schüler mit einer „Gehirnarbeit“ von bis zu zehn Stunden am Tag überfordert seien. Das erfordere schnelle Konsequenzen im Schulalltag: „Darnach müßten die zwangsmäßigen Hausarbeiten im ganzen und überhaupt abgeschafft, ihr Pensum in die Schulstunden aufgeteilt und so eine reinliche Scheidung von Schule und Heim vorgenommen werden“11. Den Schülern bleibe wegen der Hausaufgaben kaum noch Zeit für die Entwicklung individueller Anlagen, denn sie stünden unter permanentem seelischen Druck.

Doch damit war die mittlerweile bereits fünfzehn Jahre alte Debatte keineswegs beendet. Der Dresdner Lehrer Gustav Schanze hatte auf demselben Nürnberger Kongress bereits einen Vortrag gehalten, in dem er sich sehr ausführlich mit der Hausaufgabenfrage und dem Stand der damaligen Debatte befasste12. Zwei Aspekte, die die Hausaufgaben schon damals bestimmten, stellt Schanze dabei in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: unterrichtliche und erzieherische Ziele. Beim Unterricht kam er zu folgendem Schluss: „Auch die Übung der Unterrichtsstoffe gehört in die Schule; die Beseitigung der Hausaufgaben würde dem Unterricht und seinen Erfolgen nicht nur keinen Schaden zufügen, sondern im Gegenteil förderlich sein, indem dadurch die Stoffmenge auf ein richtiges Maß gebracht würde.“ Lediglich beim Fremdsprachenlernen könne man sehr dosiert auf den „häuslichen Fleiß“ der Schüler setzen, man müsse dabei aber sehr umsichtig nur das für zu Hause aufgeben, „was unumgänglich notwendig ist“. Schriftlich angefertigte Übersetzungen von lateinischen Texten, stellte Gustav Schanze gleich klar, gehörten nicht zu diesen unumgänglich notwendigen Aufgaben. Sie seien vielmehr „eine unnötige und darum zu vermeidende Arbeit“, die man viel besser mündlich in der Schule erledigen könne. Lediglich für ältere Schüler sei die häusliche Zusammenfassung von in der Schule gemeinsam gelesenen Stücken „von großem Nutzen“ – zum besseren Verständnis dieser Stücke und ihrer Autoren und „für die Ausbildung eines geschmackvollen und gewandten Stils“.

Im Hinblick auf die erzieherischen Folgen der Hausaufgaben redete sich Gustav Schanze damaligen Zuhörern zufolge regelrecht in Rage. Auch hier kam er zu dem Schluss: Sie müssen abgeschafft werden. Karl Roller zitiert in seinen Schilderungen längere Passagen der Rede des Dresdner Lehrers. Dabei wird deutlich, wie stark sich Schanze mit der wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit befasst hatte und wie sehr er seine kritische Einstellung zu Hausaufgaben auf eine fundierte Basis stellen konnte. Gustav Schanze sagte: „Dr. Sulzbach äußert sich in dem vorhin zitierten in den ‚Rheinischen Blättern’ enthaltenen Aufsatz hierzu folgendermaßen: ‚Jetzt kann jeder Rechenlehrer ohne Aufgaben vollständig sein Pensum absolvieren. Und gerade hier sollte jeder dies mit Freuden begrüßen, denn in keinem Gegenstande ist die häusliche Aufgabe so wenig Maßstab des Wissens und Könnens als gerade im Rechnen, weil hier am leichtesten ‚abgeschmiert‘ werden kann und ‚abgeschmiert’ wird.‘ Robert Mönchgesang führt als moralische Bedenken unter anderem folgendes an: ‚Die häusliche Aufgabe führt zum Betrug.‘ Wer will’s leugnen? Man denke doch an die zahllosen Schlüssel und geheimen Hilfsmittel bei den Übersetzungen. Nach Raydt – ‚Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper‘, Hannover 1889 – gibt es keinen deutschen Gymnasiasten, der ohne streng verbotene Hilfsmittel seine häusliche Aufgabe anfertigt. Mit dem Betrug geht die Lüge Hand in Hand. Zahlreich sind die Beispiele hierfür. Schulhinterziehung! Hat der Knabe seine häuslichen Aufgaben nicht machen können, so versäumt er aus irgendeinem Grund die Schule. Mama bescheinigt dies sogar. Die häusliche Aufgabe züchtet die Angeberei und weckt den Neid. Namentlich bei überfüllten Klassen wird der eine Schüler bei der Revision übergangen, der andere gerügt, beide haben aber möglicherweise mit demselben Kraftaufwand gearbeitet. Dem einen glückt eine Täuschung, dem anderen zieht sie eine Bestrafung zu. Die häusliche Arbeit setzt Schule und Lehrer in Mißachtung. Die Familie beurteilt nach der Art der Revision der häuslichen Aufgabe die pädagogische Kapazität des Lehrers. Nach den unausbleiblichen, abfälligen und scharfen Urteilen bildet der Schüler sein geringschätzendes Urteil über Schule und Lehrer. Die Hausaufgaben sind mit Ausschluß derjenigen, die sich auf den fremdsprachlichen Unterricht beziehen, vom unterrichtlichen Standpunkte aus als entbehrlich anzusehen; vom erziehlichen Standpunkte aus stiften sie mehr Schaden als Nutzen. Ihre Beseitigung ist daher erstrebenswert.“13

