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Geht es noch schlimmer?

Im Januar 2011 war ich dann zur Gastroskopie im Krankenhaus. Seit etwa drei Monaten litt ich unter Magensäurereflux. Wenn ich aß, hatte ich das Gefühl, dass das Essen stecken blieb und nicht richtig nach unten rutschte. Bei dieser Gastroskopie war zu sehen, dass ein beginnender Tumor am Übergang zwischen Speiseröhre und Magen saß. Dadurch konnte die Nahrung tatsächlich nicht weitertransportiert werden und blieb auf dem Weg zum Magen stecken. Das war ein weiterer, schwerwiegender körperlicher, geistiger und emotionaler Anschlag auf mein System. Das dünne Eis unter meinen Füßen brach und ich war am Ertrinken.

Ich war ganz allein, als ich die endgültige Diagnose bekam. Der Mann, in dessen Haus ich gezogen war, ließ sich buchstäblich nirgends blicken. Er hielt sich in Südamerika auf. Wir hatten im Grunde schon lange Zeit nebeneinander hergelebt und ich hatte mich in dieser Beziehung im Laufe der Zeit immer einsamer gefühlt. Allein gelassen begann ich die Chemotherapie und überlegte, ihn zu verlassen.

2011, an einem Februarmorgen, fand ich mich im Haus des Mannes, zu dem ich gezogen war, auf dem Fußboden wieder. Mein Herz raste, ich schwitzte und aus meinen Muskeln schien alle Energie zu entweichen. Ich fing unkontrolliert an zu weinen, kroch über den Boden und stöhnte voller Verzweiflung. Ich ging auf die Knie und begann zu beten.

In diesem Jahr würde ich 50 Jahre alt werden: Wollte ich mit meinem Leben, meinen Kindern und meiner Gesundheit so weitermachen? Ich betete um eine Lösung. Wenn sie käme, würde ich den Rest meines Lebens dankbar sein und jeden Tag genießen. Ich bat um Führung und Unterstützung. Wie konnte ich die Abwärtsspirale wenden? Dieser Augenblick der Verzweiflung wurde zum Wendepunkt in meinem Leben.

Als erstes beschloss ich, mit den konventionellen Behandlungen aufzuhören. Ich bekam eine Diagnose nach der anderen, aber keine Lösungen. Niemand betrachtete das größere Bild. Alle blieben bei ihrem Fachgebiet und inzwischen war ich Patientin bei einem Internisten, einem Neurologen, einem Dermatologen, einem Arzt für Mundheilkunde und einem Psychiater. Sie verteilten alle reichlich Medikamente, aber im Grunde fühlte ich mich von keinem von ihnen verstanden, ja, nicht einmal gesehen oder gehört. Ich teilte meine Entscheidung, die Medikamente abzusetzen, den Ärzten bewusst nicht mit, sondern ging einfach nicht mehr hin. Mein Hausarzt nannte mich naiv. Übrigens hat mich weder einer der Spezialisten noch eine Krankenhausabteilung je danach angerufen oder Fragen gestellt. Dieser bewusste Augenblick im Februar 2011, am Boden, betend und um Hilfe flehend, gab mir die Kraft, neue Entscheidungen zu treffen. Ich begann meine Suche nach einer eigenen Wohnung und nach alternativen Behandlungsmethoden.

Zwei Monate, nachdem ich für mich beschlossen hatte, dass es so nicht weitergehen konnte und sich etwas ändern musste, ging ich auf Einladung einer Freundin und Kollegin zu einem Vortrag von Joe Dispenza. Seine Herangehensweise an Heilung sprach mein Psychologengehirn direkt an, vor allem, weil er theoretisches Wissen (das Warum) mit einem praktischen Ansatz (das Was und das Wie) kombinierte. Meine Neugier wurde vor allem durch seine Aussage geweckt, dass wir uns in einer Zeit von Schmerz und Leid verändern können, aber auch in Zeiten von Inspiration und Freude. In unserem Leben gehe es um Veränderung, erklärte er, und um in unserem privaten und beruflichen Leben zu überleben und aufzublühen, müssten wir uns immer wieder an neue Situationen anpassen.

