Читать книгу: «Tal der Herrlichkeiten», страница 2

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Die Rezeptionistin blickte ihn argwöhnisch an, als er statt des Namens eines Gastes nur eine auffällige Haartracht vorzuweisen hatte. Die Geschichte von der Schwester konnte er hier nicht auftischen, wenn er, als einer, der den Namen der eigenen Schwester nicht weiß, nicht noch mehr Misstrauen wecken wollte. Schließlich sagte er, aber es fiel ihm ein bisschen zu spät ein, um glaubhaft zu wirken, er habe von Weitem gesehen, wie der Frau etwas aus der Tasche gefallen sei, sie sei aber schon verschwunden gewesen, als er das Fundstück aufgehoben habe, und so habe er auf gut Glück in den paar Hotels vor Ort nach ihr fragen wollen. Es handele sich um ein privates Dokument, das er ihr lieber persönlich aushändigen wolle.

Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen, sagte die Rezeptionistin schließlich widerwillig. Die Dame ist nicht in ihrem Zimmer. Lassen Sie mir doch Ihren Namen und Ihre Telefonnummer da, damit sie Sie erreichen kann.

Nicht nötig, sagte Sperber, ich komme wieder vorbei.

Auf keinen Fall wollte er der Unbekannten einen derartigen Vorteil über sich verschaffen, und auf die Schnelle fiel ihm keine bessere Antwort ein, obwohl seine Weigerung, Auskunft über sich zu geben, den Argwohn der Rezeptionistin unweigerlich verstärken würde.

Er stellte sich an die linke Ecke des Gebäudes, in die Nähe des Hotelparkplatzes, von wo er die Straße und den Eingang im Blick hatte, ohne von der Rezeption aus gesehen zu werden. Das Hotel lag außerhalb des Ortes, über dem Meer; es gab keine Passanten, denen er hätte auffallen können. Er würde so lange hier stehen bleiben, bis die verrückte Blonde auftauchte, und sollte es bis Mitternacht dauern.

Zur Mittagessenszeit war der Verkehr spärlich. Sperber fing an, sich sanft hin- und herzuwiegen: Jedes Mal, wenn ein Auto von rechts nach links an ihm vorbeifuhr, verlagerte er sein Gewicht auf das linke Bein; fuhr eines in die Gegenrichtung, wurde das rechte Bein wieder belastet. Durch ein gekipptes Kellerfenster drang das Crescendo einer Waschmaschine im Schleudergang, das als tiefes Summen begann und sich in immer höhere Lagen hinaufwand, um in einem stetig spitzer werdenden, dem Fiepen eines Wasserkessels ähnelnden Pfeifton zu enden. Es war Sperber, als müsste ihm unter dem wachsenden Druck in den nächsten Sekunden der Kopf abspringen. Dann ein Klicken, die Schleuder rollte aus, blieb stehen. Eine gelbgrau gescheckte Katze lief über die Straße, lässig und graziös, die Spielzeugausgabe eines Raubtieres. Ob die Frau mit dem Goldkranz ihn womöglich kannte? Müsste er sie also auch kennen? Vielleicht hatte sie eine Wette abgeschlossen: Was bekomme ich, wenn ich den ersten Mann küsse, dem ich heute begegne? Oder war es Aberglaube, und sie wollte etwas damit erreichen, etwa: Wenn ich heute den Erstbesten küsse, wird mein Vater (mein Geliebter, meine Tochter) wieder gesund?

Ein Rennradfahrer raste blindlings in einen »liegenden Gendarmen«, in eine jener Straßenschwellen, die zum Langsamfahren zwingen sollen, und wäre dabei fast aus dem Gleichgewicht gekommen.

Die Sonne stand noch nicht sehr tief, denn es ging auf die längsten Tage des Jahres zu, der Hotelparkplatz füllte sich schon nach und nach wieder, die Anreisenden trafen ein und die Ausflügler kehrten zurück, Autotüren wurden zugeschlagen, Rollkoffer vorbeigezogen, als er sie von Weitem kommen sah: eine Stecknadel mit goldenem Kopf, die sich über die um ihn her ausgebreitete Landkarte, die er so ausführlich studiert hatte in den letzten Stunden, langsam auf ihn zubewegte. Sie ging die Straße lang, die vom Ort her kam und erst eine Weile der Flussmündung folgte, bevor sie in einer weiten Biegung zu dem Hotel anstieg, das am offenen Meer oberhalb des Strandes lag.

