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Der psychosozialen Gesundheit korrespondieren Belastungen, die vor allem von Eltern mit Kindern empfunden werden. Das «COVID-19 Snapshot Monitoring» (COSMO 2020) zeichnet dies sehr umfangreich auf. Diese Situation muss sich dringend ändern. Von einem Krisenerleidensmodus muss zu einem Krisenbearbeitungsmodus gewechselt werden (als wichtiger Beginn hierzu FES 2020). Der Bildungsbereich ist jeder Hinsicht relevant, vor allem natürlich mit Blick auf die Lebensbedingungen von Familien, Chancenstrukturen und Lernoptionen.

Eine sozialisationstheoretische Perspektive kann diese hohe Bedeutung des Schulsektors nur bestätigen. Hierzu gehören die Lern- und Erfahrungsräume junger Menschen ebenso wie die Folgewirkungen auf andere gesellschaftliche Teilbereiche. Zieht man die Randbereiche der Elementar- und Hochschulbildung hinzu, der pädagogisch qualifizierten Fachkräfte, Erzieherinnen und Erzieher sowie der sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Berufe, sind Einrichtungen des Bildungssystems ein vitaler Mittelpunkt moderner Dienstleistungsökonomien. Dies lässt sich in sowohl quantitativer als auch qualitativer Hinsicht erkennen. Rund zwei Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung sind Lehrkräfte an allgemein- und berufsbildenden Schulen (also dem Schulsystem im engeren Sinne), 15 Prozent der Bevölkerung sind Lernende in diesen Einrichtungen.

Nicht nur die formale Qualifikation, sondern vor allem Wissensstrukturen, Lerntechniken und die Fähigkeiten des sicheren Bewegens in einer wissens- und technologieaffinen Gesellschaft sind heute Gegenstand schulischer Bildung. Die schweren Verwerfungen, die sich aus der Bewältigung der Corona-Pandemie ergeben haben, zeigen den Weg für dringend notwendige Reformen auf.

Literatur

Baumert, Jürgen et al. (Hrsg.) (2002). Deutsches PISA-Konsortium: PISA 2000 − die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen: Leske u. Budrich.

COVID-19 Snapshot Monitoring (COSMO) (2020). Ergebnisse aus dem wiederholten querschnittlichen Monitoring von Wissen, Risikowahrnehmung, Schutzverhalten und Vertrauen während des aktuellen COVID-19 Ausbruchsgeschehens [download: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/archiv].

Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) (2020). Schule in Zeiten der Pandemie: Empfehlungen für das Schuljahr 2020/21 [download: https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/artikelseite/ergebnisse-der-kommission-schuljahr-2020-21].

Forschungsverbund Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit (2020a). Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Universitätsverlag Hildesheim.

Forschungsverbund Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit (2020b). Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Universitätsverlag Hildesheim.

Huber, S. et al. (2020). Schulbarometer. Zug: Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie.

Hurrelmann, Klaus/Bauer, Ullrich (2019). Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. 13. Aufl. Weinheim: Beltz.

Robert Bosch Stiftung (2020). Das Deutsche Schulbarometer Spezial [download: https://deutsches-schulportal.de/unterricht/das-deutsche-schulbarometer-spezial-corona-krise].

Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) (2020). Sozial vulnerable Kinder und Jugendliche müssen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken [download: https://www.unibielefeld.de/erziehungswissenschaft/izgk/Sozial_vulnerable_Kinder.html].

Die Autoren

Ullrich Bauer ist Professor für Sozialisationsforschung, Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft und Leiter des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) an der Universität Bielefeld.

Klaus Hurrelmann ist Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Nach langjähriger Tätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.

Potenzielle Auswirkungen der Corona-Krise auf soziale Ungleichheiten und Schulorganisation

Marcel Helbig

Soziale Ungleichheiten werden durch die Schulschließungen in Deutschland befördert. In diesem Beitrag werden Aspekte besprochen, die in der öffentlichen Debatte bislang weitgehend unberücksichtigt blieben: Wie sieht die Schulorganisation im Präsenzunterricht aus, wenn Lehrkräfte, die zur Risikogruppe zählen, keinen Unterricht erteilen können? Welchen Einfluss haben Mensaschließungen auf die Ernährung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern? Corona wirkt wir ein Brennglas auf die ohnehin teils schwierigen Verhältnisse, deren Auswirkungen derzeit nur zu vermuten sind.