Das war leichter gesagt als getan. Weil ich mich von dieser positiven, praktischen Vision sehr angezogen fühlte, begann ich sofort eine intensive Selbsterforschung. Außerdem suchte ich nach weiteren Quellen für diesen Ansatz. In dieser Zeit hatte ich ständig Schmerzen und steckte in meinem Leid fest, war gefangen in meinem Trauma. Ich war am Ende und sah keinen Ausweg. Wenn ich mit jemandem darüber sprach – sei es mit Laien oder Fachleuten – bekam ich meist die Bestätigung, dass mein Leiden eine normale Reaktion auf all das wäre, was ich erlebt hatte.

Joe Dispenza sagte etwas anderes. An diesem ersten Abend nahm ich von seinem Vortrag mit, dass sich meine Persönlichkeit aus dem zusammensetzt, wie ich denke, wie ich handle und wie ich fühle, und dass ich dadurch meine persönliche Wirklichkeit erschaffe … Was hatte ich also durch meine Art zu denken, zu handeln und zu fühlen damals selbst geschaffen? Wie hatte ich das in meinem Körper emotional konditioniert und welche Programme ließ ich daher ablaufen? Wer ich heute bin, ist das Ergebnis meines früheren und heutigen Denkens, Handelns und Fühlens.

Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass zu den Veränderungen meiner persönlichen Realität auch Veränderungen im Herzen und im Gehirn gehörten und dass diese beiden Organe großen Einfluss auf meinen Körper hatten. Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass die Auswirkungen des selbst gewählten Todes meines Mannes sich mit einem Trauma aus meiner Jugend verbunden hatten. ›Sekundäre Traumatisierung‹ nennt man das in Fachkreisen.

Im Juni 2011 beendete ich meine negative Beziehung endgültig, fand eine Wohnung für mich und meine Kinder und ging meinen eigenen Weg. Im Rückblick kann ich sagen, dass damals mein Herz-Gehirn-Heilungsprozess begann.

2. Überleben und das Gehirn

Inzwischen bin ich nicht mehr im Trauma gefangen

und stecke nicht mehr im Überlebensmodus fest.

Die schmerzhafteren Verluste in meinem Leben sind zur wertvollen Etappe eines besonderen Weges geworden.

Sie haben mich gelehrt, den Sinn meines Lebens zu finden und meine Traumata, meinen Schmerz,

meine Wunden zu heilen.

Für mich ist das die Bestätigung dafür, dass emotionaler Schmerz eine wichtige Informationsquelle ist,

mit der wir aufgeklärter und menschlicher umgehen

können, als die meisten von uns bisher gelernt haben.

Um dies in der Praxis umzusetzen, muss zuerst

das Unbewusste bewusst werden. Wenn wir in den ersten Lebensjahren unangenehme Dinge erlebt haben,

ist das schwieriger.

Inzwischen bin ich davon überzeugt,

dass auch frühkindliche Traumatisierung

im Hier und Jetzt geheilt werden kann.

Als acht Monate altes Baby lag ich mit einer Typhusinfektion todkrank im Krankenhaus. Fünf Monate war ich dort isoliert. Was geschieht in dieser Situation mit einem so kleinen Kind? Diese Frage habe ich mir erst 2011 gestellt.

Was geschieht mit dir, als Kind von acht Monaten, wenn deine Eltern dich nur hinter Glas sehen, dich nicht berühren dürfen? Wenn du ganz allein medizinische Eingriffe über dich ergehen lassen musst? Wenn du nur von medizinischem Personal berührt wirst?

Vor über 50 Jahren war diese Praxis noch völlig normal. Niemand beachtete damals die Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung eines Kindes. Die Entwicklungspsychologie steckte noch in den Kinderschuhen. Es fehlte an der Erkenntnis, dass für die Entwicklung eines Kindes das Erleben von Vertrauen und Sicherheit im ersten Lebensjahr entscheidend ist. Von psychischem Trauma war keine Rede, schon gar nicht von einer (chronischen) Stressreaktion.