Er hatte im Laufe des Nachmittags, ohne sich auf eine Variante zu fixieren, mehrere Möglichkeiten erwogen, wie der Frau zu begegnen wäre, ein ganzes Spektrum von Anreden war ihm durch den Kopf gegangen, die von der Beschimpfung bis zur Liebesbekundung reichten. Er zwang sich, den Kopf abzuwenden und eine Weile in eine andere Richtung, die Straße hinauf, zu sehen, wo zwei junge Männer sich mühselig aus ihren Neoprenanzügen schälten, eine Häutung, die wie bei der Zikade mit dem Rücken begann, allerdings mithilfe eines Reißverschlusses, an dem ein langes Band befestigt war, und die am Ende zwei dunkle Schwarten auf dem Boden zurückließ.

Beim nächsten Hinschauen hatte der Kopf schon ein Gesicht. Aber wie oft er auch später versuchen sollte, die Züge dieses Gesichts für sich wiederaufzurufen und zu beschreiben, nie sollte er die Teile, aus denen es sich zusammensetzte, einzeln zu fassen bekommen, sie fügten sich ein in »das Gesicht«, wie er es fortan vor sich sehen konnte, und dieses Gesicht war anmutig und streng, ungeschliffen und zart, es war äußerste Fremde und äußerste Vertrautheit in einem. Und nie sollte er es anders sehen als umgeben von dem breiten Lichthof des Haares.

Ihr Schritt wurde nicht langsamer, je näher sie kam, doch hatte sie ihn zweifellos gesehen, ja sie schaute ihn an. Er blieb an der Hausecke stehen, fast reglos, leise schwankend, nicht viel anders, als er die vergangenen Stunden über gestanden hatte. Mit ihren leichtfüßigen Schritten ging sie zielstrebig, aber ohne Eile auf den Hoteleingang zu, um, beinahe auf seiner Höhe angelangt, jäh innezuhalten. Eine Minute verging, oder eine halbe Stunde, ein Jahr? Kein Kind schrie, kein Auto fuhr, keine Glocken schlugen, die Brandung selbst hatte ausgesetzt, das Meer hatte aufgehört zu atmen. Dann, wie ein Reh, das einen Moment lang aufgehorcht und keine akute Gefahr gewittert hat, nahm sie ihren gleichmäßigen Gang wieder auf und verschwand in der Hoteltür.

5

Woher kam der Gesang? An dem offenen Fenster, wo Sperber stand und in den dämmerigen, feuchten Himmel schaute, war fern, fern eine Stimme zu hören oder fast nicht zu hören, hell wie die eines Sängerknaben, ein Engelszirpen, von dem er, als es nicht aufhören wollte, sich fragte, ob es nicht seinen eigenen Ohren entsprang. Fledermäuse tanzten durch die Luft, in jenem chaotischen Hierhin und Dorthin, das so wenig gemein hat mit dem Flug gleich welchen Vogels. Das Fledermausfliegen war ein spielerisches Taumeln, unkoordiniert war es, aber nur zum Schein, und von einer nicht zu lindernden Unruhe, ein Durch-den-Himmel-Jagen wie in Todesangst, auf der Flucht vor einem unsichtbaren Verfolger, eine Anspannung aller Kräfte, ohne Pause, die ganze Zeit. Spitz waren die schwarzen Schlenker und Kehrtwendungen, hineingekratzt in das weiche, unscharfe Licht der Dämmerung. Wenn sie dicht an seinem Fenster vorüberflogen, hörte Sperber ihre Flügel leise und hektisch aneinanderschlagen. Und einen Augenblick lang schien es ihm, als wollten ihn die Fledermäuse verhöhnen. Sie gaben sich als Trinker aus, täuschten vor, und das tagtäglich und zu fester Stunde, sternhagelvoll durch den Himmel zu torkeln.