Über die Auswirkungen der Corona-Krise ist bislang sehr wenig systematisches Wissen vorhanden. Dies gilt im Speziellen für die Auswirkungen, die sich für Schule und Bildung abzeichnen. Auch mit diesem Beitrag können keine neuen Daten zu diesem Zusammenhang präsentiert werden. Es wird hingegen versucht, Erkenntnisse aus der empirischen Bildungsforschung auf die potenziellen Auswirkungen der Corona-Krise zu übertragen. Dabei werden zwei Schwerpunkte gesetzt. Im ersten Teil wird darauf eingegangen, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf soziale Ungleichheiten hat. Im zweiten Teil wird auf organisatorische Probleme hingewiesen, die sich für Schulen kurzfristig und langfristig ergeben.

1Soziale Ungleichheiten und Corona

In Folge der Corona-Krise wurden seit Mitte März die Schulen geschlossen und die Schüler sollten im Homeschooling unterrichtet werden. Drei Monate später können viele Schüler die Schulen wieder besuchen. An einen Regelunterricht ist allerdings nur an wenigen Schulen zu denken. Rechnet man die Sommerferien hinzu, haben viele deutschen Schüler fast ein halbes Jahr keinen regulären Unterricht. Wie wirkt sich diese Zeit auf soziale Ungleichheiten aus, die in Deutschland auch vor Corona vergleichsweise stark ausgeprägt waren? Empirisch gibt es hierzu naturgemäß noch keine Daten. Antworten zu dieser Frage könnte das Nationale Bildungspanel ab dem nächsten Jahr geben. Bis dahin lohnt ein Blick in die USA. Hier gibt es (auch vor Corona) relativ ausgedehnte Sommerferien von bis zu drei Monaten. Einige amerikanische Studien haben untersucht, wie sich soziale Ungleichheiten im saisonalen Vergleich verändern. Die Sommerferien können als ein «natürliches Experiment» aufgefasst werden, das Aufschluss darüber gibt, wie sich die schulischen Kompetenzen verändern, wenn die Schule geschlossen bleibt. Insgesamt zeigen die amerikanischen Studien übereinstimmend, dass soziale Ungleichheiten während der Sommerferien steigen, während sie im Schuljahr eher konstant bleiben (für einen Überblick siehe Downey und Condron 2016). Die saisonalen Vergleiche aus den USA zeigen aber nicht nur wachsende Bildungsungleichheiten in den langen Sommerferien. Sie zeigen auch, dass der BMI-Index (als Maß für Übergewichtsprävalenz) in den Sommerferien gerade bei Hispanics, Afroamerikanern und Kindern aus niedrigeren sozialen Schichten stärker ansteigt als bei anderen sozialen Gruppen. Gerade in den Schulferien fehlt Kindern unterer Schichten, was Schule zumeist bereitstellt: ein gesundes Mittagessen und ungesüßte Getränke.

Diese Ergebnisse aus den USA unterstreichen also die Bedeutung des Schulbesuchs im Hinblick auf soziale Ungleichheiten von schulischen Kompetenzen und gesunder Ernährung bzw. der Ausbildung von Übergewicht. Aber sind diese Ergebnisse auch auf die aktuelle Situation in Deutschland anwendbar? Die saisonalen Vergleiche verdeutlichen im Grunde einen zentralen Wirkmechanismus:

” Schulen vermögen es, soziale Ungleichheiten der Schülerumwelt zumindest auszugleichen. Wenn Schule als Sozialisationsraum wegfällt, wirkt sich die Familie weit stärker sozial ungleich aus.