Auch der Württembergische Gymnasiallehrerverein hatte sich auf zwei Landesversammlungen 1904 und 1905 mit dem Thema befasst; die dabei geführten Diskussionen griff Gustav Schanze in seinem Referat auf der „VII. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege“ im Juni 1906 in seiner Heimatstadt Dresden noch einmal auf und leitete daraus einen Fünf-Punkte-Plan ab:

→„Hausaufgaben in Volksschulen sind vom unterrichtlichen Standpunkte aus als entbehrlich anzusehen.

→Vom erziehlichen Standpunkte aus betrachtet, können sie ebenso sehr schaden als nützen.

→Ihre Beseitigung ist daher aus hygienischen Gründen zunächst für die vier ersten Schuljahre zu erstreben.

→Für die vier oberen Schulstufen ist die Beschränkung der Aufgaben auf ein geringeres Maß (täglich nicht über 1/2 Stunde) wünschenswert.

→Dringend zu fordern ist die gänzliche Beseitigung sämtlicher Ferienaufgaben.“14

Ein Jahr später legte Gustav Schanze noch ein weiteres Mal nach – und er fühlte sich dabei durchaus vom damaligen Mainstream der pädagogischen Debatte getragen. Tatsächlich hatte es um die Jahrhundertwende herum einen dramatischen Perspektivwechsel gegeben. Anders als es zuvor üblich war, versuchten Reformer wie Maria Montessori, der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey oder der schon genannte Axel Key, eine „Pädagogik vom Kinde aus“ zu entwickeln, die auf eigene Aktivitäten als Basis des Lernerfolgs setzte und dabei grundlegende Bedürfnisse nach Abwechslung und Freizeit nicht unterschlug. Auch die sich etwa zeitgleich entwickelnde Arbeitsschulbewegung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts formierte und statt der bis dato üblichen obrigkeitshörigen Schule einen handlungsorientierten Unterricht mit Beteiligung der Schüler wollte, verurteilte Hausaufgaben als „Zwangsinstrumente der Schule“. Einige Reformpädagogen, wie etwa der Münchener Professor Georg Kerschensteiner, versuchten, Hausaufgaben allenfalls als freiwillige Leistung der Schüler einzuplanen – ein Ansatz, der in einem hochgradig unfreiwilligen System wie der Schule kaum umzusetzen war. Gustav Schanze jedenfalls forderte 1907 noch einmal, dass die Hausaufgaben „aus den unmethodischen Händen der häuslichen Berater in die methodische Hand des Lehrers“15 übergehen müssten. Den Einwand, dafür gebe es wegen des schon damals vollgestopften Stundenplans keine Zeit, entgegnete der Dresdner Lehrer, dann müsse eben der zu vermittelnde Stoff deutlich gestrafft werden. Und auch der angebliche Verlust an Lernmöglichkeiten durch den Wegfall des selbstständigen Arbeitens sei gar keiner, befand Schanze − schließlich würden Hausaufgaben letztlich ja nur zu Betrug, Fälschung und Täuschung führen.

Aktuelle Versuche zur Abschaffung der Hausaufgaben in der Schweiz

Es ist schon mehr als erstaunlich, dass es angesichts dieses jahrzehntelangen Diskussionsvorlaufs bis zum Jahr 1993 dauern sollte, bis im deutschsprachigen Raum erstmals eine Gebietskörperschaft flächendeckend Abstand vom jahrhundertelang gepflegten Hausaufgabenschreckgespenst nahm. Im schweizerischen Kanton Schwyz wurde damals, auch unter dem Eindruck immer neuer hausaufgabenkritischer Studien, vom Bildungsdepartement der Beschluss zum Ausstieg gefasst. Die Lerninhalte der Aufgaben, so die Vorgaben der Schulpolitik, seien fortan in die Unterrichtszeit zu integrieren; die Wochenstundenzahl für die Kinder wurde dafür um eine Stunde erhöht. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler jubelten über die freie Zeit zu Hause, auch die Erziehungswissenschaftler und Schulforscher waren von der Abschaffung angetan – hofften sie doch, nunmehr erstmals auf breiter Basis zeigen zu können, wie stark sich die Schul- und Lernleistungen von Kindern mit und ohne „Ufzgi“, wie die Hausaufgaben in der Schweiz genannt werden, tatsächlich unterscheiden. Erste Ergebnisse deuteten bald schon auf positive Folgen der Abschaffung hin (siehe unten).