Sperber war betrunken. Er war entschlossen, keine Begegnung mit der goldumkränzten Frau mehr zu suchen, sie nicht weiter zu verfolgen, ja, nicht mehr an sie zu denken.

Er hatte noch Durst, aber nichts mehr zu trinken. Als er die Außentreppe hinunterstieg, um eine offene Bar zu finden, strich ihm eine letzte kleine Fledermaus wie zum Abschied beinahe übers Haar, so dicht flog sie über ihn hinweg.

War er nicht einer, wie es viele gab? Er begegnete ihnen ja auf seinen täglichen Gängen, jenen noch nicht alten Männern, die ihre Arbeit verloren hatten und keine neue mehr fanden, die mit einer kleinen Rente oder einem staatlichen Almosen durch die Tage und die restlichen Jahre kamen. Ihre Frauen waren irgendwann aus ihrem Leben verschwunden; spätestens danach hatten sie zu trinken angefangen. Er sah sie durch die Stadt laufen in ihren ausgeblichenen, selbst gebügelten Hemden, den Glücklicheren unter ihnen, zu denen Sperber gehörte, war noch kein Vorderzahn ausgefallen. Und nun sollte er also auserwählt worden sein? Sollte statt eines Goldzahnes eine goldene Fee bekommen?

Wütend kämpfte er gegen seine Gedanken an, wollte ihnen seinen Willen aufzwingen, aber wie sich nach einem Wortgefecht die eigenen Behauptungen und die Erwiderungen des anderen noch einmal abspulen, durchlebte er alle Einzelheiten seiner zwei stummen Begegnungen mit der blonden Frau wieder und wieder. Die Nacht war mild und diesig, er war hellwach.

In der seiner Wohnung am nächsten gelegenen Bar, L’Escale, bestellte er am Tresen einen Calvados. Ein dicklicher Halbwüchsiger, der neben ihm vor einem Glas Bier stand und auf den Bildschirm unter der Decke blickte, zeigte Sperber sein von eitrigen Pusteln überzogenes Profil und ein fleischiges, unter gelverschmiertem Haar hervorschauendes Ohr. Als der Junge sich einer Gruppe von Gleichaltrigen zuwandte, sah Sperber auf dem Rücken seines schwarzen T-Shirts eine nackte Frau, die in einer lasziven Striptease-Pose ihr Kreuz durchdrückte, die Brüste nach vorne, den Hintern zurückschiebend, als wären es zwei verfeindete Paare, zwischen die es gelte, den größtmöglichen Abstand zu bringen. Unter der nackten Silhouette stand in weißer Schrift zu lesen: I only sleep with the best.

Der Alkohol brannte sich durch Sperbers Hals und Brust. Auf dem Bildschirm bewegte der Reporter stumm die Lippen, neben sich weinende Menschen und zerbombte Häuser. Sperber bestellte noch einen Calvados und verfiel in einen seiner qualvollsten Ticks, den es ihm sonst meistens zu verscheuchen gelang: das Zählen seiner Atemzüge.

Als er aufwachte, im Dunkeln, lag sie neben ihm. Wie war sie hereingekommen? Hatte er die Tür nicht abgeschlossen, als er im Rausch heimgekehrt war? Oder hatte er sie gar in der Bar getroffen und mitgenommen?

Er spürte die Wärme, die sie abstrahlte, tastete vorsichtig nach der zackigen Form unter dem Laken, die, von ihm abgewandt, auf der Seite ruhte. Wo ihr Haar liegen musste, fühlte er eine weiche, nach frischem Harz riechende, warme Masse, ein Nest, in das er sein Gesicht versinken lassen wollte. Und während er mit schwerem Kopf ihrem gleichmäßigen, von ihrer völligen Gemütsruhe zeugenden Atem lauschte, überkam ihn wieder seine gestrige Wut und die Gewissheit, dass die blonde Fremde ihn zum Narren hielt, und mit dem Zorn ergriff ihn eine namenlose Begierde, die Begierde aller einsamen Nächte, die er in diesem Zimmer verbracht hatte. Als müsse er sich an ihr, die sich ihm ausgeliefert hatte, nicht nur für alle je erlittenen, sondern auch für alle je von ihm beigebrachten Demütigungen, für seine eigenen Verfehlungen und Torheiten und für seine Bitterkeit rächen, fiel er über die Liegende her.