Sicherlich ist die aktuelle Situation in der Corona-Krise nicht vollständig mit den Sommerferien in den USA vergleichbar. So sollen Kinder und Jugendliche in Deutschland (wie auch in vielen anderen Ländern) weiterhin durch die Lehrkräfte instruiert werden, um mit elterlicher Unterstützung von zu Hause zu lernen.2 Insgesamt hängt das Homeschooling bzw. hängen die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler stärker als zuvor davon ab, wie die Schülerinnen und Schüler im eigenen Haushalt durch die Eltern unterstützt werden können, welche Ressourcen im Haushalt vorhanden sind und wie anregungsreich das familiäre Umfeld ist. Im Hinblick etwa auf die Dimension Ernährung, die in den amerikanischen saisonalen Studien untersucht wurde, sollte die Situation in der Corona-Krise vollständig mit den Sommerferien vergleichbar sein. Außer für Schülerinnen und Schüler in der Notbetreuung fand keine Ausgabe von Schulmittagessen an deutschen Schulen statt. Wie sieht also die Situation in deutschen Familien aus?

1.1Ressourcen

Die sozialen Ungleichheiten in Bezug auf das Homeschooling beginnen bereits bei der Ausstattung, die für eine Umsetzung einer geeigneten Lernumwelt notwendig ist. So gaben Jugendliche der neunten Klassen aus bildungsnahen Haushalten in der letzten PISA-Untersuchung 2018 zu 95,4 Prozent an, dass ihnen ein eigener Raum zum Lernen zur Verfügung steht. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Eltern einen geringen (oder keinen) Bildungsabschluss haben, trifft das für 82,7 Prozent zu. Auch ein Computer zur Erledigung von Hausaufgaben ist bei Kindern und Jugendlichen aus bildungshohen Elternhäusern häufiger vorhanden, auch wenn der Unterschied zu bildungsniedrigen Elternhäusern geringer ist, als man vielleicht erwarten würde (95 vs. 87,3 Prozent). Betrachtet man für diese Population, wie stark sie sich von ihren Eltern unterstützt fühlen, zeigen sich für Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern deutlich höhere Werte, sowohl bei der Unterstützung beim Lernen als auch bei der emotionalen Unterstützung (PISA 2018 Datensatz, eigene Berechnungen).

1.2Anregungsreiches familiäres Umfeld

Neben der Art, wie Eltern ihre Kinder beim Lernen oder emotional unterstützen, gibt es auch andere Indikatoren, die als Merkmal eines anregungsreichen familiären Umfelds gesehen werden können. Die Stiftung Lesen fragt zum Beispiel Eltern von Zwei- bis Achtjährigen in regelmäßigen Abständen, wie oft dem Kind vorgelesen wird. Dabei zeigt sich, dass Eltern mit niedriger Bildung ihren Kindern zu gut 50 Prozent höchstens einmal in der Woche etwas vorlesen. Bei Eltern mit hoher Bildung trifft dies nur auf 21 Prozent zu. Eltern, die häufig vorlesen, beschränken ihre Aktivitäten nicht nur auf das Vorlesen. Sie erzählen ihren Kindern auch viel häufiger ein Märchen ohne Buch, erfinden eine Geschichte frei oder erzählen Geschichten zu Bilderbüchern (Stiftung Lesen 2019).

1.3Ernährung und Gesundheitsverhalten

Laut KIGGS-Studie des RKI nehmen nur 53 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus unteren Sozialschichten täglich ein Frühstück zu sich, während dies 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus oberen Sozialschichten tun. Kinder und Jugendliche aus höheren Sozialschichten sind darüber hinaus deutlich häufiger sportlich aktiv, sind deutlich seltener übergewichtig oder adipös, essen deutlich häufiger täglich Obst, nehmen deutlich seltener täglich zuckerhaltige Getränke zu sich, nutzen in deutlich geringerem Umfang exzessiv elektronische Medien und sind deutlich seltener vom Passivrauchen im eigenen Haushalt betroffen. Mehr noch, Mütter von Kindern aus unteren Sozialschichten haben deutlich häufiger während der Schwangerschaft geraucht (Kuntz et al. 2018; RKI 2015).