Die Ärzte sagten meiner Mutter, dass ich mich später an nichts mehr erinnern würde! Babys denken schließlich nicht nach und haben keine bewusste Erinnerung an Schmerzen. Das wurde damals zwar behauptet, aber heute wissen wir, dass durch frühe Erfahrungen wie diese das Nervensystem anders ausgerichtet wird. Das Baby, das ich vorher war, existierte nach diesem Krankenhausaufenthalt nicht mehr. Alle Erfahrungen und Erinnerungen an diesen Zeitraum sind allerdings erhalten geblieben: in meinem limbischen Gehirn – dem wortlosen Teil –, in meinem Herzen und in meinem Körper.

Trotz der Erkenntnisse, die ich im Lauf meines Lebens über mein erstes Lebensjahr gewann, merkte ich nach dem Verlust meines zweiten Mannes, dass mein rationales Gehirn nicht in der Lage war, meine Emotionen und meine chaotischen Gedanken anzuhalten. Die Essenz dessen, was mit mir los war, konnte ich nicht in Worte fassen. Es schien, als ob ich in einer Wirklichkeit lebte, die nicht zum tatsächlichen, alltäglichen Leben passte. Ich entfremdete mich von mir und meiner Umgebung. Es schien, als ob ich ›irgendwo‹ feststeckte und nicht wusste, wie ich ›dort‹ wieder wegkonnte. Dieser Zustand verzehrte viel Energie und das ging auf Kosten meines täglichen Lebens.

Im Nachhinein weiß ich, dass das Alarmsystem, das ich in meinem ersten Lebensjahr angelegt hatte, weiterhin scharfgeschaltet war und ich es nicht einfach ausschalten konnte. Es gelang mir nicht, mich in Sicherheit zu bringen. Die Situation war vor langer Zeit entstanden. Das Unterbewusste wurde jetzt bewusst.

Die wichtigste Aufgabe des Gehirns besteht darin, für unser Überleben zu sorgen. Unser Gehirn besteht aus einem komplexen Netzwerk miteinander verbundener Teile, die uns helfen zu überleben und zu wachsen. Sie sind so programmiert, dass sie hervorragend zusammenarbeiten. Traumatischer Stress kann jeden dieser Teile beeinflussen und dazu führen, dass Emotionen das rational denkende Gehirn vollkommen übernehmen. Wir können dann zwar rufen: »Jetzt sei doch mal normal!«, aber das funktioniert nicht. Im Gegenteil, das Alarmsystem schaltet dann eher noch einen Gang höher. Das ist vergleichbar mit einem Autofahrer, der seinen Sicherheitsgurt nicht angelegt hat und trotz ohrenbetäubendem Warnsignal einfach weiterfährt, ohne sich anzuschnallen.

Es gibt drei Arten von Stress, die den Körper aus dem Gleichgewicht bringen können.

1 Körperlicher Stress: Unfälle, Verletzungen, Zerrungen, Stürze, Knochenbrüche, Erschöpfung, Schusswunden, Vergewaltigung, Misshandlung

2 Chemischer Stress: Verschmutzung, Viren und Bakterien, Gifte, Pestizide, Schwermetalle, Schadstoffe wie Asbest, Aspartam oder Hormone in der Nahrung

3 Emotionaler Stress: Verlust von Angehörigen, Gesundheit oder Arbeitsplatz, häusliche Gewalt, schlechte Beziehungen, kranke Kinder, Familientragödien, Vergewaltigung


Die Evolution hat uns Menschen ein besonderes Geschenk gemacht: ein Alarmsystem, das automatisch darauf programmiert ist, zu kämpfen, zu flüchten oder zu erstarren.

Die Nerven und chemischen Botenstoffe des Gehirns stehen in direkter Verbindung mit dem Körper. Um zu verstehen, wie das funktioniert, muss man wissen, dass das Gehirn aus drei Teilen besteht, die als großes Ganzes zusammenarbeiten. Man könnte sagen, das Gehirn funktioniert wie ein Orchester. Wir haben nicht drei separate, unabhängige Kontrollzentren (Neocortex, limbisches System, Kleinhirn), sondern ein fest miteinander verbundenes, voneinander abhängiges System.


Das primitive Gehirn (auch Reptiliengehirn oder Kleinhirn genannt) ist im evolutionären Sinn der älteste Teil. Es entwickelt sich im fötalen Stadium und ist schon bei der Geburt aktiv. Angesiedelt ist es im Hirnstamm, dicht über der Stelle, wo das Rückgrat beginnt und mit dem Schädel verbunden ist. Es versetzt das Baby in die Lage zu atmen, zu weinen, zu essen, zu schlafen und aufzuwachen, Kälte und Wärme wahrzunehmen, zu verdauen und auszuscheiden.