Schnell war sie herausgerissen aus dem bewusstlosen Gleichmut, der ihn so in Rage gebracht hatte, und wieder bei Sinnen. Sie wehrte sich, stemmte sich gegen ihn mit allen Kräften, aber außer einem erstickten Kampfgeräusch, einem Ächzen vor Anstrengung, kam kein Laut über ihre Lippen. Sie war nicht stark genug, oder war sein Ingrimm größer als ihrer? Wenige Augenblicke später war alles vorbei.

Taub und zerschunden lagen sie nebeneinander, ein kleines, gekrümmtes, zur Festung gerundetes Gebilde und ein Gekreuzigter mit dröhnendem Schädel und klopfenden Lidern.

Als er wieder aufwachte, schien sie sich nicht einen Millimeter bewegt zu haben. An den Fensterläden, die niemand zugeklappt hatte, rüttelte der Wind; auf den verstreuten Kleiderarchipel am Boden fielen einzelne, kräftige Sonnenstrahlen. Und noch bevor Sperber sich vollständig aus dem zähen Morast des Schlafes befreit hatte, nahm er die dunkelrote Haarmasse in sein Bewusstsein auf, die sich neben seinem Kopf wie ein Blutfleck ausbreitete.

Langsam griff er hinein in das sonnenwarme Schlangennest, ließ die roten Locken durch seine Finger fließen. Unter dem Laken begann die Festung sich zu regen und aufzulösen, ein nackter Oberkörper wurde sichtbar, richtete sich auf. Einen Moment lang blieb die Frau, Sperber ihren weißen, runden Rücken zuwendend, auf der Bettkante sitzen, dann stand sie auf, um ihre Kleider zusammenzusuchen; mit müden, kraftlosen Bewegungen stieg sie in ihre Hose, drehte den Pullover auf die richtige Seite. Nur einmal, bevor sie die Tür öffnete und leise, fast lautlos hinter sich zuzog, kam ihr Gesicht kurz zum Vorschein. Es war, wie Sperber nun endgültig wahrhaben musste, das traurige, aufgedunsene Gesicht mit den blassen Sommersprossen und den vorstehenden, wie verständnislos blickenden Augen von Heather, der Engländerin.

Heather lebte seit vielen Jahren im Ort. Seitdem der bretonische Gastwirt, mit dem sie verheiratet gewesen war, mit einer jungen Bedienung in die Hauptstadt verschwunden war und sie mit ihren Kindern zurückgelassen hatte, betrieb sie einen Laden, in dem sie »maritime Geschenkartikel« englischer Fabrikation verkaufte, Clipper- und Bulkhead-Lampen, messingbeschlagene Schiffsschränke, Sextanten und Oktanten, Himmelskarten, Barografen und Hydrometer. Wie Sperber selbst gehörte sie zu den regelmäßigen Gästen der Bar L’Escale, wo er aber kaum jemals ein Wort mit ihr gewechselt, höchstens in größerer Runde einige Male mit ihr und anderen zusammengestanden hatte. Allenfalls war ihm aufgefallen, vielmehr fiel es ihm wohl erst rückblickend auf, dass sie ihn manchmal freundlich-scheu angesehen hatte aus ihren fragenden Bullaugen. Er konnte sich nicht erinnern, sie am Vorabend gesehen, geschweige denn in ihrer Begleitung das Lokal verlassen zu haben; wahrscheinlich war er schon zu betrunken gewesen, als er dort ankam.

Was in der Nacht geschehen war, sein stierartiger Angriff im Schutz des Dunkels, in der altbewährten Immunität des Alkoholrausches, tauchte nun erst aus dem Nebel seines Bewusstseins wieder auf und erfüllte ihn mit einer glühenden Scham, als hätte er sich an einem Schutzengel vergriffen. Denn er wusste inzwischen klar und deutlich, dass Heathers Blicke schon oft auf ihm geruht hatten, weder einladend noch gar provozierend oder flehend, sondern umsichtig-zärtlich und schonungsvoll.