Wie an diesem sehr kurzem Überblick deutlich geworden sein dürfte, sind die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nach ihrer sozialen Lage sehr unterschiedlich. Weil die Schulen während der Schulschließungen ihrer Funktion als Institutionen sozialen Ausgleichs nicht in gewohnter Form nachkommen können, ist auch davon auszugehen, dass die amerikanischen Studien zum Einfluss der Sommerferien auf soziale Ungleichheiten auf die aktuelle Situation in Deutschland übertragbar sind. Soziale Ungleichheiten beim Lernfortschritt wie auch gesundheitliche Ungleichheiten sollten während der Corona-Krise deutlich zu Tage treten. So wundert es auch nicht, dass eine aktuelle Umfrage von Forsa im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung e. V. unter 1000 Lehrkräften zu dem Ergebnis kommt, dass 82 Prozent aller Lehrkräfte während der langsamen Öffnungen der Schulen Lernunterschiede von Schülerinnen und Schülern auszugleichen als ihre größte Herausforderung ansehen (in Grundschulen sogar 90 Prozent) – und dies gerade einmal nach knapp zwei Monaten Schulschließung.

2Schulorganisation und Corona

Die Corona-Krise wird nicht nur soziale Ungleichheiten verstärken. Auch schulorganisatorisch ergeben sich große Herausforderungen, die bisher zu wenig diskutiert wurden. Dabei soll an dieser Stelle auf eine kurzfristige und eine langfristige Folge für die Schulorganisation eingegangen werden.

2.1Risikogruppen in der Corona-Krise

Für Politik und Verwaltung wird sich vor allem für sogenannte

«Risikogruppen» die Frage stellen, ob sie zum Präsenzunterricht verpflichtet werden können. Juristisch wird sich vor allem die Frage stellen, wie vorzugehen ist, wenn sich Lehrkräfte im Schulunterricht mit Covid-19 anstecken und daraufhin gesundheitliche Einschränkungen haben oder im schlimmsten Fall sogar daran versterben. Hat dann der Dienstherr gegen seine gesundheitliche Fürsorgepflicht verstoßen? Und besteht diese Pflicht generell oder nur gegenüber Risikogruppen? Bisher setzten die Bundesländer (einen Überblick zu behalten ist an dieser Stelle allerdings schwierig) wohl eher darauf, dass Lehrkräfte mit Vorerkrankungen und Lehrkräfte ab 60 Jahren keinen Präsenzunterricht geben müssen, wenn sie dies nicht wollen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags lassen sich aber auch erste Meldungen über Gerichtsentscheidungen finden, die den Bundesländern mehr Spielraum zugestehen – vorausgesetzt, das Infektionsgeschehen bleibt überschaubar und es ergeben sich keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine starke Gefährdung von Lehrkräften aufzeigt. Wie die Situation beim Erscheinen dieses Beitrags ist, ist kaum vorauszusagen. In diesem Beitrag soll die Diskussion über die Risikogruppen um einen Aspekt ergänzt werden. Wenn über 60-jährige Lehrkräfte und weitere Risikogruppen keinen Präsenzunterricht geben müssen, dann führt dies zu einer kurz- bis mittelfristigen Anspannung der Personalsituation unter Lehrkräften in Schulen, die in vielen Bundesländern auch vor Corona bereits angespannt war. Betrachtet man nur die Lehrkräfte ab 60 Jahren, so müsste man in den westdeutschen Bundesländern durchschnittlich 11,6 Prozent aller Lehrkräfte zur Risikogruppe rechnen. In den ostdeutschen Bundesländern (mit Berlin) läge ihr Anteil sogar bei 16,2 Prozent. In Thüringen, dem Land mit dem höchsten Anteil über 60-jähriger Lehrkräfte, läge der Anteil sogar bei 19,2 Prozent (Stand: Schuljahr 2018/19). Je nach Bundesland würden also bis zu einem Fünftel der Lehrkräfte zur altersmäßigen Risikogruppe gehören. Hinzu kommen jene Lehrkräfte mit Vorerkrankungen, die unter 60 Jahre alt sind. In Thüringen geht das Bildungsministerium insgesamt von rund 30 Prozent an Lehrkräften aus, die zur Risikogruppe gehören.3