Dicht über dem Reptiliengehirn liegt der Hypothalamus. Beide zusammen nennt man das Kleinhirn und sie regeln das Energieniveau im Körper. Die Funktion von Herz und Lungen, das Hormonsystem und das Immunsystem werden durch diese Zusammenarbeit koordiniert. Gemeinsam sorgen sie für das Gleichgewicht in unserem Körper. Der medizinische Fachbegriff dafür heißt Homöostase. Alles, was von außen oder innen dieses Gleichgewicht stört, beeinflusst damit direkt dieses System.

Viele psychische Probleme sind mit körperlichen Beschwerden verbunden, die mit Schlafen, Essen und Berühren zusammenhängen. Dazu gehören zum Beispiel ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus, Schlaflosigkeit oder übermäßiger Schlaf, eine zu träge oder zu schnelle Verdauung, ein unveränderliches Hunger- oder Sättigungsgefühl, die Abwehr von körperlicher Berührung oder ein fehlendes Empfinden für Intimität oder Zärtlichkeit.


Das limbische Gehirn liegt direkt über dem Reptiliengehirn. Diesen Teil nennt man das Säugetiergehirn. Alle Wesen auf der Erde, die ihre Jungen säugen und versorgen und in Gruppen leben, haben dieses Gehirn.

Die Entwicklung des limbischen Gehirns beginnt bei der Geburt und setzt sich bis zum sechsten Lebensjahr fort. Danach entwickelt es sich auf eine Art und Weise, die wir ›gebrauchsabhängig‹ nennen können. Dieses Gehirn ist der Sitz der Emotionen und des Messinstruments, das Gefahren wahrnimmt, Erfahrungen als angenehm oder unangenehm einordnet und bestimmt, ob wir ängstlich oder nervös werden. Auch, wie wir mit unserer Umgebung umgehen, mit wichtigen Bezugspersonen und dem, was für unser Überleben wichtig ist, wird hier festgelegt.

Das limbische System bildet einen Teil der Persönlichkeit. Es wird auf der Basis von genetischer Veranlagung geformt, aber auch in Reaktion auf unsere Erlebnisse. Unsere Erfahrungen als Fötus, Baby und Kleinkind schaffen gemeinsam die Basis für unsere Wahrnehmung der Welt.


Wie funktioniert dieses limbische Gehirn? Bessel van der Kolk beschreibt in seinem Buch Verkörperter Schrecken: Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann2, dass Neuronen (Nervenzellen), die gemeinsam feuern, sich miteinander zu neuronalen Netzwerken verbinden. So entsteht ein Schaltkreis, ein Muster von Leitungen. Wenn dieser Kreislauf wiederholt aktiviert wird, wächst ein emotionales Reaktionsmuster, das zu unserer ›Standardeinstellung‹ wird. Es ist die Verdrahtung für unser Leben.

Seit meinem Krankenhausaufenthalt als Baby war meine Standardeinstellung Angst und Unsicherheit, und das machte aus mir später ein unsicheres, ängstliches Kind.

Um es konkreter auszudrücken: Wenn wir uns geliebt und sicher fühlen, entstehen neuronale Schaltkreise, die uns genau das empfinden lassen, und so entwickeln wir Neugier und Lerneifer. Fühlen wir uns dagegen ängstlich und allein, bilden sich Schaltkreise und Netzwerke, die uns ständig Gefühle von Angst und Einsamkeit verschaffen. Als Baby und Kleinkind lernen wir von der Welt um uns herum: Wir ahmen sie nach. Hier bilden sich die limbischen Strukturen heraus, die mit Emotionen und Gedächtnis zu tun haben. Diese Strukturen verändern sich während des ganzen Lebens infolge von – guten oder schlechten – einschneidenden Erlebnissen und Erfahrungen.