Doch die Akteure hatten bei ihrer revolutionären Neugestaltung des Schulalltags einen Faktor unterschätzt: das Beharrungsvermögen einer überwiegend bildungskonservativ eingestellten Öffentlichkeit und Elternschaft. Ob die veröffentlichte Meinung tatsächlich den gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnissen entsprach, sei dahingestellt – Fakt ist jedenfalls, dass der Druck der Öffentlichkeit durch kritische Medienberichte, Leserbriefe, Wortmeldungen in Gremien und Eingaben von Eltern so groß wurde, dass die Verantwortlichen 1997, also nach nur vier Jahren, eine Kehrtwende hinlegten und die Hausaufgaben im Kanton wieder einführten. Allerdings gibt es seither klare Vorgaben: Die kantonalen Bestimmungen für die Volksschule sehen vor, dass die Hausaufgaben individuell dem Lern- und Leistungsvermögen der Kinder angepasst werden müssen. Auch dürfen sie kein Ersatz für Übungsphasen während der Unterrichtszeit sein und, ganz wichtig: Es gibt nun zeitliche Obergrenzen. So sollen Schülerinnen und Schüler der ersten beiden Klassen nicht mehr als eine bis eineinhalb Stunden pro Woche Hausaufgaben machen müssen; die Belastung steigert sich mit zunehmendem Alter bis zu den Schülern der 7. bis 9. Klasse, für die maximal vier Stunden Hausaufgaben pro Woche vorgesehen sind.16

Die Debatte war damit freilich nicht erledigt, denn die ausführlichen Untersuchungen zur Abschaffung der Hausaufgaben wurden erst publiziert, nachdem sie bereits wieder eingeführt worden waren. So erschien im Jahr 2000 eine Auswertung von Tina Hascher und Franziska Bischof17, in der die Forscherinnen die Leistungsentwicklung im Fach Mathematik von Viert- und Sechstklässlern in Schwyz und Zug vergleichen. Sie finden mit Blick auf die Kompetenz keine Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Hausaufgaben – wohl aber im Hinblick auf deren Befindlichkeit: Die aufgabenfreien Schwyzer Kinder fühlten sich geringer belastet und höher motiviert als ihre Altersgenossen im Kanton Zug.

Obwohl die hausaufgabenfreie Zeit in Schwyz mittlerweile rund zwei Jahrzehnte zurückliegt, flackert die Debatte immer mal wieder auf. So ging im Herbst 2009 die Stadtzürcher Sozialdemokratische Partei mit einer Petition an die Öffentlichkeit, Titel: „Aufgabenstunden statt Hausaufgaben“. Die SP argumentierte mit mangelnder Chancengleichheit bei den Hausaufgaben und plädierte dafür, „Aufgabenstunden“ an den Schulen einzuführen – ganz so, wie das bereits vier Jahre lang in den 1990er Jahren gehandhabt worden war. Erneut erhob sich daraufhin ein öffentlicher Sturm der Entrüstung: Von „Zwang“ für die Schülerinnen und Schüler und „Bevormundung der Eltern“ war die Rede und davon, dass die Partei „die Kinder den Familien wegnehmen“ wolle. „Das Gegenteil ist der Fall! Ihre Kinder werden von der Schule heimkommen und einfach nur Kind sein und keine Mini-Studentinnen und -Studenten“, wehrte sich Lina Bär von der SP, „nicht alle Eltern haben studiert. Viele können dem Schulstoff ihrer Kinder nur schlecht oder gar nicht folgen. Dieser ungleichen Verteilung von Ressourcen wollen wir ein gerechtes Modell entgegensetzten.“18 Doch die Petition scheiterte. Wieder war das Beharrungsvermögen der Reformverweigerer zu groß – und das, obwohl mittlerweile auch einflussreiche Medien wie die „Neue Zürcher Zeitung“ behutsam ins Lager der Reformer gewechselt waren. „Hausaufgaben: Ein ‚pädagogisches Ritual‘ überlebt“, titelte die NZZ etwa im September 201319. Autor Peter Krebs zitiert darin unter anderem den Kinderheilkundler und Autor von Erziehungsratgebern Remo Largo mit der klaren Hausaufgabenschelte „Sie bringen gar nichts. Schüler und Eltern werden damit nur schikaniert“. Aber auch Gabriel Romano vom Institut Vorschulstufe und Primarstufe der Pädagogischen Hochschule Bern, für den Hausaufgaben nur ein „pädagogisches Ritual“ ohne tieferen unterrichtlichen Sinn sind.