Wie kann man zu einem Regelunterricht zurückkommen, wenn bis zu 30 Prozent aller Lehrkräfte nicht am Präsenzunterricht teilnehmen müssen? Verschärft wird dies über einen bisher kaum diskutierten Fakt: Die Risikogruppen verteilen sich nicht gleich über alle Schulen. In Abbildung 1 ist dies für die Schulen in Thüringen anhand der mindestens 60-jährigen und mindestens 50-jährigen Lehrkräfte dargestellt. Von den 800 allgemeinbildenden Schulen (ohne Förderschulen) haben je nach Schulform zwischen 13 (Grundschulen) und 42 Prozent (Regelschulen) einen Anteil von Lehrkräften ab 60 Jahren von mindestens 25 Prozent. Hier würden also allein aus Altersgründen ein Viertel des Kollegiums zur Risikogruppe gehören. An 2,6 Prozent aller Thüringer Schulen (über alle Schulformen) liegt der Anteil von Lehrern ab 60 Jahren sogar bei 50 Prozent.

Nimmt man die mindestens 50-jährigen Lehrkräfte hinzu, die ebenfalls überproportional Vorerkrankungen haben könnten, sieht man, wie prekär die Altersstruktur an vielen Thüringer Schulen ist. Je nach Schulform setzt sich die Lehrerschaft in 56 bis 93 Prozent aller Schulen mindestens zur Hälfte aus über 50-jährigen Lehrkräften zusammen. An 3,5 Prozent aller Schulen ist jede Lehrkraft mindestens 50 Jahre alt. Auf der anderen Seite findet sich an knapp 20 Prozent aller Schulen (über alle Schulformen) keine einzige Lehrkraft ab 60 Jahren.

Abbildung 1: Altersverteilung an den Thüringer Schulen (Schuljahr 2019/20)


Quelle: Datenlieferung des Thüringer Bildungsministeriums

Diese Daten, die in ähnlicher (etwas abgeschwächter) Form auch in anderen Bundesländern zu finden wären, weisen darauf hin, dass einige Schulen in Bezug auf die Risikogruppen kaum vor Probleme gestellt sind. Auf der anderen Seite gibt es Schulen, in denen ein Präsenzregelunterricht unter Rücksichtnahme auf die Risikogruppen kaum möglich erscheint. Wie kann man hier einen personellen Ausgleich schaffen? An dieser Stelle soll nicht auf mögliche Handlungsalternativen eingegangen werden. Dieser Beitrag soll nur auf dieses Problem hinweisen, das von Bildungsministerien und Schulämtern bearbeitet werden muss. Bisher ergibt sich eher der subjektive Eindruck, dass Schulen mit diesem Problem weitgehend alleingelassen werden, weil sie in vielen Fällen schulspezifische Konzepte zur Regelbetreuung erarbeiten sollen. An einer Schule mit 30 bis 50 Prozent Lehrkräften, die zur Risikogruppe gehören, kann dies kaum realisiert werden.