Unser emotionales Gehirn, das limbische System, liegt im Herzen des Nervensystems und hat die wichtige Aufgabe, für unser Wohlbefinden zu sorgen. Wenn Gefahr droht, aber auch, wenn vielleicht die Liebe unseres Lebens vor uns steht, bilden wir in Bruchteilen von Sekunden Hormone. Diese Substanzen bringen uns dazu, wegzulaufen, anzugreifen oder zu erstarren, oder – im Fall der großen Liebe – sexuelle Erregung zu empfinden und dem anderen ganz nah sein zu wollen. Bis vor Kurzem wusste man nicht, dass diese Stoffe höchst süchtig machen können.

Wie bereits erwähnt, merkt sich der Körper alles, die negativen wie auch die positiven Erfahrungen. Die dabei entstehenden Hormone lösen innere Empfindungen aus und sorgen dafür, dass unsere Aufmerksamkeit sofort zur betreffenden Stelle gelenkt wird. Es gibt kein Entkommen. Körperlich und geistig können wir also von einem Augenblick zum anderen in eine komplett andere Richtung geschickt werden und völlig falsche oder auch wunderbar gute Entscheidungen treffen.

Das emotionale Gehirn zieht leider oft übereilte Schlüsse. Das liegt daran, dass die ankommenden Informationen undifferenziert beurteilt werden: Das vorprogrammierte Netzwerk aus Fliehen, Kämpfen oder Erstarren ist der einzige Weg aus der Situation. Diese automatischen, unbewusste Reaktionen unseres Körpers werden ohne Überlegung oder Planung aktiviert. Das limbische Gehirn arbeitet schneller als das rationale, kognitive Gehirn – der Neocortex –, der jüngste Teil in der Evolution des Menschen.


Der Neocortex ist unser ›Office Manager‹ und vor allem mit unserer Umwelt beschäftigt. Er will verstehen, wie die Dinge funktionieren, legt die Reihenfolge unserer Handlungen fest, weiß, wo wir hinmüssen und wie wir dorthin kommen.

Dieser Teil ist darauf programmiert, komplexe Handlungen auszuführen und zu beurteilen. Von unserem zweiten Lebensjahr an entwickeln sich die Stirnlappen, der präfrontale Cortex, die den größten Teil des Neocortex ausmachen. Erst nach dem 26. Lebensjahr sind sie voll entwickelt. Diese Stirnlappen unterscheiden uns vom Tierreich. Sie ermöglichen es uns, abstrakt zu denken, Sprache und Symbole zu verwenden, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu deuten, aber auch, Zusammenhänge herzustellen – dies macht unser Leben als Mensch so einzigartig. Neurowissenschaftler sprechen vom ›Sitz der Seele‹, oder auch vom ›Regisseur unseres Lebens‹. Die Stirnlappen versetzen uns in die Lage, uns ein Bild von der Zukunft zu machen, von dem aus wir die Wirklichkeit lenken und beeinflussen können. Sie sorgen für einen Überblick über unser Denken, Tun und Fühlen und dafür, dass wir uns ihrer bewusst sind und sie reflektieren können. Hier sitzen der Ursprung der Kreativität und auch die Empathiefähigkeit.

In den Stirnlappen befinden sich die Zellen, die unsere Spiegelneuronen bilden. Ein Spiegelneuron ist eine Nervenzelle, die das Verhalten, den Gemütszustand und die Absichten anderer Menschen wahrnimmt, speichert und bei Bedarf wiedergibt oder imitiert. Gut funktionierende Stirnlappen sind daher entscheidend, wenn wir intime und harmonische Beziehungen führen wollen.


Bei einer traumatischen Erfahrung wird der Stirnlappen, der präfrontale Cortex, als Reaktion auf eine Gefahr ausgeschaltet. Dadurch verliert er die Fähigkeit, relevante Informationen von irrelevanten zu unterscheiden. Je stärker das emotionale Gehirn reagiert, desto schwerer fällt es dem rationalen Gehirn, diesen Vorgang zu steuern. Das Gehirn ist ständig damit beschäftigt, eine angemessene Reaktion auf die Gefahr zu organisieren. Die fünf Sinne verschaffen ihm dabei die nötigen Informationen. Die Augen sehen, die Ohren hören, die Nase riecht, der Mund schmeckt, die Haut fühlt.