6

Der Wind – eine Art Aspirin, das die nordatlantische Küste ihren Säufern unentgeltlich liefert – blies parallel zur Küste, so kräftig, dass man, den Strand entlanglaufend, sich entweder gegen ihn stemmen musste oder von ihm vorwärtsgeschoben wurde. Slapstickhaft vorgeneigt ging Sperber ihm entgegen, über seinem Kopf einzelne, tragische Schreie ausstoßende Möwen, die aus mysteriösen Gründen von den Sturmböen nicht davongeweht wurden. Seinen unsichtbaren Gegner Schritt für Schritt zurückdrängend, schob er sich vorwärts, nur mit einer leichten Hose und einem Hemd bekleidet, das sich in seinem Rücken zu einem grotesken Höcker aufblähte. In der Gegenrichtungwaren Millionen runder Algensamen unterwegs, flach flogen die braunen Kügelchen über den Sand, eilten in endlosen Zügen den Strand entlang, eine Völkerwanderung, von der niemand wusste, wo sie begonnen hatte und wo sie enden würde.

Es war noch Frühling, ein gewaltsamer, wuchtiger, beißender Frühling, das Meer dröhnte und schäumte, die grüngelben Zypressen standen verrenkt und gichtig über die spärlichen Gräser gebeugt. Sperber begann zu rennen, er rannte und rannte, als wollte er die Harpyien in ihre Höhle zurückdrängen, und kam doch kaum vom Fleck. Tränen rannen ihm waagerecht über die Schläfen, wie im Zeitraffer flogen grauweiße Wolkenbänke oder Schaumfetzen über ihn hin. Vielleicht sah ihn jemand in einem vorüberfahrenden Auto von der Strandstraße aus rennen, seht mal, ein Irrsinniger, würde er zu seinen auf dem Rücksitz kartenspielenden Kindern sagen. Der Wind stach ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht, seine Beine wollten die Richtung nicht mehr halten und trugen ihn ins undurchsichtige schwarzgrüne Wasser und in die nächste anrollende Welle hinein, die sich, zornig, dass es hier nicht weiterging, aufbrüllend am Festland brach.

Die Welle überrannte ihn und wirbelte ihn zu Boden. War das Wasser kochend oder eisig? Jäh brannte es sich in jede Pore hinein. Du Verlorener, du Lump, du armseliger Wicht!, rief ein Gott ihm zu oder ein Wassergeist.

Noch nicht wieder an der Oberfläche, Mund und Nase mit Salzwasser gefüllt, spürte Sperber einen Schlag gegen die Schläfe, als hätte ihm der zürnende Gott, um seiner Lektion mehr Nachdruck zu verleihen, zum Abschluss noch eins übergezogen. Das Meer hatte ein großes Stück Wellblech angeschwemmt und es ihm mit der Wucht der nächsten anrollenden Welle an den Kopf geworfen.

Nun hätte er ohnmächtig werden und ertrinken können, das Blech hätte ihn schwerer verletzen und ihm vermutlich sogar die Gurgel durchschneiden können, aber der Wassergeist wollte ihn warnen oder strafen, nicht töten, und so ließ er ihn, triefend von Wasser und Blut, jämmerlich zitternd und lebendig, auf die Beine kommen und aus den Fluten steigen.

Keiner kam, ihn in eine warme Decke zu hüllen; immerhin schob ihn der Wind in die richtige Richtung, heimwärts.

Wie durch Gletscherspalten fielen Sonnenstrahlen auf das schieferfarbene Meer, Wolkenbrüche aus Licht, die bewegliche, gleißende Inseln in der Ferne hinterließen. Kurz bevor er wieder im Ort angelangt war, tat sich eine jener Wolkenklüfte über Sperbers Kopf auf und gab für wenige Momente den Blick frei auf das immerwährende, von keinerlei Niederschlag je getrübte schöne Wetter, das darüber herrschte, auf jenen ewigen, wolkenlosen Sommer, den die Flugmaschinen als Lebensraum für sich beanspruchen.