2.2Schulbau und Corona

Schon vor Corona gab es einen wahrgenommenen Investitionsrückstand bei Schulen (inkl. Erwachsenenbildung) von 42,8 Milliarden Euro (Kfw Research 2019). Besonders hohe Kosten im Schulbau ergeben sich aktuell für die größeren deutschen Städte und hierbei für die ostdeutschen Großstädte. Wie man in Abbildung 2 erkennt, sind die Schülerinnen- und Schülerzahlen in allen dargestellten Großstädten von 2005 bis 2018 teilweise sehr stark angestiegen. In München und Berlin um 20 Prozent, in Frankfurt am Main um knapp 30 Prozent. In den ostdeutschen Großstädten Erfurt, Magdeburg und Rostock gar um rund 45 Prozent und in Dresden, Leipzig und Potsdam sogar um 70 bis gut 80 Prozent. Dass sich der Anstieg in den ostdeutschen Städten derart entwickelt hat, hängt auch mit dem historisch einmaligen Bevölkerungseinbruch nach der Wende zusammen. Infolge der Wende schlossen zwischen 1995 und 2006 beispielsweise in Leipzig 23 Prozent aller Grundschulen und 44 Prozent aller Gymnasien. In Rostock schlossen 40 Prozent der Grundschulen, 33 Prozent der Gymnasien und in Erfurt 27 Prozent der Grundschulen sowie 23 Prozent der Gymnasien (Stba 2020, eigene Berechnungen). Mittlerweile sind die Kapazitäten im Zuge der wieder stark gestiegenen Schülerzahlen aber weitestgehend erschöpft. Auch in den nächsten 15 Jahren wird es gerade in den oben genannten Städten zu einem weiteren Bevölkerungswachstum kommen (Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2019). Die daraus resultierenden Kapazitätsprobleme finden sich in den Schulentwicklungsplänen in vielen deutschen Großstädten wieder, wie beispielsweise in Berlin, Frankfurt am Main, Dresden, Bremen, Leipzig, Erfurt und Köln. Folgerichtig wird in den Schulentwicklungsplänen dieser Städte stark auf Schulneubauten und Schulerweiterungsbauten gesetzt, die zu großen Teilen aus den kommunalen Haushalten finanziert werden müssen. Inwieweit diese Pläne im Zuge des Einbruchs der Kommunalfinanzen möglich sein werden, ist zumindest fraglich. Ein aktuelles Beispiel aus Erfurt zeigt, dass die Stadt geplante Investitionen auf den Prüfstand stellen muss. Denn das Thüringer Landesverwaltungsamt gewährte der Stadt nur die Hälfte der Kreditneuaufnahme, die aus Sicht der Stadt für die nächsten vier Jahre nötig gewesen wäre.4 Dieses Beispiel steht mit Sicherheit stellvertretend für die finanzielle Lage in einigen Städten. Ob die Schulbauten wie geplant kurz- und mittelfristig umgesetzt werden können, ist im Hinblick auf die aktuelle Finanzsituation zumindest fraglich. Wo aber dann hin mit den Schülerinnen und Schülern? Im ungünstigsten Fall könnten reformpädagogische Konzepte zurückgedreht werden müssen, die einen deutlich höheren Raumbedarf aufweisen (z. B. Lernhausmodelle) (Nikolai et al. 2019) als etwa der Frontalunterricht. So könnte die Corona-Krise in einigen Schulen sogar zu einer pädagogischen Rolle rückwärts führen.

Abbildung 2: Anstieg der Bevölkerung im schulpflichtigen Alter (6 bis unter 15 Jahren) in ausgewählten Großstädten von 2005 bis 2018 in Prozent


Quelle: Stba (2020, eigene Berechnungen)