Diese Informationen gelangen über den Thalamus in das limbische System. Der Thalamus vermischt sie und gibt die Wahrnehmungen in zwei Richtungen weiter: an die Amygdala (die Alarmzentrale) tief im limbischen Gehirn und an den Stirnlappen. Der Weg zur Amygdala ist der schnellere, der Weg zum Stirnlappen dauert etwas länger.


Es geht dabei lediglich um einen Unterschied von Millisekunden, dennoch ist die Amygdala das erste Warnsystem. Ihre primäre Funktion besteht darin, festzustellen, ob eine Information Gefahr bedeutet oder nicht. Werden wir diese Situation überleben oder nicht? Nimmt die Amygdala eine drohende Gefahr wahr, sendet sie sofort ein Signal an den Hypothalamus und den Hirnstamm.

Das Stresshormonsystem und das autonome Nervensystem werden aufgefordert, körperliche Reaktionen in Gang zu setzen. Da die Amygdala die Informationen schneller verarbeitet als die Stirnlappen, trifft sie eine Entscheidung, bevor uns bewusst wird, was tatsächlich vorgeht. Es kann sogar sein, dass der Körper schon voll in Aktion ist, bevor wir richtig verstehen, was los ist. Die Signale der Amygdala sorgen für einen erhöhten Ausstoß der starken Stresshormone Cortisol und Adrenalin. Diese beeinflussen die Geschwindigkeit von Atmung und Herzschlag ebenso wie den Blutdruck. Dies geschieht zur Vorbereitung des Körpers auf Kampf oder Flucht.


Wenn sich zeigt, dass doch keine Gefahr besteht oder die Gefahr vorüber ist, kehrt der Körper schnell in seinen normalen Zustand zurück. Ist das nicht der Fall, arbeitet er in diesem Modus Operandi weiter, was sehr ermüdend und energieaufwendig ist. Letzten Endes kann der Körper dadurch ausbrennen. Das nennen wir dann Burnout.

Traumatische Ereignisse können unsere Fähigkeit, Gefahr und Sicherheit richtig einzuschätzen, schwer stören. Es kommt gewissermaßen zu einem Defekt im Überwachungssystem. Der Alarm schaltet sich zum falschen Zeitpunkt ein, meist viel zu früh. Das kann zu heiklen Situationen führen. So werden beispielsweise harmlose Ereignisse mächtig aufgeblasen, Scherze oder bestimmte Gesichtsausdrücke völlig falsch interpretiert, worauf Wutausbrüche und Weinkrämpfe folgen können. All das kann zu Isolation und Entfremdung führen. Stresshormone schaffen negative Emotionen, darunter Scham, Machtlosigkeit, Wut, Frustration, Unsicherheit, Schmerz, Hass, Trauer, Leid, Depression, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit.

Traumatische Erinnerungen werden anders gebildet und gespeichert als alltägliche Erinnerungen. Was geschieht eigentlich, wenn wir ein Trauma erleben und das Gehirn es nicht verarbeiten kann?

Einfach ausgedrückt, kann der Thalamus nicht alle Informationen annehmen und das Gehirn speichert nur einen Teil dessen, was geschehen ist. Traumatisierte Menschen erinnern sich meist nicht an das vollständige Erlebnis, sondern nur an spezifische Bilder, Geräusche und körperliche Empfindungen ohne Kontext. Bestimmte Gefühle wirken, durch die Funktion des impliziten Erinnerungssystems im Gehirn, als Trigger aus der Vergangenheit. Schließlich ist das Gehirn so verdrahtet, dass es anzeigt, was sicher und was gefährlich ist. In meinem impliziten Erinnerungssystem war die Verdrahtung auf Angst, Gefahr und Unsicherheit ausgerichtet.

Dieser Mechanismus kann zur Folge haben, dass ein bestimmter traumatischer Zwischenfall möglicherweise nicht als Geschichte, sondern als Sinneseindruck gespeichert wurde. Das kann ein bestimmter Geruch sein, ein Bild, ein Geräusch oder eine Berührung. Diese können alle plötzlich auftauchen und mit einem Schlag, vollkommen unerwartet und direkt den emotionalen Zustand aufrufen, der zu dem damit assoziierten traumatischen Vorfall gehört. Die so hervorgerufene Angst oder Unsicherheit liegt auf einer viel tieferen biologischen Ebene. So bringt der Geruch nach Krankenhaus – unser Riechorgan ist die kürzeste Verbindung zwischen dem Gehirn und der externen Welt – mich unmittelbar zurück zu meinem langwierigen Krankenhausaufenthalt als Baby.