Er duschte, solange warmes Wasser aus dem Boiler kam, zog sich warm an. Das Wellblech hatte ihm die rechte Schläfe aufgerissen, über dem Auge war die Haut schmerzlich angeschwollen. Da er weder eine Wundsalbe noch ein Pflaster fand, strich er Zahnpasta auf die Wunde – er hatte gehört, sie habe eine entzündungshemmende Wirkung. Im Spiegel erschienen sein rotes, vom heißen Wasser aufgeweichtes Gesicht, der kahle Schädel, das stoppelbärtige, kantige Kinn, die Kerben um die hellen Augen, die geschwollene, steile, wie ein demnächst zu fällender Baum mit einem weißen Kreuz markierte Stirn.

Dieses eine Mal hatte er das transportable Telefon nicht mittransportiert, sondern auf dem Küchentisch liegen gelassen, sonst wäre es ebenso durchnässt worden wie er und jetzt Müll. Obwohl es so gut wie nie summte und keine Nachrichten überbrachte, trug er es stets bei sich und inspizierte es oft. Er besaß es nicht, um zu telefonieren, sondern um erreicht werden zu können. Erreicht von wem? Sein Sehnen galt keiner bestimmten Person oder Nachricht. Er wartete darauf, erreicht zu werden von etwas oder jemandem, von etwas Konturlosem, Unbekanntem, vom Leben, von der Welt.

Er nahm das Gerät in die Hand und ging ans Fenster, von wo nicht das Meer zu sehen war, sondern eine verwitterte Mauer, und noch eine, und dann noch eine dritte, in Terrassensprüngen stiegen sie an bis hin zu einem unfernen, hohen, von einer Kiefer überragten Horizont. Darunter, in der Tiefe des Hinterhofes, wuchsen neben dürren Unkrauthalmen, die meiste Zeit des Tages im Schatten, zwei Hortensienbüsche, deren Blüten im Laufe des Sommers von hellgrün zu rosa, violett, lavendelfarben und schließlich tiefblau wechselten. Voll aufgeblüht ähnelten die großen Blütenkugeln jenen vielblättrigen, pastellfarbenen Gummi-Bademützen, die Frauen früher im Schwimmbad trugen.

Hässlicher und greller kehrten die Hortensienfarben in Sperbers Wohnung wieder. Das Zimmer, das er bewohnte, war hellblau gestrichen; als einziges Mobiliar standen ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Klappstuhl und statt eines Schranks ein wackeliges, metallenes Kleidergestell darin. Die Küchenwände leuchteten rosa- oder vielmehr zuchtlachsfarben; auf das Rechteckmuster der eingezogenen Kunststoffplatten-Decke antwortete das Linoleum mit einer Fischgrätparkett-Imitation.

Sperbers Erregung hatte sich völlig verflüchtigt, sein Kopf schmerzte, aber sein Geist war klar. Auf dem Bett sitzend, betrachtete er die vertraute Schäbigkeit seiner Umgebung, als gelte es, Abschied von den Dingen zu nehmen, zwischen denen er sich bis dahin, nicht immer, aber immer wieder und ihrer Armseligkeit zum Trotz, über schwankende Zeitspannen heimisch gefühlt hatte.

Sein Blick fiel auf die drei Postkarten, die mit Reißzwecken über dem Tisch angebracht waren und drei verschiedene Porträts ein und desselben Mannes darstellten.

Vor Jahren, als Sperber sich noch nicht dem sanften Sog der Tage überlassen hatte, als er mit seiner Zeit, die kein Lohnherr mehr haben wollte, trotzdem noch etwas beginnen wollte, war er auf ein Buch mit dem Titel »La défense de Tartufe« gestoßen. Er erinnerte sich weniger an das Gelesene als an das Lesen selbst, das wie ein Ins-Allerinnerste-Schauen, ein Blick in eine aufgerissene Brust gewesen war. Aus weiteren Büchern hatte Sperber dann von dem Leben und Sterben des Verfassers, eines bretonischen Juden mit Namen Max Jacob, erfahren.

Zwei der Zeichnungen an der Wand waren von Picassos Hand: Die eine, aus dem Jahr 1928, zeigte Jacob im Profil in einem Medaillon, einen Lorbeerkranz auf dem kahlen Schädel und mit leichtem Doppelkinn, als ruhmreichen, leise über sich selbst lächelnden römischen Kaiser; die zweite, 1953 entstanden, stellte den Dichter und Maler als mageren, kahlköpfigen, ernsten Harlekin dar, mit gesenktem Blick und einer stacheldrahtartigen Halskrause.