3Fazit

Der vorliegende Beitrag hat versucht, einige Punkte zu diskutieren, die sich im Zuge der Corona-Krise an Schulen verändern könnten. Dabei sollte klar geworden sein, dass es in der Folge von Corona mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Anstieg sozialer Ungleichheiten kommen wird. Dies betrifft nicht nur die Lernleistungen der Kinder im Homeschooling, sondern auch gesundheitliche Ungleichheiten, die sich z. B. aus einem sozial ungleichen Ernährungsverhalten ergeben. Das Ausmaß des Anstiegs sozialer Ungleichheiten wird dabei stark davon abhängen, wie lange kein Regelunterricht an unseren Schulen möglich sein wird. Gerade der Aspekt der Ernährung zeigt die Bedeutung einer Mittagsversorgung auf. Unterricht am Vormittag, bei dem alle Kinder und Jugendliche vor dem Mittagessen wieder nach Hause gehen müssen, ist dementsprechend zu vermeiden. Auf der anderen Seite gilt es weiterhin, Risikogruppen (z. B. ältere Lehrkräfte) zu schützen. Hier ergibt sich ein ethisches Dilemma im folgenden Spannungsfeld: Kindeswohlschutz auf der einen, die gesundheitliche Unversehrtheit von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite. Dieses Dilemma ist in der öffentlichen Debatte bisher weitgehend ungelöst. Gar nicht in die öffentliche Debatte hat es die Tatsache geschafft, dass es an einigen Schulen eine sehr hohe Anzahl von Lehrkräften gibt, die zur Risikogruppe gehören, während sie an anderen Schulen kaum zu finden sind. Wie mit dieser Ungleichverteilung umzugehen ist, muss Einzug in die Debatte finden. Einzelschulen können hiermit nicht alleingelassen werden, weil sie dieses Problem kaum allein lösen können. Ein weiteres organisatorisches Problem für Schulen ergibt sich gerade in den größeren deutschen Städten, wo es eine drängende kommunalpolitische Aufgabe ist, genügend Schulplätze vorzuhalten. Durch die Belastung der Kommunalfinanzen durch die Corona-Krise könnte es hierbei zu mittel- und langfristigen Finanzierungsproblemen kommen, die sogar Einfluss auf die Pädagogik an Schulen haben könnte.

Literatur

Baumert, Jürgen, Petra Stanat und Rainer Watermann (2006). Schulstruktur und die Entstehung differenzieller Lern- und Entwicklungsmilieus. S. 95–188 in: Baumert, Jürgen, Petra Stanat und Rainer Watermann (Hg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2019). Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig Deutschlands Regionen sind. Berlin. Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Downey, Douglas, und Dennis Condron (2016). Fifty Years since the Coleman Report: Rethinking the Relationship between Schools and Inequality. Sociology of Education 89: S. 207–220.

Helbig, Marcel und Stefanie Jähnen (2018). Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. WZB-Discussion Paper P 2018-001. Berlin. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Helbig, Marcel und Stefanie Jähnen (2019). Wo findet «Integration» statt? Die sozialräumliche Verteilung von Zuwanderern in den deutschen Städten zwischen 2014 und 2017. WZB Discussion Paper P 2019-003. Berlin. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Helbig, Marcel und Rita Nikolai (2019). Bekommen die «schwierigsten» Schulen die besten Lehrer? Eine explorative Studie über den Zusammenhang von Schulqualität und sozialer Zusammensetzung von Schulen am Beispiel Berlins. WZB Discussion Paper P 2019-002.

KfW Research (2019). KfW-Kommunalpanel 2019. Frankfurt a. M. KfW Bankengruppe.

Kuntz, Benjamin, Julia Waldhauer, Johannes Zeiher, Jonas D. Finger und Thomas Lampert (2018). Soziale Unterschiede im Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2. Journal of Health Monitoring 3: S. 45–63.

Nikolai, Rita, Marcel Helbig und Heiko Wulschner (2019). Die vernachlässigte Rolle von »Beton« bei der Umsetzung von Schulreformen. S. 582–593 in: Berkemeyer, Nils, Wilfried Bos und Björn Hermstein (Hg.), Schulreform. Zugänge, Gegenstände, Trends. Weinheim/Basel: Beltz.

RKI (2015). Gesund aufwachsen – Welche Bedeutung kommt dem sozialen Status zu? Zahlen und Trends aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Robert Koch Institut. 1/2015.

StBa (2020). Genesis Online – Regionaldatenbank. Statistisches Bundesamt.

Stiftung Lesen (2019). Vorlesen: Mehr als Vor-Lesen. Vorlesestudie 2019 – Vorlesepraxis durch sprachanregende Aktivitäten in Familien vorbereiten und unterstützen. Stiftung Lesen.

Der Autor

Marcel Helbig ist Professor für Bildung und Soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt und Senior Researcher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit sozialen Ungleichheiten und Geschlechterungleichheiten im Schulsystem. Er promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Wandel geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs in Deutschland. Darüber hinaus forscht er zur deutschen Schulpolitik in einer bundesländervergleichenden Perspektive und Fragen der sozialräumlichen Ungleichheit in Städten und Schulen.

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