Was bedeutet die Erkenntnis, dass eine traumatische Erinnerung ohne Zusammenhang codiert ist, für den Heilungsprozess? Wichtig ist hierbei, dass es bei posttraumatischem Stress nicht um die Vergangenheit geht, sondern vielmehr um einen Körper, der sich verhält und organisiert, als ob diese Erfahrung jetzt geschähe. Wenn ich mit Menschen arbeite, die traumatisiert sind, ist es für mich von entscheidender Bedeutung, dass sie lernen, wie ihr Körper heute reagiert. Die Vergangenheit ist nur so weit relevant, wie sie die heutigen Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Gedanken hervorruft. In der Schilderung der Vergangenheit wollen wir einfach loswerden, wie schlimm das Trauma war, oder erklären, warum wir bestimmte Verhaltensweisen zeigen. Das wahre Problem besteht darin, dass das Trauma uns verändert hat: Wir fühlen uns dadurch anders und erleben bestimmte Gefühle anders. Bei meiner Arbeit erforsche ich zusammen mit den Klienten, wie das Trauma bei ihnen gelagert ist.

Ich erinnere mich an einen besonderen Zwischenfall bei einem Aufenthalt in den Tropen, als ich 19 Jahre alt war. Wir wurden vor großen schwarzen Skorpionen gewarnt, die nachts gern in Blusenärmel oder Hosenbeine kriechen. Eine ängstlich programmierte Person wie ich hörte diese Information besonders deutlich. Wir saßen gemütlich auf dem Balkon, mir wurde kühl und ich ging im Dunkeln in unsere Hütte, um meinen Pullover anzuziehen. Erst schob ich den linken Arm in den Ärmel, dann folgte der rechte Arm und als ich den Pullover über den Kopf ziehen wollte, fühlte ich etwas Weiches. Einen Sekundenbruchteil später schrie ich laut auf. Ein Skorpion!! Ich schrie und schrie und konnte meinen Pullover nicht mehr ausziehen. In Panik sprang ich hin und her und versuchte so, meine Arme aus den Ärmeln zu befreien.

Meine Reisebegleiterin kam herein, schaltete das Licht ein und half mir aus dem Pullover. Dabei kam ein schwarzes Frotteehaarband zum Vorschein, das am Tag zuvor offensichtlich in dem Ärmel stecken geblieben war. Kein Skorpion war zu finden. Mein Körper hatte allerdings sofort reagiert, mit erhöhter Atemfrequenz und schnellerem Puls. Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich zitterte am ganzen Körper und hatte Schweißausbrüche. Klar denken war mir nicht möglich. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, ich blieb ängstlich und nervös. Erst am nächsten Tag flaute das Ganze ab. Meine Reisegefährtin gab mir die Rückmeldung, dass ich doch sehr übertrieben reagiert hätte. Sie fragte mich, ob ich da nicht etwas unternehmen müsste.

Im Rückblick auf diesen Vorfall weiß ich jetzt, dass wir nicht nur unbewusst reagieren, sondern auch, dass wir allein durch unser Denken eine Stressreaktion auslösen können. Der Gedanke an den möglicherweise vorhandenen Skorpion setzte meine Reaktion in Gang. Was danach geschah, hatte ich nicht mehr unter Kontrolle, ebenso wenig die Dauer der Stressreaktion. Wenn man den schlimmstmöglichen Fall antizipiert oder eine vergleichbare und daher einigermaßen vorhersagbare Erfahrung im Leben gemacht hat, an die man sofort zurückdenkt, übernimmt der Körper die Regie. In meinem Fall mit dem Skorpion war ich wieder einmal nicht in der Lage gewesen, meine Emotionen zu zügeln.