Das dritte Porträt war eine Zeichnung von Modigliani. Max Jacob, mit hohem Hut und Krawatte, hatte darauf eines jener schmalköpfigen, weltweit bekannten und etwas unpersönlichen Modigliani-Gesichter. Daneben waren die Worte zu lesen: »À mon frère, très tendrement, la nuit du 7 mars, la lune croissa« (Meinem Bruder, sehr zärtlich, in der Nacht zum 7. März, der Mond nahm zu).

Auf diesem letzten Porträt waren Sperber zwei Einzelheiten aufgefallen. Erstens war »croissa« eine grammatisch falsche Form des Passé simple, den Modigliani als Italiener wahrscheinlich nicht richtig beherrschte; richtig hätte es »crût« heißen müssen. Und zweitens stand die Zahl sieben in einer Zeile für sich, vom Zeichner groß und deutlich hervorgehoben. Der 7. März aber war der Tag, an dem Jacob 1944 nach Auschwitz hätte verschleppt werden sollen, sein Name stand schon auf der Liste, wäre er nicht bereits am 5. von alleine, das heißt an einer Lungenentzündung gestorben, die er sich in der vorausgegangenen Haft zugezogen hatte. Die Zeichnung war um 1915 herum entstanden.

In jedem Leben, dachte Sperber, waren derartige Zeichen verstreut, die erst im Rückblick – in diesem Fall in einem posthumen Rückwärtsschauen, das erst den Nachgeborenen möglich war – ihre Bedeutung offenbaren. Als wollte sich jemand, indem er uns mit seinen gut versteckten Hinweisen ein unlösbares oder erst zu spät lösbares Rätsel aufgibt, über uns und unsere menschliche Beschränktheit mokieren.

Sperber stand auf und schritt mit forschendem Blick seine Behausung ab. Ob in ihr wohl auch Zeichen verborgen waren, die, wenn er sie bloß sehen und deuten könnte, etwas über seine Zukunft offenbarten?

Er betrachtete ein Blatt Papier, das in einer Ecke am Boden lag und das er aufgehoben hatte, weil er darauf mit freier Hand einen vollkommenen Kreis gezeichnet hatte. Während er einer fernen Erinnerung nachhing, hatte seine Hand nebenbei und absichtslos diese gewölbte Linie gezogen. Danach hatte er noch etliche Male versucht, einen vollkommenen Kreis auszuführen, und jedes Mal war er ihm leicht verzogen geraten. Welche Bedeutung konnte dieses schmutzige Blatt Papier, dieses perfekte Rund, das die grauen Spuren seiner Schuhsohlen trug, wohl haben?

Die zerknäulte Bettdecke zurückschlagend, um das Laken glattzuziehen, traf er auf die Verschlingungen eines langen, roten Haares. Er erinnerte sich, in einem Roman von der »Unterschrift« eines Haares auf einem Badewannenrand gelesen zu haben. Nun hatte also die Engländerin sein Bett signiert, oder sah so vielleicht der Faden aus, der ihn aus dem Labyrinth hinausführen sollte? War es der berüchtigte rote Faden, den man nicht verlieren durfte? Er nahm das Haar zwischen zwei Fingerspitzen und legte es auf den schmutzigen Bleistiftkreis auf dem Boden. Damit es nicht davonfliege, und um die kleine Skulptur zu vollenden, platzierte er obenauf die getrocknete Eikapsel eines Rochens, die er am Strand gefunden und auf seiner Fensterbank deponiert hatte; ein schwarzes, bauchiges Rechteck mit vier kleinen Ausläufern an den Ecken, eine winzige Sänfte, in der die ungeborenen Rochen vom Wasser gewiegt und schließlich ins Leben hineingetragen wurden.

Mit pochender Schläfe stand er im Raum. In diesen drei nicht zu entziffernden Zeichen war, bildete er sich ein, sein weiteres Schicksal enthalten.

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