Krebs verweist zwar auf die Zusammenfassung Tausender weltweit erstellter Studien durch den neuseeländischen Bildungsempiriker John Hattie20, der in seiner Metastudie den Hausaufgaben einen moderaten Lerneffekt zuschreibt. Auch lässt er in einem Interview den entschiedenen Hausaufgaben-Befürworter Alois Niggli zu Wort kommen. Der Freiburger Pädagogikprofessor stellt darin fest, dass Hausaufgaben „nicht generell wirkungslos“ sind, „mit zunehmendem Alter können sie einen positiven Einfluss auf die Schulleistung haben, falls sie sorgfältig erledigt werden.“ Und „aus erzieherischen Gründen kann man sagen, dass die Kinder dank den Hausaufgaben mit der Zeit eine gewisse Selbständigkeit entwickeln können.“21 Doch Peter Krebs’ Skepsis gegenüber einem unsinnigen Ritual ohne echten pädagogischen Wirkungsnachweis obsiegt letztlich. Er verweist auf Belastungen für das Familienleben, wenn Kinder die Hausaufgaben manchmal bis morgens vor dem Unterricht vor sich her-schieben, und auf Eltern, die ihren Nachwuchs lieber auf teure – und hausaufgabenfreie – Privatschulen schicken, „um den Familienfrieden zu retten“. Jürg Brühlmann vom Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer empfiehlt deshalb genau das, was vor 20 Jahren im Kanton Schwyz bereits realisiert wurde: die Verlegung der Arbeit in die Schulen, den Wechsel von Hausaufgaben zu Schulaufgaben. Allerdings gibt er auch zu bedenken, dass damit über eine neue zeitliche Struktur des Schulunterrichts nachgedacht werden müsse: „Wir würden bis zu einem Achtel der Lernzeit verlieren.“

Doch obwohl fachlich alles eindeutig in eine Richtung zu weisen scheint, gilt auch für die Schweiz, ebenso wie für Deutschland und Österreich: Die flächendeckende Abschaffung der Hausaufgaben und ihr Ersatz durch zusätzliche schulische Angebote liegen derzeit in weiter Ferne – nicht zuletzt wegen der finanziell schwierigen Lage vieler Kommunen, die zusätzliche Lehrkräfte für eine schulisch betreute Aufgabenhilfe bezahlen müssten, dafür aber kein Geld investieren können oder wollen. Die Befürworter einer Abschaffung der Hausaufgaben stehen damit vor einem kaum zu knackenden, doppelten Verteidigungsbollwerk der Pro-Hausaufgaben-Fraktion, das flapsig formuliert in etwa so klingt: „Erstens haben wir das schon immer so gemacht. Und selbst wenn wir uns durch sämtliche Studien, die den Hausaufgaben Nutzlosigkeit bescheinigen, beeindrucken ließen – was wir nicht tun! –, dann gäbe es doch kein Geld, um irgendetwas zu ändern.“ Veränderung kann also allenfalls, so scheint es, von unten nach oben passieren, mit engagierten Einzelakteuren, die den jahrhundertealten Unsinn mit den Hausaufgaben nicht mehr mitmachen wollen. Beispiele dafür gibt es – etwa in der Gemeinde Neuheim im Kanton Zug. Dort wurde vor einigen Jahren eine Eltern-Lehrer-Gruppe (ELG)22 gegründet, die unter anderem zwei Mal pro Woche eine kostenlose Hausaufgabenbetreuung für Primarschulkinder anbietet. Die Vereinzelung der Hausaufgabensituation wird damit durchbrochen, qualifizierte Betreuer begleiten die Schülerinnen und Schüler bei ihren Aufgaben. Und dennoch ist das nur die zweitbeste Lösung, denn die Hausaufgaben an sich existieren ja weiter. Einen anderen Weg ist das Gymnasium Bäumlihof in Basel gegangen, dass die zu Hause zu bearbeitenden Aufgaben abgeschafft und durch Schulaufgaben ersetzt hat, die in der sogenannten individuellen Lernzeit erledigt werden23, häufig zu Beginn des Tages. Ein innovatives Konzept, das vielleicht kein Wunder ist an einer Schule, die 2010 auch damit begonnen hat, ganze Klassen ohne einen traditionellen Stundenplan zu unterrichten. Es scheint, als könnte es in der Hausaufgabendebatte lohnend sein, öfter einmal in Richtung Schweiz zu blicken.

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