Übertragen auf die Arbeitsweise des Gehirns bedeutet dies: Die Amygdala funktionierte als Alarmsystem und der Stirnlappen als Kamera. Die Kamera überwachte die Situation und warf die rationale Frage auf, ob wirklich ein giftiger Skorpion in meinem Ärmel steckte und ich Gefahr lief, gebissen zu werden. Die Amygdala fragte sich das leider nicht. Bevor der Stirnlappen aber auch nur die Chance hatte, die Situation richtig zu beurteilen und einen Entschluss zu fassen, war mein Körper schon in höchster Alarmbereitschaft. Das ist das Unterbewusstsein in Aktion. Als ich im Nachhinein, auch dank der Hilfe meiner Freundin, keine Angst mehr spürte und erkannte, dass es sich um falschen Alarm gehandelt hatte, half der Stirnlappen, die Homöostase wieder herzustellen, und ich beruhigte mich nach und nach. Das ist ein Beispiel für das Unterbewusstsein in Aktion.

Wenn das Alarmsystem defekt ist, durch einen schwerwiegenden Verlust oder ein überwältigendes Erlebnis wie Vergewaltigung, Misshandlung, Vernachlässigung, einen schweren Unfall, Krieg, Krankheiten oder Verletzungen, dann sind wir unserem Reptiliengehirn und unserem limbischen Gehirn ausgeliefert. In dem Augenblick, in dem wir glauben, auch nur ein Anzeichen von Gefahr wahrzunehmen, wenn wir bestimmte Empfindungen spüren oder einen missbilligenden Gesichtsausdruck zu sehen glauben, geraten wir automatisch in den Kampf- oder Fluchtreflex. Die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren und Impulse zu beherrschen, wird dadurch ausgeschaltet. Die Emotionen übernehmen unkontrolliert die Regie und bestimmen unser Handeln, weil der Körper in derselben Realität lebt, in der das tatsächliche Ereignis damals stattgefunden hat. Hierauf gehe ich später im dritten Bereich ausführlicher ein.

Wenn meine Reisebegleiterin damals ebenso ängstlich gewesen wäre wie ich, hätten wir wahrscheinlich miteinander um die Wette geschrien. Weil sie so ruhig blieb, konnte ich den Zwischenfall besser und schneller verarbeiten. Ich habe allerdings auch Situationen erlebt, in denen ich andere mit in meine Ängste zog. Meist hatten sie selbst in der Vergangenheit eine vergleichbare unangenehme Erfahrung gemacht. Auf der Beziehungsebene ist dies eine Quelle von Problemen und Missverständnissen.

Emotionen sind wichtig, weil sie unseren Erfahrungen Bedeutung geben. Sie bilden das Fundament unseres Denkens. Unser rationales Gehirn, mit dem wir denken, und das limbische Gehirn, mit dem wir fühlen, erzeugen gemeinsam das Fundament unserer Persönlichkeit. Anschließend erschafft dann unsere Persönlichkeit unsere Realität. Wenn die beiden Gehirne miteinander im Gleichgewicht sind, spüren wir unseren inneren Kern und sind ruhig und entspannt, zufrieden mit unserer Persönlichkeit.

Wenn wir von Emotionen überflutet werden, wissen wir, dass ihr Ursprung in den Spannungen in den tieferen Gehirnschichten liegt, die unsere Wahrnehmung und das Bewusstsein steuern. Wenn das Alarmsystem im limbischen Gehirn ständig anschlägt und sich das für uns jedes Mal wie eine Gefahr anfühlt, dann haben die Versuche anderer Menschen, uns zur Einsicht zu bringen oder mit uns darüber zu sprechen, keine Chance. Der Empfang verläuft ausschließlich über das Fühlen und das Sammeln neuer Erfahrungen, denn der Körper ist zum Gehirn geworden

Mein Leben lang musste ich lernen, mit dieser emotionalen Struktur und den neuronalen Netzwerken umzugehen, mit meiner ›Verdrahtung‹ sozusagen. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wo meine Ängste herkamen, ebenso wenig, warum ich so überwachsam und angespannt war, warum ich kaum jemanden vertraute, warum mir Freundschaften schwerfielen und warum ich manchmal explodierte oder ungeduldig wurde. Mithilfe der Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften verstehe ich jetzt besser, wie das Gehirn auf traumatische Erfahrungen reagiert. Es ist ein Kampf, der größtenteils im Körper ausgetragen wird: in den Organen, den Muskeln und im Nervensystem.

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9783964420459
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